Donnerstag, 3. Juli 2008

385.B

Die Kreativleitung freute sich natürlich sehr über die gelungene Befreiung der freiheitsliebenden Frau. Auch ihr war am Morgen danach zumute gewesen, mit den anderen herumzutanzen, vielleicht hatte sie es sogar getan, sie erinnerte sich nur nicht mehr daran, schon am Nachmittag: nicht. Der Tag verging ihr wie im Taumel, wie unter einer Knute, sie kannte das schon, das waren Tage, an denen sich schwere Textgewitter zusammenbrauten, und es wurde dann an den Abenden unmöglich, nicht zu schreiben. Nur wußte sie nie, wie sie diese Textgewitter und was sich in ihnen entlud zusammenbringen sollte mit dem, was doch von ihr verlangt wurde. Während niemand bemerkt hatte, wie schwer sie arbeitete, hatte sie ja Stunde um Stunde an die Nutztierhaltung gedacht und an alles, was ihr Herr X. noch darüber erzählt hatte. Denn tatsächlich hatte sie schließlich übernehmen und selbst mit ihm sprechen müssen. Was die Assistentin einfuhr, war lustig gewesen, aber wenig hilfreich für ihre Eloge. Sie hatte selbst ein bißchen mehr in Erfahrung bringen können. Im Sprechen, und durch dieses Hören auf alles, das auch etwas anderes sein könnte. Die Ohren, meine Damen und Herren, die Ohren, die hören nun einmal, manche mehr, manche weniger.
Nun war sie, bevor sie sich daran machte, alles niederzuschreiben (komisch, dachte sie unterwegs, wir schreiben auf und nieder, was machen wir nur für Sachen), noch einmal ins Haus des ehemaligen Chefs und seiner Gattin gegangen, um sich dort nicht nur nach Herrn Y. zu erkundigen, sondern ihn auch leibhaftig zu sehen. Sie fürchtete sich etwas vor seinem Anblick. So ein trauriger Mensch, dem es die Sprache verschlagen hat. Aber er hatte einmal einen Satz gesagt, soviel war gewiß. Er hatte gesagt, wie gut, wenn Menschen noch schreien. Ach je. So ein trauriger Satz. Und es war ein Augenblick da gewesen, in dem sie glaubte sehen zu können, daß er mit ihr etwas wie eine schwache Hoffnung verband. Vielleicht weil sie den Raum verlassen hatte (damals noch das Büro der Demokratiebeauftragten, oder war die da schon Chefin gewesen? Warum war das wichtig?) und dann wieder gekommen war. Weil sie vielleicht ausgesehen hatte, als wollte sie ihn nicht nur unterstützen, sondern könnte es auch? Aber dank welcher rätselhafter Fähigkeit hätte sie es können sollen? Sie hatte das einzige, was sie konnte, vorgeschlagen: Den Auftrag jenes Herrn X anzunehmen. Und nun, nachdem sie sich gründlich vertieft hatte in die Gemütsart des Nutztierhalters, der sein Frauenkennertum nebenher auch an ihr hatte exerzieren müssen, wollte sie noch einmal der merkwürdigen Verstrickung dieses X mit jenem armen Y nachspüren. Sie war zu der Überzeugung gekommen, daß Y wirklich nichts von X wollte. Während X sich unendlich in ihn verbissen hatte. Sie wollte diese Überzeugung noch einmal überprüfen, bevor sie sich endlich ans Schreiben setzte. Darum war sie hier und tauschte Höflichkeiten mit der Gattin des ehemaligen Chefs aus. Dieser Dame, welche sie so sehr mochte, daß sie sie gern als Mutter akzeptiert hätte, oder als Freundin, aber etwas wie eine Ferne blieb ihnen immer, ebenso wie eine ebenfalls immer bleibende Nähe.
Wo ist er denn? Oben, sagte die Gattin des Chefs. Oben. Das hieß: Im Zimmer des Sohnes, der an einer ausländischen Universität studierte. Von da konnte er in den Garten schauen, in dem Rosen und Malven und Georginen blühten, in ihren jeweils rein malvigen, rosigen oder georginischen Beeten fein umschlossen von überaus gepflegtem Rasen.
Er wird still dasitzen, dachte die Kreativleitung. Und gerade so, als wäre nichts geschehen. Er wird dankbar sein, daß er so still dasitzen kann. Er wird das für Glück halten. Für ganz großes Glück. Er wird nichts sagen, nichts denken, nichts hören. Schon gar nicht etwas, das seine sogenannten Angelegenheiten betraf.
Und sie fragte sich, was mit diesem Haus geschehen würde, wenn der Herr Y. länger dort oben sitzen würde. Denn so ein Haus verändert sich doch durch einen Menschen. Vielleicht ist nichts einem Haus gewaltiger, als wenn in ihm ein Mensch sitzt. Einfach nur so da sitzt.
Und was macht überhaupt der ehemalige Chef?
Der betrat, als hätte er bemerkt, daß sie just in dem Augenblick an ihn gedacht hatte, den Salon, in welchem seine Gattin und die Kreativleitung beieinander saßen. Vielleicht hatte in Wahrheit sie an ihn gedacht, weil er sich gerade wirklich auf den Raum zubewegte. Hatte vielleicht ein winziges Geräusch gehört. Von manchen Menschen lernst du den Schritt in alle Ewigkeit, hörst ihn dann immer schon durch ein paar Wände. So einer war er eigentlich nicht für sie. So einer würde er ja wohl wenn dann für seine Frau sein müssen – aber die war sicher nicht so. Nicht so ohrig, nicht so wie die Kreativleitung selbst, die sich stets auf allzu vielfibrige Weise mit einem Menschen in eine Verbindung brachte, wenn sie das einmal anfing, und die deswegen glaubte, nur allein leben zu können, weil es sicher nirgendwo auf der Welt einen Menschen geben konnte, der damit fertig werden könnte auf eine Weise, mit der dann auch sie nicht überfordert wäre (was hat man nicht schon alles gelesen über Menschen, die falsch wählten und an allem in Ehen zugrunde gingen, das andere für durchaus verkraftbar zu halten schienen, aber halt, dachte sie, was tue ich hier, ich rechtfertige am Ende noch das mir so verhasste Zölibat). Und doch betrachtete sie stets liebevoll die Menschen, die so glücklich zusammenleben durften, viele waren es ja nicht, aber diese schienen dazu zu gehören, und sie dachte, es müsse an der Gattin liegen.
Wie war aber die Gattin des Chefs überhaupt? Saß da und tunkte ein Shortbread in ihren Tee. Das machten die hier so, immer. Und pflegte ihre Rosen. Hatte Kunstbücher, schöne Kleider, elegantes Porzellan und einen feinen Humor für ihren Mann wie auch für die Welt. Die ideale Gattin. So etwas gibt’s, dachte die Kreativleitung, und studierte mit Wohlgefallen das feine Gesichtsoval der Dame, den winzigen Flaum auf der mild und weich alternden Haut, dieses Übergepflegte, durch das die höfliche und begüterte Dame sich der Welt angenehm zu machen versteht, auch wenn das Alter ihr schon zugesetzt hat. Über wieviel diese Frau zum Schein hinweggeguckt haben muß, um immer alles so zu richten, daß der geschulten Beobachterin klar war: sie hat alles gesehen. Welche Pein sie auf sich genommen haben muß in zerstrittenen oder den Streit wegbügelnden Nächten, welche Vornehmheit in jeder Bewegung bei ihr die gewisse Grobschlächtigkeit des Gatten auffing. Wie schnell das Gesicht sanft wurde, wenn wieder einmal ein eigener Wunsch begraben werden mußte. Wie glücklich sie dabei dennoch wirkte, und wie abgründig auch.
Vermutlich war ihr Glück, des Morgens zu fragen, wie der Herr Gatte genächtigt habe. Es muß ihr Freude machen, seinen Mantel zu bürsten im Winter und seine verschwitzten Hemden zu waschen im Sommer, dachte die Kreativleitung. Konnte das sein? Gewiß. Über etwas würden sie auch reden. Zum Beispiel über das, was in den Zeitungen stand. Auch hier, so erfuhr sie soeben, hatte man sich über die Befreiung von Ingrid Betancourt gefreut. Und in der Tat, was für ein Gesicht, was für ein Lachen, was für ein Jubel in diesem Gesicht, wenn man es nur als Bild bekam!
Das sagte die Kreativleitung lächelnd zur Gattin des Chefs, ganz da. Schob gleich noch die Frage nach, ob sich denn auch der Herr Y. über diesen Coup gefreut habe. Und stellte sich nebenher vor, wie hier das Seufzen des Alltags mit seinem Rüffeln sich nun verändert haben mußte, da der ehemalige Chef viel zuhause war. Die Gattin sah, je länger sie sie betrachtete, desto müder aus. War das schon die Wirkung von Y? War es etwas anderes?
Sie ließ es auf sich beruhen und schaute in das Gesicht des ehemaligen Chefs, der nun jovial lächelnd vor ihr stand und ihr seine dicke weiche Hand entgegenstreckte.
Warum war sie selbst von diesem Mann immer so fasziniert gewesen? Er war schließlich einer, nun ja, was willst du sagen. Schwer eben, das gefiel ihr, immer. Ein Mann, fand sie, solle schwer sein. Warum? Das wußte sie nicht, sie fand einfach, das gehöre sich so.
Dann hatte er eben diese Aura. Und in all seiner Tatkraft und Entschlossenheit etwas wie ein Zaudern. Das mochte sie auch. Er hatte furchtbar genervt manchmal. Und er hatte doch etwas zustandegebracht. Er hatte gesehen, daß Mo wichtig war (überhaupt, Mo, was die machte! Als die Kreativleitung die EinSatzLeitung verließ, da schlief Mo schon wieder, sie hatte sie wie üblich im Bündel bei sich, nichts weiter als das leise Schnaufen, das Mo seit eh und je hören ließ, wenn sie in diese Arten von Schlaf verfiel, war aus dem Bündel zu vernehmen). Und er hatte in den Augen der Kreativleitung die richtigen Leute verteidigt. Meistens. Manchmal auch nicht. Aber da gab es ja dann noch andere. Vor allem hatte er dann auch zum richtigen Zeitpunkt und auf die richtige Weise sein Amt aufgegeben. Sie mußte auch zugeben: er fehlte ihr irgendwie. Es ist angenehm, wenn irgendwo ein schwerer rotgesichtiger Mann ist und das Sagen hat. Vor allem gegen jene bissigeren EinSatzKräfte, an die sie gerade jetzt gar nicht denken mochte. Warum das so ist, hätte sie nicht zu sagen gewußt, aber es schien ihr so. De facto war er ja gar nicht viel da gewesen. Aber er war eben der Chef gewesen, und es war nun einmal gut, einen Chef zu haben. Nun hatte man die Chefin, die doch zugleich Demokratiebeauftragte sein wollte und das möglicherweise sogar über längere Strecken würde schaffen können. Auch nett, besonders, wenn sie an Tagen wie heute hereinschneite mit guten Nachrichten und sich mit ihr freute wie früher, als sie noch Freundinnen gewesen waren und gemeinsam ein Problem mit gewissen Kollegen und dem Chef gehabt hatten. Aber – etwas schien zu fehlen, und sie wußte nicht genau was, sie wußte nur, daß das ein irgendwie gefährliches Gefühl zu sein schien.
Was haben Sie herausgefunden über den Herrn X., fragte nun der Chef, und die Kreativleitung lächelte, ganz der Alte, dachte sie, will, daß man ihm Bericht erstattet.
Er war dann aber auch gleich wieder so ermunternd, wie sie ihn furchtbar gern hatte, sagte: Fabelhaft, die Idee, in einer Eloge auf X doch etwas für Y zu tun. Der hat es auch wirklich nötig, ergänzte er, mehr denn je. Ja, der Y., der macht uns Sorgen. Und da war schon das Unheimliche, das einem Hause widerfährt, wenn ein gebrochener Mensch darin wohnt, es knisterte sich einmal durch das chefliche Gesicht hindurch, eine winzige Sekunde lang. Eine lange Sekunde.
O je, dachte die Kreativleitung, das wird noch eine gewaltige Arbeit. Sie fragte: darf ich ihn sehen? Sie erwartete, daß man erleichtert sein würde. Immerhin wäre sie doch eine, die versuchen würde, die sogenannte Kommunikation mit diesem Verschwiegenen aufzunehmen. Eine, die hingehen würde, dachte sie, das kann den beiden Alten hier doch nur recht sein.
Aber der Chef, der ehemalige, sah wirklich verängstigt aus. Er sagte, ich glaube nicht, daß er gestört sein möchte. Und das Gesicht der Gattin hatte alle kunstvolle Selbstverständlichkeit der Konvention verloren: Ihre Augen versickerten im Tee.

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