Dienstag, 1. Januar 2008

200.

"Die Koinzidenz vom letzten Tag des Jahres mit der in diesem Jahre letzten Sitzung der EinSatzLeitung war ja vorauszusehen, denn hier handelt es sich, herrlich, sich darauf stützen zu können, um ein reines Zahlenspiel," sagte zufrieden der Buchhalter, als er den Sitzungsraum betrat und erst etwa die Hälfte der Mehrheitler und Minderheitler um das namentlich bekannte Personal versammelt fand. Es war vorab festgelegt worden, daß diese Sitzung ihrer herausgehobenen Zahlenposition wegen vom Chef selbst geleitet und mit einer feierlichen Ansprache eröffnet und beschlossen werden sollte, dieser war auch, wie sein Marsch am Vortage nicht nur seiner Gattin bewiesen hatte, gesundheitlich wieder "völlig auf dem Posten." Diese letzte Feststellung oder Beschreibung der Sachlage wurde durch den Buchhalter vorgebracht, der in ihr einen Hang zur Zackigkeit unterbringen konnte, mit dem er sonst bei seinen Kollegen, wie der Sicherheitsbeauftragte mit der Karomütze es ausdrücken würde, selten mal "eine Schnitte ziehen" konnte. Der Sicherheitsbeauftragte war heute mit dem Protokoll betraut, wurde aber an der Ausübung seines Amtes vorläufig gehindert, denn noch befanden sich alle Stifte, Papiere und Tastaturen in der Obhut der Kreativleitung, die sie auch vor dem offiziellen Beginn der Sitzung nicht herausrücken wollte, zu sehr juckte es sie in den Fingern, die Bekleidungen und habituellen Eigenheiten aller Anwesenden zu protokollieren, ihre Mienenspiele zu beobachten und sich Formulierungen auszudenken, in denen alles dieses zu einem völlig neuen Bild zusammengestellt werden könnte. In einer kleinen handgreiflichen Rangelei entriß ihr aber der Sicherheitsbeauftragte (nicht ohne ein entschuldigendes "wirklich nur für diese Sitzung" an sie hin zu zwinkern, denn sogar er selbst wußte ja, daß er eigentlich immer am liebsten ihre kleinen Personenbeschreibungen und -charakterisierungen las und sogar für seinen eigenen, den Sicherheitsjob, daraus am meisten lernte) die Schreibgeräte, 

und nun eröffnen wir also das Protokoll mit einem nicht gelöschten Bericht über Handgreiflichkeiten, wie peinlich!

Also, noch einmal ordentlich:

Nummer 200, Sitzung der EinSatzLeitung

Protokoll: 

Sicherheitsbeauftragter.

Sitzungsleitung:

Der Chef


Tagesordnungspunkte:

1. Bilanz der Buchhaltung
2. Silvesteransprache des Chefs

TOP 1:
Der Buchhalter bedankt sich für die Übertragung des verantwortungsvollen Jahres-Gesamtberichts aller Abteilungen auf ihn, verspricht, sich kurz zu fassen, und berichtet, daß seit dem ersten Tag des EinSatzBuches jeden Tag ein Eintrag erfolgte, daß einmal eine Stellvertretung nötig wurde, daß es dann und wann zu kleinen Schwankungen in den Zeiten kam, daß aber insgesamt positiv bilanziert werden könne: alle 24 Stunden habe die EinSatzLeitung mindestens einen Satz geliefert. Zusätzlich zu den gewöhnlichen EinSätzen äußerst unterschiedlicher Länge könne zurückgeblickt werden auf eine kleine Sammlung von Einträgen auf der B-Ebene, welche etwas heterogen seien, unregelmäßig erschienen, aber doch nach allem, was aus der Abteilung Öffentlichkeit verlaute, eine kleine, nicht durchweg unzufriedene Stammleserschaft hätten. Weniger zufrieden sei er mit der Sitzungsdisziplin. Der Turnus von Sitzungen an jedem 22. Tag sei nicht strikt eingehalten worden, die Protokollführung schlampig, das Sitzungsverhalten teilweise chaotisch. Hier gebe es Reformbedarf. Ein weiteres Problem sei die sehr unterschiedliche Publikumsbeteiligung. Diese könne man selbstverständlich nur begrenzt steuern, es seien aber in sensiblen Phasen schwere Fehler durch exzessive Publikumsbeschimpfung gemacht worden, und man müsse davon ausgehen, daß die scharfe Feder so manchen Mitglieds der EinSatzLeitung etliche ursprünglich muntere Skribentinnen und Skribenten verschreckt habe. Dies sei gelegentlich nötig gewesen, um gefährliche bis lästige Eins-zu-Einsler abzuwehren, aber man sei hier zuweilen übers Ziel hinausgeschossen. An diesen Stellen empfehle er, im kommenden Jahr aufmerksamer zu arbeiten, im übrigen wünsche er allen einen fröhlichen Jahreswechsel und viel Mut für das kommende Jahr, um die Bilanzen weiter zu verbessern.

Ausführlicher Beifall.

TOP 2:

Der Chef erhebt sich feierlich zu einer Jahresendansprache, die eine geschlagene halbe Stunde dauert. Er ist zu diesem Anlaß besonders elegant gekleidet, hat wieder seine allerschönste Ledertasche auf den Tisch gelegt und sagt alle Worte, die man an einem solchen Datum von einem Chef erwartet - und die wir deswegen hier nicht wiedergeben müssen, denn sie werden zuverlässig alle von allen anderen Chefs auch ausgesprochen werden und in den jeweiligen Nuancierungen über alle Schirme laufen, auch wir werden viele von ihnen mit wohlwollendem Interesse anhören.
Erwähnenswert sind unter diesem Aspekt vielleicht allenfalls ein paar Besonderheiten, ja, teilweise brachte der Chef gar einige persönliche Grillen unter, so schien es, etwa indem er sich bei einem Sender seines Vertrauens recht herzlich dafür bedankte, daß dieser ihm auf einer der langweiligeren Arbeitsstrecken des vergangenen Jahres das gute alte Hörspiel "Dr. Murkes gesammeltes Schweigen" ins Haus geschickt und ihn damit sehr erheitert hatte.
Und vor allem dann das Ende: Unser Chef beendet seine Rede mit einer rührenden Liebeserklärung an das Abendland und seine Freiheitsliebe und mit einem Appell, diese Freiheit mit allen Mitteln, welche ihrer Idee nicht widersprechen, zu schützen und zu erhalten, sich für sie einzusetzen und für sie zu werben und ihren Begriff an der Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition von Glaube, Liebe und Hoffnung, aber auch mit dem, was anderen Kulturen wichtig ist, Erwählung, Bund, Gerechtigkeit, weiter zu entwickeln (so weit so geläufig, aber nun gehts los) und er mahne dazu, vor allem und allem nicht zu vergessen, daß wir alle Tiere sind, jawohl, wir haben richtig gehört, und Sie haben richtig gelesen, daß wir alle Tiere sind, die als solche voller Wünsche und Begierden und aus verletzlichem körperlichem Gewebe sind, und wir müßten irgendwie weiter darin fortschreiten, die Rücksicht gegen diese verletzlichen körperlichen und tierischen Eigenheiten und ihre eigene Würde zu üben und zu achten und die gewiß großen Mächte unserer gewaltigen Geistesgaben auszusöhnen mit unserer bald schwächelnden, bald übermütigen und vor allem individuell und nach Lebensphasen je verschiedenen Leiblichkeit, jawohl, also auszusöhnen, sagte er dann noch in die staunenden Gesichter der Herumsitzenden, und noch einmal, jawohl. Er habe hier im vergangenen Jahr aus den Diskussionen innerhalb der EinSatzLeitung, aber auch in seinem privaten Glück viel gelernt und sei nunmehr entschlossen, für manche Lebensbereiche auch so etwas wie eine "zarte Ordnung" für erwägenswert und schützenswert zu halten, und er warne geradezu ausdrücklich davor, der in manchen Belangen notwendigen "harten Ordnung" der strategischen Rationalität zu gestatten, die für andere Belange passenderen zarten Ordnungen zu zersiedeln und zu zerstören. Im kommenden Jahr sei an diesem Problem weiter zu arbeiten, und er bedanke sich bei allen in der EinSatzLeitung für ihre unermüdliche Beharrlichkeit in der Aufrechterhaltung der institutionseigenen Vielfalt, für ihre Geduld gegenüber allen gelegentlich nötigen Ordnungsmaßnahmen, aber auch für ihren Widerspruch und viele viele Anlässe zu spontaner, unkontrollierter Heiterkeit.

Zögernder, anfangs sehr zögernder, dann aber doch noch frenetisch werdender Beifall brachte die Sitzung zu einem glücklichen Abschluß.
Als die Mehrheitler, Minderheitler und die namentlich bekannten EinSatzKräfte schon den Sitzungsraum verließen, richtete der Leiter der Abteilung noch einmal das Wort an die Menschen draußen im Lande und wünscht hiermit allen einen guten und friedlichen und vergnügten Übergang in ein Neues Jahr.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Es wird bekannt gegeben, daß die ersten im Jahre 2007 entstandenen 200 EinSätze sowie die etwas über 50 B-Einträge nach einem gründlichen Redaktionsprozess in Buchform publiziert werden sollen; sofern kein Widerspruch erfolgt, werden alle unter Pseudonym eingegangenen Kommentare als Eigentum der EinSatzLeitung angesehen; wer namentliche Erwähnung seiner Teilnahme am Entstehungsprozeß des gedruckten EinSatzBuches wünscht, hat im kommenden Jahr Gelegenheit, sich dazu zu äußern; diese Meldung wird in regelmäßigen Abständen wiederholt.

Anonym hat gesagt…

Ich bestehe darauf, auch noch einmal den ersten Text der Blog-Beschreibung zu erinnern:Das EinSatzBuch hat ein sehr einfaches Prinzip: 

Jeden Tag wird ein Satz geschrieben, der versucht, mit allem weiter zu sprechen und dem redseligen Verstummen zu widersprechen. Er darf abstrakt und hypotaktisch oder ganz einfach sein. Ein Semikolon pro Satz ist erlaubt, Doppelpunkte gelten als interne Satzzeichen, auch von ihnen ist eines pro Satz erlaubt. Kommentare sollen nicht mehr als einen solchen Satz haben. Alle Themen sind erlaubt, an denen das Herz oder das innere Tier der Schreiberinnen und Schreiber ein lebendiges Interesse finden. Die Sätze sind immer im Einsatz. Sie suchen Sprachmüll in den Anlagen und bringen kleine Themenpflänzchen nach vorne. Große Themen schrecken die kleinen Sätze aber so wenig wie Großeinsätze.

Über mich