Donnerstag, 15. Oktober 2009

855.B

Im Herbst, wenn seine Artgenossen sich gesammelt und auf den großen Flug Richtung Süden gemacht hatten, pflegte der erzählende Kranich, welcher ein ungewöhnlich kultiviertes Tier war und sich von so primitiven Dingen wie Zugvogelrhythmen gänzlich unabhängig gemacht hatte, doch immer ein wenig melancholisch zu werden. Es gab dagegen nur ein Mittel, das zuverlässig wirkte. Er mußte, obwohl die kälter werdende Luft ihm bei seinem dafür nicht gemachten Gefieder sehr zuzusetzen pflegte, ein wenig in der Gegend herumfliegen oder schreiten und die Gespräche der für den Winter besser ausgestatteten Wesen um ihn her belauschen. Am Ufersaume des Sees, an und in welchem er mit ausgewählten Artgenossen manchen schönen Sommerabend verbracht hatte, dazu mit Kormoranen und Fischreihern und Haubentauchern, erging er sich, in tiefes Nachdenken versunken, zugleich aber auch jene freischwebende Aufmerksamkeit für alle Geräusche, die in seinen Ohren ständigen Wohnsitz hatte, langsamen Schrittes mit sich führend. Er mußte nicht lange schreiten, um bald Zeuge einer heftigen Auseinandersetzung zwischen seinem alten Freund, dem kleinen Brachvogel, und einem der öberen Brachvögel zu werden. "Du mußt erst einmal ganz leer werden," sagte soeben der öbere Brachvogel, "dann wird sich dein Herz wieder öffnen für die Weisheit, die unsere großen Meister in ihren Schriften niedergelegt haben, für den obersten Brachvogel, unser aller Herr, und zugleich auch für alle anderen Brachvögel, und du wirst merken, wie ein warmes Gefühl der Gemeinschaft mit allen Wesen dich durchströmt und dein böser Trotz und Eigendünkel dich verläßt." Der kleine Brachvogel aber schien mit dieser Auskunft äußerst unzufrieden zu sein und sagte mit einer leicht ins Nasale spielenden Stimme, er glaube, die Leere werde allgemein sehr überschätzt. Eine Verärgerung in der Stimme des öberen Brachvogels war nicht mehr zu überhören, als dieser erwiderte: "Wenn du dich so über alle Einsichten weiser und erfahrener Brachvögel hinwegsetzt, mußt du dich auch nicht wundern, daß man dich nicht nur nicht mag, sondern dir immer wieder feindselig zusetzt. Selbst ich, der ich dich bei solchen Anlässen noch immer unter meine Fittiche genommen und verteidigt habe, verliere so nach und nach die Geduld mit dir."
Der erzählende Kranich, nachdem er dieses gehört hatte, dachte, es sei hier doch eine gute Gelegenheit, Gutes zu tun. Vorsichtig Zweiglein um Zweiglein zur Seite pickend, trat er aus dem Gebüsch hervor, welches ihn zuvor den Blicken der Eifernden verborgen hatte, und sagte nach kurz genickter Begrüßung: "Über die Leere sind viele erschütternd verkehrte Lehren im Umlauf, meine Lieben, und vielleicht hat überhaupt nur eine einzige Vogelart der Welt wenigstens zu Zeiten und in ihren größeren Exemplaren eine etwas richtigere Idee für den angemessenen Ort der Leere gekannt." "Und welche sollte das wohl sein," fragte der obere Brachvogel, welchem die Freundschaft zwischen dem kleinen Brachvogel und dem erzählenden Kranich keineswegs entgangen und schon lange ein Dorn im Auge war, "es werden wohl rein zufällig die Kraniche sein, wie?" "Die Kraniche, die Kraniche," flötete der kleine Brachvogel in eifrigem Entzücken, aber der erzählende Kranich wiegelte ab und sagte kultiviert, das tue doch hier gar nichts zur Sache, wichtig sei vielmehr, daß man verstehe, wie diese furchtbaren Irrtümer richtig gestellt werden könnten. "Üblicherweise," fuhr er fort, "üblicherweise denken wir, ein Wesen, das sich um ernste Weisheit bemühe, müsse erst einmal ganz leer werden, bevor eine neue Idee, eine neue liebevolle Regung für die Welt, eine neue Einsicht in ihm Platz greifen könne. So haben Sie es soeben ja auch in bester Absicht Ihrem jungen Artgenossen nahegelegt, nicht wahr," und der öbere Brachvogel schüttelte seinen krummen Schnabel und sagte, "ja natürlich, ich brauchte Sie keineswegs, um mir das zu wiederholen." "Nun," erläuterte der erzählende Kranich in ungewöhnlich belehrlustiger Laune weiter, "Tatsache ist, daß jeder, der einem anderen empfiehlt, sich erst einmal leer zu machen, dieses nur tut, um sich selbst oder etwas, das er für 'seine große Sache' hält, den größtmöglichen, nämlich einen unangefochtenen Platz im Gemüte desjenigen, dem er die Leere empfiehlt, zu schaffen. Irgendein Gott, ein Heiliger oder eine Idee soll an die Stelle der eitlen Nichtigkeiten treten, mit denen wir nach Ansicht solcher Lehren unsere Köpfe abergläubisch befüllen." "So ist es," bestätigte mit streng angelegten Flügeln nachgerade salutierend der öbere Brachvogel. "Und eben hier liegt auch das Problem," fuhr der erzählende Kranich fort, "denn ob nichtig oder nicht, eine Idee oder ein Gefühl für unsere Artgenossen oder eine erhabene oder niedrige Nichtigkeit können wir nun einmal nur annehmen, wenn wir auch zuhause sind; es sind die Vögel, die keine Nester haben, welche sich betäuben müssen, nicht die, in deren Nestern es hübsch bunt wimmelt, und alles andere ist doch Blödsinn, den sich nur Leute ausdenken, die wissen, wenn sie wollen, haben sie auch wieder mehr. Aber wirklich aus ihren innersten Häusern vertrieben sind just jene, die dem Rat folgen und sich ganz leer machen; diese werden dann auch beherrscht von jedem, der in diese Leere eintritt - und sind die perfekten Schwarmvögel, welche ausziehen, um alles, was Nichtschwarm ist, zu beseitigen. Aus diesem Grunde gehört Ihre so fein und rücksichtsvoll klingende Lehre von der Leere trotz der schönen und wirklich sympathischen Weisheiten, mit denen Sie sie zu umgeben pflegen, leider aufs engste zusammen mit den Gewalttaten, die in allen Vogelschwärmen immer wieder verübt werden, wenn es um die Frage, wie leer man andere machen dürfe, geht." "Sie erzählen einen gefährlichen Unsinn," sagte der öbere Brachvogel, "und wofür plädieren denn wohl die eingebildeten Kraniche?" "Sie plädieren nicht so sehr, aber sie haben sich etwas Schönes ausgedacht," antwortete ungerührt der erzählende Kranich und schmunzelte dem kleinen Brachvogel mit den äußersten Spitzen seiner Schwungfedern freundlich zu, "sie lassen den Platz des obersten Weisheitslehrers leer, sie überlassen die Leere ihm, und gewinnen so die Fülle zurück, die sich sonst nur als Machtfülle derjenigen, die sich gegenseitig die Idee der Leere zuschieben, entfalten kann, nicht aber als eine Fülle erlaubter Regungen." Der kleine Brachvogel verstand nicht recht, der große Brachvogel schüttelte ärgerlich sein Gefieder, und der erzählende Kranich seufzte resigniert. In einem letzten Anlauf sagte er: "Die Idee, daß der Platz der großen gemeinsamen Sache leer bleibt, damit alle, die auf ihn kommen, das Ihre mitbringen können, mir hat sie immer eingeleuchtet, und ich dachte, sie könnte euch in eurem Streit vielleicht eine Entlastung sein. Ich sehe, daß das nicht der Fall ist, so will ich denn auch nicht weiter stören," damit zwinkerte er dem kleinen Brachvogel noch einmal freundlich zu, deutete dem großen Brachvogel gegenüber eine Verbeugung an, und schritt, trotz allem aufgeheitert, langsam weiter am Saume des Sees, an und in welchem er manchen schönen Sommerabend mit ausgewählten Artgenossen und anderen Vögeln verbracht hatte.

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