Donnerstag, 14. August 2008

426.B

Mo saß auf ihrem Fell und sah aus wie ein gerupfter Vogel, federlos, grau, neben sich Zettel und Stift, unberührt, träge. Umso kühner schwang sich in ihrer Phantasie der erzählende Kranich durch die Lüfte. Er überflog alle Niederungen und alle Höhen, und wenn er angerauscht kam, erzählte er wundersame Dinge.

Aber Mo blieb reglos auf ihrem Fell sitzen, sie konnte nicht niederschreiben, was der Kranich alles gesehen haben würde, wenn er wieder käme, er war etwas zu weit weg.

Entmutigt legte Mo sich nieder, zog den Schal über ihren Kopf und schlief ein.
Im Traum wiederholte sich die Zeit ihrer Gefangenschaft. Wieder spielte der Wärter neben ihrem Käfig Klavier [lass uns vielleicht lieber Orgel schreiben, Vorschlag Assistentin K]. Wieder behauptete er, er wolle doch nur wirklich geliebt werden. Jämmerliche Szenen spielten sich ab. Bis zum Stiefel auf ihrem Hals. Mo durchlebte diese Szenen aber kaum noch, es hatte sich erledigt. In ihrem Traum geschah etwas anderes. Der Wärter verwandelte sich in einen anderen, wurde ein großer Mann, der ihr liebenswert erschien, und sie liebte ihn tatsächlich. Nur hatte sie die Idee, daß sie auch einmal weggehen könne, um dann wieder zu kommen. Im Traum konnte sie die Käfigtür öffnen. Dieser Wärter saß auch nicht draußen, und er kam nicht nur herein, um ihr den Stiefel auf den Hals zu stellen, nein, er saß mit ihr drinnen, hielt sie oft fest umfaßt und fühlte sich dabei weich an. Na, nicht nur weich. Nun sah er erstaunt von seinem Buch auf, als sie zur Käfigtür ging und prüfend die Hand auf den Türgriff legte, sich umschauend, was der Mann dazu sagen würde. Der Mann sagte, ja, tu das nur, und er sagte auch: du solltest selbstbewußter sein. Mo lachte im Traum, denn sie war nun wieder wie vor ihrer Käfigzeit - eine mutige, richtig große Frau.
So geht das ja in Träumen.
Sie setzte sich neben den Mann und bestaunte den kleinen Fleck, der ihr eben noch genügt – aber was heißt hier genügt – hatte, da sie ein Käfigtier gewesen war. Der Mann hatte unmittelbar neben dem Fleck Platz genommen. Die große Mo sagte, wenn einer sich mit seinem großen dicken Ego auf mich setzt und mir sagt, sei selbstbewußt, wie soll ich das bitte machen? Der Mann sagte, das kannst du doch. Hier stehst du doch. Und so gefällst du mir auch viel besser. Ich brauche dich selbstbewußt, sonst schmeckst du mir nicht, ich will dich aber essen. Und wenn du mich liebst, dann läßt du dich essen und verstehst, daß es zur Liebe gehört. Man kann nicht lieben und gleichzeitig groß und stark sein wollen, verstehst du das nicht? Liebe ist langmütig und geduldig, demütig und still. Liebe macht sich klein und ist darauf stolz.

Mo staunte diesen Mann an: was der sich traute!
Natürlich versuchte sie, stark zu bleiben, sie verstand doch alles so gut. Sie verstand es sogar besser als er, und darum wußte sie, daß sie ihn liebte, wenn sie diesem absurden Ansinnen standhielt, sich widersetzend, ohne ihn aufzugeben. Sie wußte, wofür sie stark, sogar sehr stark, besonders stark sein mußte: Für eben jene Augenblicke wonnevoller Hingabe, die er so besonders fein zu beschwören und zu bereiten verstand. Denn sie mußte ja aus ihnen wieder hervorgehen als ein Mensch, der genügend von sich in der Hand hat, um es abermals zu verschenken.

Der Mann verstand ungewöhnlich viel, dieses aber verstand er gar nicht, und er verwechselte ihr Starkseinmüssen in den anderen Zeiten mit Lieblosigkeit. Ach ja, sagte sie, klar. Der erste Wärter wollte geliebt werden, aber ich liebte ihn nicht, und er wollte es auf alle Weisen erzwingen, auch ich selbst wollte es erzwingen, da doch alles so „richtig“ zu sein schien, bis sich erwies, wie wenig richtig es war. Zwei Eheleute Seit an Seit, harhar.
Diesen liebe ich ganz von mir aus, aber er merkt es nicht, weil ich mich ja nicht fressen lasse, und nur wenn ich mich fressen ließe, behauptet er, würde ich ihn lieben.
Mo war immer wieder erstaunt. Der Mann war so anhänglich, und zugleich so gefährlich. Der Mann war drollig, was für Ideen der hatte!
Sie verstand aber nicht, daß er es wirklich so meinte.
Immer wieder kam sie in den Käfig, denn sie fand den Mann in diesem Käfig sehr süß. Aber immer wieder mußte sie auch fliehen, denn er wollte sie wirklich fressen, biß täglich ein bißchen ab, und in ihren Versuchen, sich zu wehren, machte sie alles schlimmer: kannte sich selbst nicht mehr, manchmal, piekte hier und da in den Mann, was eigentlich nicht ihre Art war, piekte ihn jedenfalls im Traum, aber wenn sie es nicht tat, dann biß er, ebenfalls im Traum, einfach immer ein Stück mehr von ihr ab.
Das geht ja so im Traum.

Mo mußte also im Traum immer wieder aus dem Käfig gehen, manchmal vertrieb der Mann sie auch, wenn sie wieder gepiekt hatte, seiner Meinung nach. Da schwirrte sie dann verloren in ein einsames altes Nest, das sie woanders noch hatte. Sie kehrte aber immer wieder zu dem Mann zurück. Irgendwann wollte sie es so nicht mehr, in der Wirklichkeit nicht, und auch nicht im Traum. Sie fragte dann – auch im Traum – noch einmal bei ihm nach: findest du nicht, daß du deine Rede von der langmütigen Liebe allenfalls stützen kannst, indem du selbst langmütig liebst? Wenn Liebe demütig ist, warum sagst du mir dann, daß ich demütiger sein muß, während du selbst alles andere als demütig bist?

Der Mann sah sie an, schüttelte den Kopf, hoffnungslos: du bist ein hoffnungsloser Fall, sagte er. Du kannst niemandes Jünger sein, was soll so aus dir werden?
Weil sie nichts zu sagen wußte auf dergleichen, sagte sie alles mögliche. Denn einfacher Widerspruch galt ja einfach nichts vor diesem Mann.

Wenn sie ihrer Freundin so etwas erzählte, fasste die es nicht.
So etwas gibt es doch nicht. Was liebst du denn da?
Ja, was liebe ich da, fragte sich Mo. Ich liebe ihn eben, das ist die Sache. Er gefällt mir so wie er ist.
Ist natürlich so nicht zu machen, ist nicht zu halten, das weiß ich ja, sagte sie leichthin, ganz modernes Mädchen, aber es gibt diese Augenblicke, in denen es geht und gut ist, und die sind eben so schön. Die Freundin wunderte sich und verstand nicht und wollte doch ihrer Freundin nichts Böses.
Mo wußte nicht, was sie machen sollte.
Lange kämpfte sie darum, die Augenblicke haben zu dürfen, in denen wahr war, was der Mann Ungeheuerliches gesagt hatte, ohne dann gleich gefressen zu werden. Sie kämpfte vergebens, sie tat es trotzdem, sie konnte die Hoffnung nicht aufgeben, bis sie es mußte und unterwegs erheblichen Schaden anrichtete, aber überlebte, selbst freilich sehr gerupft.

Das konnte niemand verstehen, nichts davon. Die einen kannten solche Augenblicke nicht und glaubten, man könne die Liebe nach Plan machen, partnerschaftlich und so, in Wahrheit alles Lüge, dachte Mo, weil es das Wichtigste vergißt. Wenn das da ist, dann kann man auch partnerschaftlich sein, wenn es nicht da ist, ist alles umsonst und nur ein blödes Programm. Kitsch, mit anderen Worten. Die anderen kannten die Augenblicke oder sowas ähnliches und fanden, dann müsse man eben den Preis zahlen. Auch das war entschieden Unsinn. Ganz technisch: Man kann nur einen Preis zahlen, wenn man etwas hat, hat man nichts, dann wird man auch nichts zahlen können, und die ganze Freßsache ist darauf angelegt, daß man nichts hat. Also gab Mo diese ganzen Liebessachen auf. Mit Schmerzen, mit großen Schmerzen.
Manchmal wollte jemand sagen, he, mach doch mal wieder, Männer sind so nett, wenn man zu ihnen nett ist, sei modern, sei partnerschaftlich, nicht jeder ist so und so, du bist so männerfeindlich, du bist tot, weil du keine Beziehungen eingehst, und Mo sagte, ja, ich bin dann wohl tot.

Das alles führte dazu, daß Mo sich gar nicht mehr verständlich machen konnte: Die Wahrheit lag nun da, wo sie nicht zu retten war, in einem Käfig. Und Mo wurde dafür Stückchen für Stückchen aufgefressen, nun nicht mehr von einem allein, sondern von jedem, der darüber zu kam: Um einen Käfig, in dem sie allein saß, hockten und standen und bummelten die immerselben Leute. Sie sagten immer dasselbe, die einen so, die anderen so, und nichts paßte auf ihre Lage. Du mußt dich ändern, sagten ihr die Leute, so wie du bist, kann dir keiner helfen. Du willst zu viel. Zu viel, fragte sie erstaunt, warum soll das denn zu viel sein? Für lange war die Käfigtür zugefallen, sie war drinnen, für jeden sichtbar, und alle konnten gehen, nur sie nicht. Wann immer sie etwas von sich herausstreckte, als ersten Versuch, herauszukommen, wurde es gleich abgebissen, gekaut, verdaut und ihr vor die Käfigtür zurückgeschissen, daß es stank.
Nach langer Zeit fiel die Käfigtür zu, als Mo draußen war. Aber kaum war sie draußen, wurde sie auch schon wieder eingefangen und in einen anderen Käfig getan.
Als sie so weit gekommen war, wiederholte der Traum nun die Geschichte, aus der sie entkommen war, als sie bei der Kreativleitung gelandet war. Ein kleines rettendes Ländchen, das zwar auch nicht sicher war vor Übergriffen aller Art, aber doch ein wenig besser vor unmittelbarer Gewalt zu schützen schien. Man konnte in den Schlaf fliehen. Der Traum wollte nun wieder von vorn beginnen, mit den Essensschalen, die gefüllt waren mit Erbsen, durchmischt mit Federn und Unrat. Aber für diesmal war er erschöpft, ja, der Traum hatte sich erschöpft, und Mo hatte trotz allem ausgeschlafen.

Mo erwachte schwitzend, streckte sich und sah sich um. Kein Käfig. Kein Kranich. Keine Kreativleitung. Kein Honig mit Äpfeln. Sie besah sich selbst. Sie war klein und grau und ihr kleines Kleidchen hatte nicht mehr viele Federn. Ob sie wieder welche bekommen würde? Ob man ohne Federn leben könnte, wenn man nur in der EinSatzLeitung bleiben dürfe? Sie sah sich wieder im Raum um. Sie war ja gar nicht in der EinSatzLeitung, sie war ja mit der Kreativleitung weggefahren, zu einer Hängematte, die an rätselhaft festen Punkten der Welt aufgehängt war, (uffjehangen, sagt der Berliner, dachte sie, und kicherte). Da hing auch noch die Hängematte. Und hier war ihr Fell, am festen Boden. Sonst nichts Bekanntes im Raum, dessen Tür geschlossen war, aber immerhin ein Glasfenster hatte, ein Milchglasfenster.

Sie wurde etwas panisch. Kein Wärter? Nein, nirgends ein Wärter. Immerhin. Und es sah auch so aus, als wäre die Kreativleitung nur kurz aus dem Raum gegangen, vielleicht hatte sie die Tür offengelassen, dachte Mo, vielleicht war die Tür nur durch einen Luftzug zugefallen, vielleicht war Mo nicht eingesperrt. Vielleicht war Mo – die Tür wurde geöffnet, die Kreativleitung trat ein, in der Hand einen Teller mit Apfelstückchen, einer Waffel und sehr viel Honig. Alles war gut. Alles schien gut zu sein, wenn man einmal davon absah, daß sie, Mo, klein und grau war, ohne einen Körper wie sie ihn früher gehabt hatte, ohne einen Körper, der ihr auch nur das Öffnen der Tür erlaubt hätte, so klein war sie geworden, und auch ohne die Federn, die ihr später gewachsen waren, zum Schutz ihres allzu verfrorenen kleinen Körpers vor der allgegenwärtigen Kälte und zum leichteren Fluge, und daß sie also...Sie knickte ein. Sie zog sich den Schal fester um die Schultern. Sie lächelte glücklich, als sie einschlief. Wer weiß wovon sie diesmal träumt, dachte die Kreativleitung, es scheint aber ein schönerer Traum zu sein, und sie stellte den Teller auf das winzige Höckerchen, das sie neben Mos Fell aufgebaut hatte. Sie machte sich an ihrem eigenen Manuskript zu schaffen, in dem doch etwas vom erzählenden Kranich berichtet werden sollte.
Aber es fehlte ihr eine von Mo gekritzelte Vorlage.

„Dafür kam ein Großpeitscher,“ schrieb sie, eine Schlachtszene beschreibend, welche der erzählende Kranich von oben gesehen haben könnte, „und fand, wenn es sich so verhalte, müsse man Mo auch noch die EinSatzLeitung wegnehmen, dann werde sie endlich bekennen. Bloß was soll sie bekennen, würde der Kranich jemanden fragen hören. Ist uns doch egal, würde der Großpeitscher einer Meute antworten, die nur allzu willig auf ihn hörte. Ein Mo, das eine Passionsblume bestaunen kann, ist böse, würde er sagen. Es muß einsehen, daß diese Blume nicht die Blume ist, sondern für etwas anderes steht, für eine große Sache. Es muß unsere große Sache akzeptieren, dann darf es leben. Wir müssen ihm in seinem eigenen Interesse abzwingen, unsere große Sache zu seiner eigenen zu machen.

Ja, brüllte die Meute. Jaja, so wollen wir es machen. Per aspera ad...“

Ist doch alles Mist, dachte sie, alle diese Sprüche, die man ihnen nun also im Gegenzug vor ihre Käfigtüren schmiert – aber so könnte es in manchen Niederungen wohl zugegangen sein.

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