Die EinSatzLeitung schreibt mit Gästen ein Buch. Pro Tag darf jede Person einen Satz einsetzen, die EinSätze werden fortlaufend numeriert. Auf der B-Ebene gibt es längere narrative Stücke. Die EinSatzKräfte und ihre Texte sind sämtlich rein fiktiv und frei erfunden. Alle Rechte bei der Autorin.
Sonntag, 31. August 2008
444.
An seiner neuen Küste in einem spröde aber behaglich eingerichteten Appartment hoch über der Stadt, den Palmen und dem Meere saß der Herr Y., welcher sich zur körperlichen Ertüchtigung einen Gang hinab zum Briefkasten und wieder herauf an sein Panoramafenster zugemutet hatte, als gäbe es keinen Aufzug in seinem weißen Wohnturm, und starrte fassungslos auf eine Sendung mit EinSätzen und EinSatzEntwürfen, welche ihm (dem Internetverweigerer, ja wen wundert denn da noch irgendetwas!) ein Freund unter den neuen Nachbarn als Ausdruck dort deponiert hatte, schauen Sie, sagte er zu seinem Papagei, den er täglich Siezte, damit er sich doch recht geehrt fühlen möge, schauen Sie sich dies bitte an, was kann das denn nun besagen und bedeuten wollen, man möchte sich doch direkt wieder einschweigen, wozu denn nur diese Verzögerung, und der Papagei las laut vor: "Entwurf für 444: Von der Kreativleitung ist bezeugt, daß sie sich zu erheblicher Höhe erheben konnte und solcherart aufragend gelegentlich auch als Erscheinung zu beeindrucken pflegte (das gefiel ihr selbst nicht immer, zumal es neben anderen Eigenheiten ihr den Kleiderkauf enorm erschwerte, aber es war einmal so), sie beeindruckte nicht ganz wie die Straußin, die bekanntermaßen Roß und Reiter erschreckt und auch sonst ein paar unerfreuliche Gewohnheiten hat, wenn man dem biblischen Buch Hiob glauben will, aber in diesem einen Begegnungsfalle immerhin genug, um ein klein wenig Schwung aus dem Anlauf des Herrn X. zu nehmen und auf diese Weise sicherzustellen, daß es schließlich nach all dem Geplänkel doch noch zu einer höflichen Begrüßung und zu freudigem Platznehmen vis-à-vis kam, wodurch sie die Luft gewann, sehr freundlich zu eröffnen und zu sagen, wie sehr sie bedauere, daß er nicht bereits im ersten Anlauf mit der Erledigung seines Auftrags zufrieden gewesen sei, nun habe man aber – dank der Tatsache, daß er, der Herr X., die Mühe nicht gescheut habe, sich in die kleine EinSatzLeitung aufzumachen, eine Geste, durch welche man sich hiesigenorts übrigens sehr geehrt fühle – ja endlich Gelegenheit, gemeinsam einmal genauer auf die strittigen Punkte zu schauen, und wenn sie ihn richtig verstehe, moniere er vor allem die Nichterwähnung seiner Verdienste um den Herrn Y.? -Auf der Kommentarebene dann bitte Kommentare wie 'es kommt nicht voran' etc., etwas Protest von der Assistentin, gern auch eine giftige Bemerkung zur Selbstverliebtheit der Kreativleitung von der Leitung Öffentlichkeit und ein zickiges 'schreib doch selbst' als Antwort, ferner ein kleines Gekeife irgendwelcher weiblicher Völkerschaften an irgendwelchen Seiten, dazu eine Maßregelung durch den Buchhalter und endlich mal wieder die anderen Vögel, die sich auf die Sache mit der Straußin zu stürzen haben, der klitzekleine Forschungsminister soll bitte mal herausfinden, ob es unter den Vögeln auch einen Wespenfresser gibt, der wäre heute am Platz" und der Herr Y. resümierte, es gehen ihr die Figuren durcheinander, die Kreativleitung redet wie die Chefin, die Chefin taucht nicht auf, Herr X. wird seine Beschwerde nicht los, und ich werde nicht rehabilitiert, was soll das?
Samstag, 30. August 2008
443.
Der seit einiger Zeit eingeladene und nunmehr am Zielort seiner Beschwerde abgeladene stattliche Herr X. (der seine kleine Zwischenfrage an eine der Damen, die seine Seiten bevölkerten, sozusagen an seine gegenwärtige "Favoritin," ja nur ins Off der Kommentarebene gestellt und von hier aus auch eine maßvoll tröstliche Antwort erfahren hatte) wurde zunächst einmal von der Assistentin begrüßt, die er nur am Niesen erkannte, denn ihr Aussehen hätte er niemals mit ihrer Stimme in Verbindung gebracht, vollkommen belanglos gekleidet war sie, nicht unschön, vielleicht auch einen zweiten Blick wert, aber "mehr war nicht dran," dachte er, und er wunderte sich, nun schon die zweite weibliche Person in diesem Laden, die hinter ihrem eher unscheinbaren Äußeren und einem freundlichen Lächeln einen nicht unfreundlichen, aber klar durchdringenden Blick knapp verbarg, vor dem einem irgendwie das übliche inbesitznehmende Draufstarren sowieso verging und auch das Poltern nicht mehr ganz so leicht fiel, vielleicht, weil man ahnte, daß es, einmal losgelassen, unendlich werden würde, da ihm kein gleichartiger Widerstand entgegenkommen würde - konnte er all dieses plötzlich denken, nein, das konnte er nicht, wir geben hier unzulässigerweise eine kleine Reflexion der Kreativleitung wieder, die bei ihr "in Klammern" ablief (alle "Perspektivwechsel" von "Konfliktparteien" laufen doch, mit welchen Motiven auch immer, in Klammern ohnehin immer schon ab), während sie Schultern und Rücken in gerade Position brachte, sich vergewisserte, daß Mo unter ihrem karierten Schal auf ihrem Fell aussah wie ein kleiner, nachlässig in der Weberwerkstatt herumliegender Materialhaufen, derartige Reflexionen waren ihre Art, den Blick ganz frei zu machen für die bevorstehende Auseinandersetzung, und der Herr X., gewöhnt daran, sich in Windeseile zu orientieren, hatte der niesenden Assistentin lediglich ein knappes joviales "Prösterchen" zugeworfen (welches die Dame Ö zu ihrem Glück nicht mehr hören mußte), sich selbst in die Brust geworfen und war auf die sich aus ihrem Drehstuhl erhebende Kreativleitung zugestürmt, um keinen Zweifel an seiner in Wochen angesammelten Empörung aufkommen zu lassen.
Freitag, 29. August 2008
442.
Da stand er nun also vor ihr, der Erzräuber, das Monster, der Milchzar höchstselbst, der Herr mit den Gütern im durch seinen mit zweifelhaften Mitteln erworbenen Gutsbesitz quasi vereinigten Grundsächsischen, der es nie - das sah unsere Dame Ö natürlich mit einem Blick - zu dem bringen würde, was man manchmal ja durchaus auch im Guten so als Gutsherrenart zu bezeichnen pflegte, natürlich konnte er trefflich prunken mit seinen feinen Tuchen, und weder Gesichtsröte noch Schweißfluß noch Bauchfett noch Glatze noch auch die grätschbeinige Grundhaltung wären zwingend ein Einwand gewesen, selbst die Sache mit den Sicherheitstypen schien er gut im Griff zu haben, sie waren entweder nicht da oder in beispielloser Dezenz im Treppenhaus geparkt, und überhaupt, liebe Jugend, dachte die Dame Ö, während sie den Herren freundlich hereinbat, liebe Jugend, dachte die Dame, ihr denkt, man müsse immer fit und gestählt aussehen, um elegant zu sein, aber nein, auch wer schwitzt, zu viel frißt und breitbeinig in der Welt steht, kann eine Gutsherrenart haben - wenn er sie denn hat; wenn er sie aber nun einmal nicht hat, dachte Dame Ö, während sie das lästig-lächerliche Gestöhne des Herren über die vielen Treppen höflich überhörte, dann, ach Herrje, dann habe ich hier natürlich auch nichts zu beschicken, und so schickte sie sich in ihr Los, erkannte, daß in Abwesenheit von Gutsherrenart beim Milchzaren ihre Qualifikation nunmehr allenfalls noch in einer gewissen sozusagen gleichbleibenden Flexibilität bestehen konnte, sie hob die Braue, lächelte, sah, daß man es hier ganz kurz machen müsse, denn für diesen Kerl war sie aufgrund ihres Alters und trotz ihrer eben in Gutsdamenart vollzogenen Öffnung für neuere modische Ideen (bei ihr wirkte alles immer gleich klassisch, hoffte sie, und wenn man darüber lachte, so fühlte sie sich darin nur bestätigt, etwelche Unsicherheiten gingen keinen was an) bereits vollkommen unsichtbar, sie konnte ihn allenfalls stracken Schrittes und unter einigen wenigen höflichen Worten zum Kreativbüro führen, nicht einmal ihre wohlvorbereitete Rede, in der sie ihm hatte erläutern wollen, warum es für ihn viel ehrenvoller sei, direkt dorthin geleitet zu werden, anstatt erst einmal von der Chefin begrüßt zu werden, kam zum EinSatz, es wäre alles an ihn vergeudet gewesen und hätte so doch mehr geschadet als genützt, so lud sie ihn nur mit einer winzigsten Introduktion bei den K-Damen ab und ging wieder ins "Bistro" zurück, woselbst wie zur Illustration aller falschen Hoffnungen ihres Lebens eine magere Wespe die Energiesparbirne einer Tischlampe umflog, welche (dank der Energiesparbirne) nicht einmal heiß genug wurde, um das Insekt in angemessenem Tempo lahmzulegen.
Donnerstag, 28. August 2008
441.
Ungerührt durch Bemerkungen über ihr Schweigen, unverdrossen auch durch den Wechsel von längeren Schwächephasen und explosiven kreativen Entladungen des Mos, unbeirrt durch die Balanceübungen der Kreativleitung, welche immer noch den Teppich ebenso wie den Platz am Fenster in scheinbarer Untätigkeit bespielt, bevor sie dann neu aufgeladen am Wandteppich weiter webt, und sogar unverdrossen durch die sich zur Unleugbarkeit verdichtende Tatsache, daß die Assistentin K bald einmal eine Gratifikation und ein eigenes Betätigungsfeld braucht, wenn sie uns nicht abspenstig werden soll, leistet im Zentrum der EinSatzLeitung die Kreativabteilung ihre Arbeit - und aus dieser Arbeit ist heute zu vermelden, daß wir, bevor der Milchzar in unseren Räumlichkeiten selbst seinen Auftritt haben kann, einmal hinter die Tür des Chefinnenbüros schielen müssen, um zu sehen, wie denn das Gespräch zwischen Chefin und Karomütze gelaufen ist: immerhin wissen wir von der Assistentin, die bekanntlich mit dem Sicherheitsbeauftragten durch eine besondere Freundschaft verbunden ist, daß er sehr entlastet wieder herauskam, geradezu ermuntert zu weiterer Arbeit, und daß er von der Chefin mit bisher ungewöhnlich schwärmerischen Tönen zu berichten wußte, wie sehr sie doch Anteil nehme nicht nur an den äußeren Sorgen und Risiken der EinSatzKräfte aus unserer Institution und anderen Institutionen, sondern sogar an den internen Schwierigkeiten, die sich aus komplizierten personellen und informationstechnischen Verflechtungen ergeben, und so haben wir den Buchhalter (dem wir vorerst versprechen mußten, auch auf seine Arbeit wieder etwas mehr Acht zu haben, insonderheit auf sich abzeichnende Konflikte mit dem "immerlästigen" Projektleiter) gebeten, wieder einmal die Beobachtung der Regeleinhaltung auszusetzen, damit wir hier einen kleinen Dialog zwischen Chefin und Sicherheitsbeauftragtem einsetzen können:
Mittwoch, 27. August 2008
440.
Im "Bistro" saßen an diesem Morgen die Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse (die soeben unter prustendem Gelächter berichtete, man habe ihre Bluse, obwohl sie doch von einem hellen freundlichen Lichtblau ist, mit einem seminordkoreanischen FDJ-Hemd assoziiert und sie entsprechend "eingetütet"), der Minderheitler mit den grünen Borsten und die Dame Ö, abwartend, welche Tür sich zuerst öffnen würde: die des Chefinnenbüros, hinter der eine heute eher schlecht gelaunte Chefin mit Karomütze verschwunden war, nicht ohne zuvor die im "Bistro" pausierenden EinSatzKräfte zu fragen, ob sie es nicht auch überaus anrüchig fänden, wie in der Presse über das Herz der "bezwungenen" ehemaligen First Lady und die Gattinnen der endlich wieder nur männlichen Präsidentschaftskandidaten als "Geheimwaffen" herumbramabasiert werde "und eigentlich, nicht wahr," sagte sie, "wollen wir doch genau diese Aspekte der ganzen Veranstaltung am allerwenigsten und eigentlich nie gesehen haben, von der breitgewalzten Lewinsky-Affäre mit tapferer Gattinnentreue bis zu - bei aller Sympathie für B.O. - diesem 'jetzt stelle ich mich hinter ihn und vereinige mich, egal wie er mich vorführt, zum team für eine große Sache,' endlich wieder eine Frau so richtig zurechtgestutzt auf dieses Maß, egal wie tapfer sie sich hält, und sicherheitshalber fragt die Presse nochmal nach, ob jetzt auch wirklich alle Demütigungen bei ihr persönlich angekommen sind," sagte sie, "und gewöhnlich gut unterrichtete Kreise berichten in emsiger Gewöhnlichkeit, ja, es hat sie persönlich getroffen, na endlich, berichten sie uns dann, als hätten sie nun eine Beute gemacht, es hat sie getroffen, ach was, wollen wir das gesehen haben," fragte die Chefin, "will das einer hier gesehen haben, etwa," und als sie die müden Gesichter (nur Gattin Ö hob ihre Braue, heute in dezenter Zustimmung) gesehen hatte, hatte sie es aufgegeben und ihrerseits gegähnt und gesagt, "also gut, es ist also immer noch nicht so weit, es macht also immer noch zu viel Spaß, ach Kinder, wenn ich Sie erstmal groß hab," und hatte die Bürotür hinter sich geschlossen, mit einem durch diesen Auftritt für seine eigene Sache nicht gerade hoffnungsvoller gestimmten Bemützten (der gestern wegen schlechten Befindens nachhause geschickt worden war, ohne in der Sache geredet zu haben) - oder, und darauf hofften die abwartenden Versammelten ein wenig, ob vielleicht als erstes an der Eingangstür der Milchzar gemeldet werden würde, denn dieser hatte sein Kommen auf den Dienstag verlegt, aber sich nicht zur Angabe einer präzisen Uhrzeit verstehen können, weshalb die Dame Ö sicherheitshalber einmal vorne blieb, denn außer ihr würde doch niemand einen solchen Gast zu empfangen wissen, glaubte sie, man muß, so sagte sie den davon keineswegs überzeugten Minderheitlern, mit solchen Leuten auch rings um die eigentliche Veranstaltung umgehen können, und wer nicht nur von einem Gutshof kommt, sondern gleich von mehreren, in Nieder- wie in Obersachsen, der entwickelt doch einen ganz anderen Respekt und sogar so etwas wie Vertrauen, wenn man ihm mit den entsprechenden Gepflogenheiten zu begegnen weiß.
Dienstag, 26. August 2008
439.
Als der Kollege Karomütze am Morgen aus dem "Bistro" - wo er mit der vor dem anstehenden Besuch des Herrn X. vor allem genervten Assistentin K einen Kaffee getrunken und endlich einmal wieder recht herzhaft geplaudert hatte - direkt zur Chefin gerufen wurde, ahnte er, daß es sich nicht nur um eine der üblichen Instruktionen handeln würde, und während er sich widerwillig von seinem Stuhle erhob, bemerkte er, daß er sich doch nach den alten Zeiten zurücksehnte, in welchen es noch der Chef mit seiner dicken weichen Hand gewesen war, der den Chefsessel mit seiner ganzen Pracht befüllt hatte, denn dieser hatte speziell ihm, dem Kollegen von der Sicherheit, seiner Ansicht nach weit mehr väterliches Wohlwollen entgegengebracht als die Dame Chefin, deren ewig freundliche Strenge ihm unbehaglich war, wußte er doch, daß er in der Vorwoche an einer Stelle in einer Panik einen Fehler gemacht und zu schnell einen viel zu weit gehenden Alarm geschlagen hatte, und er wußte nicht, ob er der Chefin (an deren Sympathie für seine Belange er erheblich zweifelte) zur Erklärung erzählen sollte, daß diese Panik durch den Anblick eines ehemaligen Offiziers ausgelöst worden war: eines Offiziers, welchem er sich während seiner militärischen Grundausbildung stets derartig ausgeliefert gefühlt hatte (er war es faktisch auch gewesen, die Alternative war: Militärdienst quittieren oder die stets gern demonstrierte und aufs Gräßlichste ausgeübte Macht dieses Mannes zu ertragen, damals aber hatte ihn etwas an das Militär gebunden, das er zwar heute, nachdem er den Dienst bekanntermaßen quittiert hatte und zudem gelernt zu haben glaubte, mit dem Machtgebaren anderer Menschen, sogar Militärs, immerhin halbwegs sicher umgehen zu können, nicht mehr verstand, aber er erinnerte sich, wie wichtig es ihm damals gewesen war, diese Soldatensache hinter sich zu bringen), daß er meinte, sich ihm allein durch Tod entziehen zu können, und er hatte deswegen, wenn er sich mal wieder unter seinen trotz allem scherzenden und von jenem Kerl wohl auch nicht ganz so übel malträtierten Kameraden gefühlt hatte, als wäre er allein unter persönlicher Bewachung durch diesen (damals noch Unter-) Offizier im Spint eingesperrt, gelegentlich ernsthaft den Tod (auf dessen Möglichkeit man hier schließlich hochoffiziell vorbereitet wurde) als eine Befreiung in Betracht gezogen (und deswegen die Harmlosigkeit der damaligen Einsätze und Übungen fast bedauert), und als er nun, bei seiner Aufgabe, das Umfeld des Milchzaren unter Sicherheitsgesichtspunkten zu erkunden, feststellen mußte, daß dessen Sicherheitsapparat just von jenem (inzwischen ehemaligen) Offizier angeführt wurde, der ihm seinerzeit den Spaß (nicht nur) am Militärdienst verdorben hatte, als er dann auch noch rumoren hörte, mit diesem solle er nun zur Vorbereitung des "zarischen" Besuchs die Sicherheitsbedingungen "abklären" (wer sich das Wort ausgedacht hat, möchten wir hier in der K-Abteilung auch gern mal wissen, aber es ist wohl unentbehrlich geworden), da war er wieder wie früher in die alte Panik verfallen und hatte verzweifelt und fieberhaft alle - wirklich alle - Möglichkeiten nicht nur in Gedanken, sondern auch in Worten durchgespielt, einer Wiederholung jener schrecklichen Zeit der Grundausbildung zu entkommen, so daß er bei der eigentlichen Arbeit ganz unkonzentriert war und in der Gefahrenabwägung gestört, und nun, so nahm er an, mußte er dafür Rechenschaft ablegen und wußte doch nicht wie.
Montag, 25. August 2008
438.
Es wurde Montag, und das Problem mit Herrn X. nahm an Dringlichkeit zu, die Assistentin wurde in einem Gespräch mit der Kreativleitung nun also intensiv "gebrieft," wobei die Einzelheiten dieses Briefings wegen ihrer schwer verständlichen, aber unentbehrlichen (und den Bildungshungrigen zur Lektüre anempfohlenen) theoretischen Kompliziertheit hier in die Kommentarebene gedrückt werden müssen, und es schien, als wolle ihr die Haut unter dem Gips gansig werden, als sie sich dem Telefon näherte, denn je mehr sie vorbereitet war, desto schwieriger erschien ihr wie immer ihre Aufgabe, lediglich ihre eigene Stimme (die sich von der Bewunderung durch etwelche Zarissimi längst unabhängig gemacht hatte) trug sie, als sie schließlich anrief und dem mehr als empörungsbereiten Stattlichen ganz ohne Niesen mitteilte, daß man sich über das Problem einer Erwähnung von Herrn Y. mit ihm sehr gern in den Räumlichkeiten der EinSatzLeitung ins Benehmen setzen wolle und sich herzlich freue, wie sehr ihm an allem gelegen sei, und wann er denn zu kommen wünsche - der Herr seinerseits widerstand dieser Freundlichkeit nun nicht mehr, sondern legte einen "zeitnahen" Termin fest, sah er doch hier eine Gelegenheit für einen Auftritt, bei dem ihn seine unzweifelhaft gewaltige Fähigkeit, Hinterhälte und niedere Motive zu durchschauen, auf die er sich in seiner Eigenschaft als Nutztierhalter viel zugute hielt, ja sicher keineswegs im Stiche lassen würde.
Sonntag, 24. August 2008
437.
Am Sonntag nach der Sitzung regnete es in Strömen, und niemand hatte Lust irgendetwas zu tun außer herumzuhängen und zu naschen oder sich zu versporten und dummes Zeug zu quatschen (falls jemand in der Nähe war, der es hören wollte), selbst die arbeitssüchtige Chefin fand, Umstrukturierungen hätten Zeit, und auch die Kreativabteilung wollte erst am Montag wieder etwas vom Fall X. wissen - nur Mo hockte auf ihrem Fell, winzige Flügelansätze zeigten sich auf ihrem Rücken, wenn der Schal verrutschte, den sie der Kälte wegen aber immer wieder hoch zog, und sie kritzelte emsig Bogen nach Bogen eines Briefblocks voll, Satz reihte sich an Satz, aber wenn die Kreativleitung sich näherte, mit einem Tellerchen mit Apfelscheiben und Honig, bedeckte sie ihr Papier sofort mit einem Zipfel des karierten Schals und fauchte laut, denn sie mochte es nicht, wenn man ihr beim Schreiben über die Schulter guckte, und kein gutes Zureden, daß man das doch ohnehin nicht beabsichtige, half, im Gegenteil, die Lemurenaugen glommen dann wild auf, und die Kreativleitung streichelte also nur vorsichtig die kleine trockene Wange und sagte, ich freue mich auf den Tag, an dem ich vielleicht doch mal lesen darf, was du hier so wütend verteidigst, Kleines.
Samstag, 23. August 2008
436.
Sitzung der EinSatzLeitung
Leitung: Chefin
Protokoll: Projektentwickler
Tagesordnung:
1. Die Mitteilung des Sicherheitsbeauftragten
2. Diskussion der erforderlichen Maßnahmen
3. Die Beschwerde von Herrn X., Stand der Verhandlungen
4. Verschiedenes
Die Chefin eröffnet vor den versammelten EinSatzKräften die Sitzung mit einem kleinen ermunternden Scherz über das wahrhaftig hochsommerliche Wetter, stellt alle auf eine möglicherweise erforderliche längere Lagebesprechung ein und gibt das Wort dem Sicherheitsbeauftragten für
TOP 1:
Der Bemützte berichtet über folgende ernste Sache: Bei einigen Geschäftspartnern der EinSatzLeitungen sind anrüchige Sendungen eingegangen, welche angeblich von der EinSatzLeitung stammen und zu zwielichtigen Geschäften auffordern. Der EinSatzLeitung ist dies nur durch einen Zufall bekannt geworden, indem der Sicherheitsbeauftragte durch einen befreundeten Kollegen aus einer Geschäftspartner-Institution gefragt wurde, was seiner Chefin denn neuerdings einfalle, solche Sachen zu verschicken. In Absprache mit der Chefin wird dazu geraten, an so einer Stelle den üblichen moderaten und moderierenden und stets die sanfteste und liberalste denkbare Lösung favorisierenden Kurs der EinSatzLeitung (der weiterhin ihr spezifisches Merkmal bleiben soll) durch harte Maßnahmen mit dem erforderlichen Rückgrat zu versehen, denn hier geht es nicht nur um die Glaubwürdigkeit, sondern geradezu um die Existenz der EinSatzLeitung. Er bitte um Erörterung der erforderlichen Maßnahmen unter
TOP 2:
Großes empörtes Gemurmel erhebt sich im Raume, der Minderheitler mit den grünen Borsten findet, daß hier auch einmal zu informell drastischen Maßnahmen gegriffen werden könne, meine Wenigkeit schlägt vor, zur Beweissicherung einige Bekannte aus Schweizer Tagen einzusetzen, meine werte Exgattin ruft einfallslos wie immer nach der Polizei, der Oberassistent findet, die ganze Sache werde überschätzt, er könne sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß irgendjemand dergleichen ernstnehmen könne, er wird vom Demokratiebeauftragten zurechtgewiesen durch Erinnerung an den lateinischen Spruch "semper aliquid heret," die Leitung meiner früheren Abteilung findet, man müsse sofort eine gezielte Presseaktion starten und im übrigen, sobald Beweise gesichert seien, die besten Juristen einschalten, und die Assistentin K erwirbt sich weitere Meriten für die Aufwertung ihrer Position, indem sie empfiehlt, einmal alle geschätzten Geschäftspartner anzuschreiben, ihnen für die gute Zusammenarbeit zu danken, gute Wünsche für die weitere Zusammenarbeit zum Ausdruck zu bringen, und bei der Gelegenheit darauf hinzuweisen, daß selbstverständlich nur die Sendungen von der EinSatzLeitung selbst sind, die ein bestimmtes Siegel tragen, welches bei dieser Gelegenheit eingeführt werden müsse, man werde sich in der Kreativleitung gern um Entwicklung eines solchen Siegels bemühen, hier sei freilich Rücksprache mit dem Haus des ehemaligen Chefs sinnvoll, die Kreativleitung, die ein wenig in den durch Wolken marmorierten Himmel gestarrt und nebenbei ein reichlich karg wirkendes, im Schlaf unruhig schnaufendes Mo gestreichelt hat, beschränkt sich darauf, ihrer Assistentin den Rücken zu stärken und den Gang ins Haus des ehemaligen Chefs zu übernehmen und zieht dadurch den Unmut des Buchhalters auf sich, der aber seinen anschwellenden Wutausbruch zügelt, sobald er bemerkt, daß die Chefin ihn scharf ins Auge gefaßt hat, während sie daran erinnert, daß in dieser Lage wirklich alle EinSatzKräfte gebraucht werden, die unbedingt hier effizient zusammenarbeiten müssen und sich also bitte aller internen Querelen enthalten möchten. Das Maßnahmenpaket wird auf der Grundlage der eingegangenen und protokollierten Vorschläge geschnürt werden, wie man bei der Projektpost zu sagen pflegt.
TOP 3:
Zum Fall X. ist eine weitere Gesprächsrunde zwischen Assistentin K und dem Beschwerdeführer in Vorbereitung, hier hat nun die Kreativleitung doch noch einen größeren Auftritt, indem sie sagt, sie werde in einem (bereits durchkonzipierten) EinSatz die Assistentin für ein weiteres Telefonat briefen (wieder die Post!), die Reaktion des Herren abwarten und dann zum nächsten (unter 432, Kommentar der Chefin, bekanntgegebenen) Schritt, der Einladung seiner Stattlichkeit ins Kreativbüro, übergehen, denn es scheine vonnöten, daß er mit der persönlichen Autorität der Kreativleitung jener Einrichtung, welcher er schließlich einmal seinen Auftrag erteilt hatte, wieder vertrauter werde. Das Verfahren wird so gebilligt und sogar ausdrücklich von Seiten der Zuständigen gewertschätzt.
TOP 4:
Unter diesem Tagesordnungspunkt erhebt sich meine werte Exgattin unter vollendeter Beherrschung ihrer sicher in Wahrheit kaum erträglichen Nervosität und ersucht höflich um Prüfung der Frage, ob sie nicht in irgendeine von mir und meiner Verbindung zu ihr unabhängige offizielle Assoziation oder Kooperation mit der EinSatzLeitung treten könne, sie habe immerhin eine Gouvernantenausbildung und einige Erfahrung mit der kreativen Schneiderei, gebiete aber vor allem über Umgangsformen, durch deren gezielten EinSatz im Eingangsbereich und übrigens auch im Vorzimmer der Chefin manches glatter laufen könnte, sie habe dies zunächst nur schriftlich vorbesprechen wollen, sei aber angesichts der neuen Situation und des ins Haus stehenden Besuches eines veritablen nieder- und obersächsichen Milchzaren zu der Überzeugung gekommen, daß ihre Qualifikationen just in dieser Lage Wesentliches zum guten Ausgang der Sache beitragen könnten. Einige Mehrheitler und Minderheitler maulen etwas, Karomütze versucht, sich der Zustimmung von Assistentin K zu versichern, indem er ihr mit den Augen sozusagen zurollt, aber Assistentin K scheint mit den anderen Damen eine solide Solidaritätsfront gebildet zu haben und ermuntert die Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse, aufzustehen und zu sagen, daß es etliche in der EinSatzLeitung gebe, die eine offizielle Mitarbeit der Dame Ö herzlich begrüßen und energisch befürworten würden, man müsse nun an dieser Stelle bis zur nächsten Sitzung über Umstrukturierung nachdenken. Dieser Beitrag erntet erstaunlich lebhafte Akklamation, die Chefin freilich packt schon einmal ihre Sachen, sagt, ich denke, jetzt ist alles besprochen, die Sonne bricht durchs Gewölk, und die Sitzung ist beendet - ohne daß ich, der Projektentwickler und ehemalige Eigentümer einer Gouvernante, ein einziges Mal zu Wort gekommen bin, aber so ist das wohl, wenn man protokolliert.
(Der Projektentwickler)
Leitung: Chefin
Protokoll: Projektentwickler
Tagesordnung:
1. Die Mitteilung des Sicherheitsbeauftragten
2. Diskussion der erforderlichen Maßnahmen
3. Die Beschwerde von Herrn X., Stand der Verhandlungen
4. Verschiedenes
Die Chefin eröffnet vor den versammelten EinSatzKräften die Sitzung mit einem kleinen ermunternden Scherz über das wahrhaftig hochsommerliche Wetter, stellt alle auf eine möglicherweise erforderliche längere Lagebesprechung ein und gibt das Wort dem Sicherheitsbeauftragten für
TOP 1:
Der Bemützte berichtet über folgende ernste Sache: Bei einigen Geschäftspartnern der EinSatzLeitungen sind anrüchige Sendungen eingegangen, welche angeblich von der EinSatzLeitung stammen und zu zwielichtigen Geschäften auffordern. Der EinSatzLeitung ist dies nur durch einen Zufall bekannt geworden, indem der Sicherheitsbeauftragte durch einen befreundeten Kollegen aus einer Geschäftspartner-Institution gefragt wurde, was seiner Chefin denn neuerdings einfalle, solche Sachen zu verschicken. In Absprache mit der Chefin wird dazu geraten, an so einer Stelle den üblichen moderaten und moderierenden und stets die sanfteste und liberalste denkbare Lösung favorisierenden Kurs der EinSatzLeitung (der weiterhin ihr spezifisches Merkmal bleiben soll) durch harte Maßnahmen mit dem erforderlichen Rückgrat zu versehen, denn hier geht es nicht nur um die Glaubwürdigkeit, sondern geradezu um die Existenz der EinSatzLeitung. Er bitte um Erörterung der erforderlichen Maßnahmen unter
TOP 2:
Großes empörtes Gemurmel erhebt sich im Raume, der Minderheitler mit den grünen Borsten findet, daß hier auch einmal zu informell drastischen Maßnahmen gegriffen werden könne, meine Wenigkeit schlägt vor, zur Beweissicherung einige Bekannte aus Schweizer Tagen einzusetzen, meine werte Exgattin ruft einfallslos wie immer nach der Polizei, der Oberassistent findet, die ganze Sache werde überschätzt, er könne sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß irgendjemand dergleichen ernstnehmen könne, er wird vom Demokratiebeauftragten zurechtgewiesen durch Erinnerung an den lateinischen Spruch "semper aliquid heret," die Leitung meiner früheren Abteilung findet, man müsse sofort eine gezielte Presseaktion starten und im übrigen, sobald Beweise gesichert seien, die besten Juristen einschalten, und die Assistentin K erwirbt sich weitere Meriten für die Aufwertung ihrer Position, indem sie empfiehlt, einmal alle geschätzten Geschäftspartner anzuschreiben, ihnen für die gute Zusammenarbeit zu danken, gute Wünsche für die weitere Zusammenarbeit zum Ausdruck zu bringen, und bei der Gelegenheit darauf hinzuweisen, daß selbstverständlich nur die Sendungen von der EinSatzLeitung selbst sind, die ein bestimmtes Siegel tragen, welches bei dieser Gelegenheit eingeführt werden müsse, man werde sich in der Kreativleitung gern um Entwicklung eines solchen Siegels bemühen, hier sei freilich Rücksprache mit dem Haus des ehemaligen Chefs sinnvoll, die Kreativleitung, die ein wenig in den durch Wolken marmorierten Himmel gestarrt und nebenbei ein reichlich karg wirkendes, im Schlaf unruhig schnaufendes Mo gestreichelt hat, beschränkt sich darauf, ihrer Assistentin den Rücken zu stärken und den Gang ins Haus des ehemaligen Chefs zu übernehmen und zieht dadurch den Unmut des Buchhalters auf sich, der aber seinen anschwellenden Wutausbruch zügelt, sobald er bemerkt, daß die Chefin ihn scharf ins Auge gefaßt hat, während sie daran erinnert, daß in dieser Lage wirklich alle EinSatzKräfte gebraucht werden, die unbedingt hier effizient zusammenarbeiten müssen und sich also bitte aller internen Querelen enthalten möchten. Das Maßnahmenpaket wird auf der Grundlage der eingegangenen und protokollierten Vorschläge geschnürt werden, wie man bei der Projektpost zu sagen pflegt.
TOP 3:
Zum Fall X. ist eine weitere Gesprächsrunde zwischen Assistentin K und dem Beschwerdeführer in Vorbereitung, hier hat nun die Kreativleitung doch noch einen größeren Auftritt, indem sie sagt, sie werde in einem (bereits durchkonzipierten) EinSatz die Assistentin für ein weiteres Telefonat briefen (wieder die Post!), die Reaktion des Herren abwarten und dann zum nächsten (unter 432, Kommentar der Chefin, bekanntgegebenen) Schritt, der Einladung seiner Stattlichkeit ins Kreativbüro, übergehen, denn es scheine vonnöten, daß er mit der persönlichen Autorität der Kreativleitung jener Einrichtung, welcher er schließlich einmal seinen Auftrag erteilt hatte, wieder vertrauter werde. Das Verfahren wird so gebilligt und sogar ausdrücklich von Seiten der Zuständigen gewertschätzt.
TOP 4:
Unter diesem Tagesordnungspunkt erhebt sich meine werte Exgattin unter vollendeter Beherrschung ihrer sicher in Wahrheit kaum erträglichen Nervosität und ersucht höflich um Prüfung der Frage, ob sie nicht in irgendeine von mir und meiner Verbindung zu ihr unabhängige offizielle Assoziation oder Kooperation mit der EinSatzLeitung treten könne, sie habe immerhin eine Gouvernantenausbildung und einige Erfahrung mit der kreativen Schneiderei, gebiete aber vor allem über Umgangsformen, durch deren gezielten EinSatz im Eingangsbereich und übrigens auch im Vorzimmer der Chefin manches glatter laufen könnte, sie habe dies zunächst nur schriftlich vorbesprechen wollen, sei aber angesichts der neuen Situation und des ins Haus stehenden Besuches eines veritablen nieder- und obersächsichen Milchzaren zu der Überzeugung gekommen, daß ihre Qualifikationen just in dieser Lage Wesentliches zum guten Ausgang der Sache beitragen könnten. Einige Mehrheitler und Minderheitler maulen etwas, Karomütze versucht, sich der Zustimmung von Assistentin K zu versichern, indem er ihr mit den Augen sozusagen zurollt, aber Assistentin K scheint mit den anderen Damen eine solide Solidaritätsfront gebildet zu haben und ermuntert die Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse, aufzustehen und zu sagen, daß es etliche in der EinSatzLeitung gebe, die eine offizielle Mitarbeit der Dame Ö herzlich begrüßen und energisch befürworten würden, man müsse nun an dieser Stelle bis zur nächsten Sitzung über Umstrukturierung nachdenken. Dieser Beitrag erntet erstaunlich lebhafte Akklamation, die Chefin freilich packt schon einmal ihre Sachen, sagt, ich denke, jetzt ist alles besprochen, die Sonne bricht durchs Gewölk, und die Sitzung ist beendet - ohne daß ich, der Projektentwickler und ehemalige Eigentümer einer Gouvernante, ein einziges Mal zu Wort gekommen bin, aber so ist das wohl, wenn man protokolliert.
(Der Projektentwickler)
Freitag, 22. August 2008
435.
Als der Kollege Karomütze endlich ins Chefinnenbüro Einlaß gefunden hatte, um seine Neuigkeiten zunächst der Chefin allein mitzuteilen, warteten die Damen aus der Kreativabteilung draußen, denn es konnte ja immerhin sein, daß die Neuigkeit auch den Herrn X. betraf, es erwies sich aber (und wurde rasch zwischendurch mitgeteilt), daß das nicht der Fall war, und so gingen sie nun also ins Büro, wo die Assistentin ihren Anruf bei Herrn X. zu tätigen unternahm, welcher sich freilich sofort geleimt zu fühlen schien, als er ihre Stimme hörte, so daß der erwünschte Effekt hier schon einmal nicht eintrat, jedoch die Assistentin war - gut vorbereitet - flexibel genug, hier nun auch weiter nicht zu insistieren, sie trug vielmehr in aller Ruhe vor, daß der EinSatzLeitung seine Beschwerde vorliege, die sie ein wenig besser zu verstehen wünsche, denn - abgesehen von dem beleidigenden Ton, Pennäler usw., welcher ihm sicher nur im ersten Moment so herausgerutscht sei, nicht wahr, ein Mann von Temperament, dem unterlaufe dergleichen schon einmal (Mo starrte mit großen Augen auf die Telefonierende und kicherte an dieser Stelle ein wenig) - zwar sei die Rechtslage vollkommen klar, die EinSatzLeitung wünsche aber, den Wünschen ihrer Auftraggeber so gut es gehe entgegenzukommen, und so ... nu machen Sie mal halblang, unterbrach sie da der Stämmige, es ist doch wirklich ein kümmerliches Papierchen gewesen, was Sie da nach so langer Zeit geliefert haben, und die Assistentin wartete, bis er sich ausgepoltert hatte, hielt zur Schonung ihres Trommelfells den Apparat solange ein wenig vom Ohr weg und antwortete schließlich in die empört schnaufende Ruhe am anderen Ende der Leitung, es sei immerhin ein kompliziertes und auch Gewissensfragen berührendes Thema gewesen, bei dem die sorgfältige Abwägung sich eben nicht in der Länge des Textes, wohl aber in der Präzision der Formulierungen niedergeschlagen habe: und nun endlich brach es aus dem Herren X. heraus, daß er doch schließlich um eine Eloge wegen seiner Verdienste um Herrn Y., verstehen Sie das denn nicht, auf Herrn Y. kommt es mir an (!) ersucht hatte, von welchem aber mit keiner Silbe die Rede gewesen sei, mit nicht der allerwinzigsten Silbe!
Donnerstag, 21. August 2008
434.
Die Unterredung im Chefinnenbüro nahm überhaupt einen seltsamen Verlauf, die Assistentin (wir können das K mittlerweile weglassen, denn eine zweite Assistentin existiert ja nicht mehr, und der Herr Oberassistent ist durch Geschlecht und Ober ausreichend kenntlich), welche ausersehen war, den Herrn X. nun einmal anzurufen, wollte in der Tat genauer wissen, was eigentlich mit Herrn Y. losgewesen sei, die Kreativleitung allerdings erging sich nur in sehr vorsichtigen Vermutungen, sie meinte, er habe vielleicht einfach sehr lange, da er von sich auf andere zu schließen gewohnt war (wie wir doch im Grunde alle nicht wahr), überhaupt nicht begriffen, was da geschah und daß es ihm wirklich einfach nur an den Kragen gehen solle, und als er es begriffen hatte und aufzuschreien und zu protestieren und sich um Hilfe an die Öffentlichkeit zu wenden begann, da habe man ihm vielleicht nicht geglaubt, da schon fast alle in der Öffentlichkeit umgekrempelt und auf Herrn X. eingeschworen gewesen waren, dann habe er keine Resourcen mehr gehabt für eine wirksame Gegenwehr, je mehr er zu protestieren versucht habe, desto mehr habe sich die Öffentlichkeit davon überzeugt gezeigt, daß es sich bei ihm um einen ausgemacht bösen Menschen handeln müsse, welcher mit Recht erst einmal zurechtgestutzt werden müsse, und als er dann aufgegeben habe, habe man ihm gesagt, ja, wenn man sich so wenig Mühe gibt wie Sie, um seine Güter zu erhalten, ist es doch kein Wunder, daß sie einem genommen werden, und irgendeinen Grund müsse es doch haben, wenn ein so guter wunderbarer und auch am Wohlergehen des Herrn Y. so sehr interessierter Herr wie der Herr X. sich derartig verbissen auf ihn werfe, so etwa jedenfalls denke sie sich die Sache, und insofern sehe sie auch nicht so recht, wie man den Wünschen des Herrn X., nun ausgerechnet als Wohltäter von Herrn Y. gewürdigt zu werden, allen Ernstes entgegenkommen könne, man müsse wohl die Gesprächsstrategie eher darauf auslegen, durch respektvolles Nachfragen herauszubekommen, ob er auf andere Weise so befriedigt werden könne, daß es ihm nicht schwer falle, von Herrn Y. einfach abzulassen.
Mittwoch, 20. August 2008
433.
Quersumme 10, dachte der Buchhalter, bevor er sich wieder in seine Unsichtbarkeit zurückzog, um ein Bilanzproblem zu klären und herauszufinden, was es mit dem Termin auf sich hatte, den ihm der Oberassistent in seinen Kalender eingetragen hatte ohne Angabe von Ort oder zu treffender Person, und er fand es nicht heraus, er fühlte sich auch einfach noch lange nicht wohl genug in seiner Haut, um zu vergessen, wie ihn die Sache mit der ehemaligen Assistentin Ö wurmte, eine furchtbare Niederlage, so fand er, und wenn ihm jemand wie etwa die Kreativleitung heute gesagt haben würde, daß Sie es aber auch nicht lassen können, in diesen Fragen immer noch in "Sieg" und "Niederlage" zu denken, und wenn sie ihm gesagt haben würde, wie sehr man "Sieg" und "Niederlage" in Angelegenheiten der Liebe zu Menschen und größeren Einheiten geringschätze, sobald man einmal erfahren habe, daß die Wärmsten immer als kalt gelten, die Besten als schlecht, die Weichsten als hart, die, die als warm, als gut, als weich gelten aber ihrerseits furchtbar aufpassen müßten und über die, die wirklich kalt und schlecht und hart sind, falls es solche gebe, spreche man nicht, sobald man also einmal erfahren habe, was für eine wackelige Angelegenheit das sogenannte Ansehen sei, und wenn sie ihm ferner gesagt haben würde, er könne niemals wissen, was die ehemalige Assistentin Ö für ihn empfinde, ohne seinerseits wirklich Gesicht zu zeigen, dann würde er ehrlicherweise gesagt haben müssen: aber es passt mir nicht, daß sie jetzt hier ein solches exponiertes und mir in gewisser Weise übergeordnetes Amt hat, ich hasse sie dafür, und ich will sie schwach sehen, damit sie mich braucht, ach, wie ich sie dann lieben werde, und die Kreativleitung würde vermutlich geantwortet haben, hat Ihnen jemals eine Frau ein derartiges Ansinnen vorgetragen, und wenn, hätten Sie das für eine Liebeserklärung gehalten, aber diese ganze Unterredung fand gar nicht statt, vielmehr saß der Buchhalter in seinen Büchern, schweigsam grollend, und die Kreativleitung ließ sich im Büro der Chefin soeben fragen, warum ihrer Meinung nach der Herr Y. sich so gar nicht gewehrt habe, als Herr X. ihm nach und nach alles weggenommen habe.
Dienstag, 19. August 2008
432.
Der Anruf des Herrn X. ließ nicht auf sich warten, er erfolgte noch am Montagmorgen, während die Kreativabteilung sich im „Bistro“ von Karomütze aufheitern ließ, und der Oberassistent, welcher ihn entgegennahm, war einigermaßen irritiert vom schneidend-markigen Ton des Anrufers, mit dem dieser erst verlangte, die Dame mit der reizenden Stimme zu sprechen, als dies ihm nicht gewährt wurde, aber sofort loslegte und beklagte, daß man ihm unter 412 versprochen habe, einen Trick anzuwenden, man habe dann suggeriert, man werde diesen Trick verraten, nur um sich sogleich wieder in hochanspruchsvolles Getüdel zu verlieren, und dann liefere man etwas, das nun wirklich jeder Pennäler in drei Stunden schreiben könne, er reklamiere und weigere sich, die Rechnung zu bezahlen, und während der Oberassistent noch mit rollenden Augen und schwitzenden Händen versuchte, ihn an die Leiterin der Abteilung Öffentlichkeit weiterzuleiten, die er mit fast geräuschlosen Mundbewegungen auf „ganz viel Öl“ einstimmen wollte, knallte der Anrufer den Hörer auf – vermutlich darauf spekulierend, daß die EinSatzLeitung ihn in irgendeiner anderen Person zurückrufen würde, denn man würde ja wohl Interesse haben an einer Klärung der Angelegenheit.
Montag, 18. August 2008
431.
Der Kreativleitung war es in der Nacht wieder einmal nicht gelungen, vor eins ihre Bettstatt zu finden, und so war sie noch reichlich müde, als sie am Morgen um neun schließlich in ihr Büro kam, wo sie ihre Assistentin in ziemlich verdrießlicher Stimmung antraf, den Gipsarm nach Kräften ignorierend, ratlos über der Beschwerde des Herrn X. hockend, und mit einem Gesicht, als warte sie nur auf irgendetwas Erheiterndes, das sich aber nicht einstellen wollte, nicht an diesem Montagmorgen; und so legte die Kreativleitung das Mo-Bündel vorsichtig ab (Mo schlief mal wieder, die hats gut, dachte die Kreativleitung), beugte sich ihrerseits über die Beschwerde, las mit einem Seitenblick schnell noch ein seltsames belgisches Gequake über "Selbstentblößung" usw., gewann den Eindruck, daß die Gekränktheit der Assistentin vielleicht eher daher rühren könne, denn was war schon mit diesem verrückten Milchzaren aus Niedersachsen zu machen, das könnte doch durchaus einen heiteren Anruf geben, und so sagte sie in das betrübte Gesicht: die Menschen, welche sich härtere Einsichten zu ersparen pflegen, halten grundsätzlich die Einsichten der Mutigeren für eine Schwäche, jedenfalls dann, wenn sie sie bröckchenweise auch noch aussprechen, das darf uns aber nicht ernsthaft schwächen und nicht kränken, sie wissens nicht besser, bis sie selbst an ihre Grenzen kommen, lass uns lieber einen Kaffee trinken gehen, und sie zerrte ihre maulig bleibende Assistentin ins "Bistro," wo eine kleine Gruppe von Mehrheitlern und Minderheitlern dem Bericht von einem etwas übermütig wirkenden, an der Nase leicht sonnenverbrannten Sicherheitsbeauftragten lauschte, welcher versuchte, die Bewegungen jener künstlichen Strandtiere von der Nordseeküste nachzuahmen, wofür ihm freilich ein paar Gliedmaßen fehlten, die er durch Worte recht überzeugend zu ersetzen versuchte - da lachte die Assistentin wieder hell auf, und die Kreativleitung dachte, Gott sei Dank, und fragte sich nur, wie es dem üblicherweise Bemützten gelungen war, seine Nase zu verbrennen, er mußte wohl wenigstens im Wasser auf seine Mütze verzichtet haben, aber kann der denn schwimmen?
Sonntag, 17. August 2008
430.
Man ist etwas abgekommen von der Frage nach der scheiternden Männlichkeit, dachte der Oberassistent, als er am Sonntag schon einmal ins Büro ging und Unterlagen bewegte, um zu prüfen, ob die für die kommende Woche (Arbeitsbeginn ALLER EinSatzKräfte nach der Sommerpause) anstehenden Dinge irgendeine besondere Vorbereitung angeraten erscheinen ließen, und er wollte sich gerade innerlich aufplustern, als ihm ein Brief von einem jungen Freund der EinSatzLeitung in die Hände fiel, welcher sich dem Thema intensiv zuzuwenden schien, freilich nur um sich zu belustigen über das große Geschrei, das ihm neuerdings aus allen Medien entgegenschalle, indem er sagte, er finde auch, der Mann als solcher habe in den vergangenen Jahrtausenden dermaßen wenig Gelegenheit gehabt habe, sich einmal ins rechte Licht zu rücken, daß man nur laut und energisch fordern müsse: "Jetzt sind wir endlich mal an der Reihe," und es hatte, wenn sich der zunächst in mauliger Empörungsbereitschaft nachgerade aufspringende Oberassistent ehrlich erinnerte, nicht den Anschein, als sage dieser junge Mann so etwas, um sich bei irgendwelchen Damen einzuschleimen, denn bei diesen schien ihm durchaus auch ohne dergleichen Verrenkungen ein angemessener Erfolg beschieden zu sein, was also mochte ihn bewegen, so von der Fahne zu fallen, die einige Leute so mühselig zu hissen versuchten, und über all diesen schwerwiegenden Grübeleien vergaß der Oberassistent fast, wie gut es ihm getan hatte, im fernen Istanbul sich durch die verschiedenen Varianten von Kichererbsenpasten, Baklawa und anderen Köstlichkeiten zu futtern, auf das goldene Wasser und seine Brücken zu schauen und die Welt, wie sie im übrigen toben und springen mochte, zu vergessen.
Samstag, 16. August 2008
429.
An einer Autobahnraststätte hinter Duisburg zerstritten sich der Sicherheitsbeauftragte und sein alter Kumpel so heftig (der Kumpel hatte durch hartherzige und wüste Reden schon länger genervt, den Bogen aber endgültig überspannt, als er Karomütze bei 180 den Rauch einer Haschischzigarette um die Nase blies), daß sie beschlossen, die Reise getrennt fortzusetzen: der Sicherheitsbeauftragte fuhr den früheren Kollegen in nunmehr stets maßvollem Tempo noch zu anderen Kumpels nach Amsterdam und suchte dort vor der Weiterreise zur Nordsee den (von ihm etwas scheu bewunderten) Kwaliteitswart auf, welcher gleichsam "auf Heimaturlaub" ein altes Hausboot in einer der Grachten bewohnte und sich mit Besuchen von Bekannten und Verwandten unterhielt, hierbei die Unterbrechung durch den Besuch des jungen Mannes aus der EinSatzLeitung durchaus als pläsierlich begrüßend, und er riet ihm, bei seiner Küstenreise nicht zu versäumen, die Strandbiester von Theo Jansen zu besichtigen, welche ihm möglicherweise einen bedeutenden Eindruck machen würden, zumal der Künstler seine vollkommen sinnlosen Objekte durchaus mit der angemessenen holländischen Wichtigkeit und Trockenheit als etwas sehr Bedeutendes zu präsentieren wisse.
Freitag, 15. August 2008
428.
Der Urlaub der Assistentin K, eine Gruppenreise mit Fahrrädern durch eine der schöneren Provinzen des Pariser Reiches, hätte durchaus noch länger dauern sollen, daß sie schon wieder am Platze saß, war nur einem empörenden Mißgeschick geschuldet, einem Fahrradsturz, bei dem ihr das Fahrrad zerstört und ein Arm gebrochen war, vom Riß im Rucksack zu schweigen (dies freilich hatte sie besonders getroffen, denn ein Lieblingsflacon, auf dessen Begleitung sie nicht hatte verzichten wollen, war dabei auch noch kaputtgegangen), und so war sie verdrossen schon nach drei Tagen nachhause zurückgekehrt, hatte ein wenig geübt, den Gipsarm im Alltag zu schonen und trotzdem durch die Tage zu kommen, und sich schließlich für wieder arbeitsfähig befunden - freilich kamen ihr, als sie so allein im K Büro saß und alle möglichen Manuskripte mit zweifelhaften Annotationen versah (Orgel statt Klavier, das konnte sie doch selbst nicht glauben!), merkwürdige Gedanken über dies und das, was schief gegangen war in jüngster Zeit, sie mußte sich einen kleinen Groll eingestehen, welchen sie gegen die ehemalige Assistentin Ö hegte, da diese befördert worden war, während ihre Aussichten auf eine Beförderung ausgesprochen gering zu sein schienen, es war ja nur ein Kreativleitungssessel da, und der war gut besetzt, im Grunde war sie auch hochzufrieden mit ihrer Arbeit, kam gut mit ihrer Vorgesetzten aus, wohin hätte es also gehen sollen, und dennoch dachte sie, auch ihr stünde mal etwas wie eine leitende Funktion zu, man müsse doch wohl nicht unbedingt in ewiger Assistenz stehenbleiben oder gar schrumpfen wie der Klitzekleine, und sie erwog, woanders nach einer solchen Position Ausschau zu halten - dann allerdings fiel ihr Blick wieder auf den Wandteppich, blieb im Ö-Gebiet hängen und sie fragte sich, ob man nicht mit der Dame Ö gemeinsam etwas erdenken könne, das den Teppich insgesamt noch ein wenig schöner machen könne, oder etwas, das ihn ergänzen würde um einen neuen, eigenen Bodenteppich, oder ob man vielleicht einen Garderobenständer daneben aufbauen könne, mit Platz für die neuesten Kreationen der Dame Ö (und sie kicherte bei der Erinnerung an ein erstaunliches Kleid von etwas plumper Eleganz, das an der Dame Ö ausgesehen hatte wie eine um sie gewickelte Autokarosserie aus kostbarster Seide, dabei die Würde der Dame dennoch seltsam unterstreichend), aber sehr viel weiter kam sie einstweilen nicht, und so wandte sie sich für diesmal seufzend und ein wenig ermüdet wieder ihren Redaktionsarbeiten zu, die schließlich auch gemacht werden mußten.
Donnerstag, 14. August 2008
427.
"Da haben wir den Salat," sagte die Chefin genervt zum Demokratiebeauftragten, "man kommt zurück und prompt ist ein falsch datiertes falsch numeriertes viel zu langes Stück auf dem Tisch, und wenn man nachschaut, fehlt auch noch die Referenzstelle in der Vorabpublikation der ersten Lieferung, und da soll man sich mit den Krisenherden der Welt befassen, wie finden Sie das?"
426.B
Mo saß auf ihrem Fell und sah aus wie ein gerupfter Vogel, federlos, grau, neben sich Zettel und Stift, unberührt, träge. Umso kühner schwang sich in ihrer Phantasie der erzählende Kranich durch die Lüfte. Er überflog alle Niederungen und alle Höhen, und wenn er angerauscht kam, erzählte er wundersame Dinge.
Aber Mo blieb reglos auf ihrem Fell sitzen, sie konnte nicht niederschreiben, was der Kranich alles gesehen haben würde, wenn er wieder käme, er war etwas zu weit weg.
Entmutigt legte Mo sich nieder, zog den Schal über ihren Kopf und schlief ein.
Im Traum wiederholte sich die Zeit ihrer Gefangenschaft. Wieder spielte der Wärter neben ihrem Käfig Klavier [lass uns vielleicht lieber Orgel schreiben, Vorschlag Assistentin K]. Wieder behauptete er, er wolle doch nur wirklich geliebt werden. Jämmerliche Szenen spielten sich ab. Bis zum Stiefel auf ihrem Hals. Mo durchlebte diese Szenen aber kaum noch, es hatte sich erledigt. In ihrem Traum geschah etwas anderes. Der Wärter verwandelte sich in einen anderen, wurde ein großer Mann, der ihr liebenswert erschien, und sie liebte ihn tatsächlich. Nur hatte sie die Idee, daß sie auch einmal weggehen könne, um dann wieder zu kommen. Im Traum konnte sie die Käfigtür öffnen. Dieser Wärter saß auch nicht draußen, und er kam nicht nur herein, um ihr den Stiefel auf den Hals zu stellen, nein, er saß mit ihr drinnen, hielt sie oft fest umfaßt und fühlte sich dabei weich an. Na, nicht nur weich. Nun sah er erstaunt von seinem Buch auf, als sie zur Käfigtür ging und prüfend die Hand auf den Türgriff legte, sich umschauend, was der Mann dazu sagen würde. Der Mann sagte, ja, tu das nur, und er sagte auch: du solltest selbstbewußter sein. Mo lachte im Traum, denn sie war nun wieder wie vor ihrer Käfigzeit - eine mutige, richtig große Frau.
So geht das ja in Träumen.
Sie setzte sich neben den Mann und bestaunte den kleinen Fleck, der ihr eben noch genügt – aber was heißt hier genügt – hatte, da sie ein Käfigtier gewesen war. Der Mann hatte unmittelbar neben dem Fleck Platz genommen. Die große Mo sagte, wenn einer sich mit seinem großen dicken Ego auf mich setzt und mir sagt, sei selbstbewußt, wie soll ich das bitte machen? Der Mann sagte, das kannst du doch. Hier stehst du doch. Und so gefällst du mir auch viel besser. Ich brauche dich selbstbewußt, sonst schmeckst du mir nicht, ich will dich aber essen. Und wenn du mich liebst, dann läßt du dich essen und verstehst, daß es zur Liebe gehört. Man kann nicht lieben und gleichzeitig groß und stark sein wollen, verstehst du das nicht? Liebe ist langmütig und geduldig, demütig und still. Liebe macht sich klein und ist darauf stolz.
Mo staunte diesen Mann an: was der sich traute!
Natürlich versuchte sie, stark zu bleiben, sie verstand doch alles so gut. Sie verstand es sogar besser als er, und darum wußte sie, daß sie ihn liebte, wenn sie diesem absurden Ansinnen standhielt, sich widersetzend, ohne ihn aufzugeben. Sie wußte, wofür sie stark, sogar sehr stark, besonders stark sein mußte: Für eben jene Augenblicke wonnevoller Hingabe, die er so besonders fein zu beschwören und zu bereiten verstand. Denn sie mußte ja aus ihnen wieder hervorgehen als ein Mensch, der genügend von sich in der Hand hat, um es abermals zu verschenken.
Der Mann verstand ungewöhnlich viel, dieses aber verstand er gar nicht, und er verwechselte ihr Starkseinmüssen in den anderen Zeiten mit Lieblosigkeit. Ach ja, sagte sie, klar. Der erste Wärter wollte geliebt werden, aber ich liebte ihn nicht, und er wollte es auf alle Weisen erzwingen, auch ich selbst wollte es erzwingen, da doch alles so „richtig“ zu sein schien, bis sich erwies, wie wenig richtig es war. Zwei Eheleute Seit an Seit, harhar.
Diesen liebe ich ganz von mir aus, aber er merkt es nicht, weil ich mich ja nicht fressen lasse, und nur wenn ich mich fressen ließe, behauptet er, würde ich ihn lieben.
Mo war immer wieder erstaunt. Der Mann war so anhänglich, und zugleich so gefährlich. Der Mann war drollig, was für Ideen der hatte!
Sie verstand aber nicht, daß er es wirklich so meinte.
Immer wieder kam sie in den Käfig, denn sie fand den Mann in diesem Käfig sehr süß. Aber immer wieder mußte sie auch fliehen, denn er wollte sie wirklich fressen, biß täglich ein bißchen ab, und in ihren Versuchen, sich zu wehren, machte sie alles schlimmer: kannte sich selbst nicht mehr, manchmal, piekte hier und da in den Mann, was eigentlich nicht ihre Art war, piekte ihn jedenfalls im Traum, aber wenn sie es nicht tat, dann biß er, ebenfalls im Traum, einfach immer ein Stück mehr von ihr ab.
Das geht ja so im Traum.
Mo mußte also im Traum immer wieder aus dem Käfig gehen, manchmal vertrieb der Mann sie auch, wenn sie wieder gepiekt hatte, seiner Meinung nach. Da schwirrte sie dann verloren in ein einsames altes Nest, das sie woanders noch hatte. Sie kehrte aber immer wieder zu dem Mann zurück. Irgendwann wollte sie es so nicht mehr, in der Wirklichkeit nicht, und auch nicht im Traum. Sie fragte dann – auch im Traum – noch einmal bei ihm nach: findest du nicht, daß du deine Rede von der langmütigen Liebe allenfalls stützen kannst, indem du selbst langmütig liebst? Wenn Liebe demütig ist, warum sagst du mir dann, daß ich demütiger sein muß, während du selbst alles andere als demütig bist?
Der Mann sah sie an, schüttelte den Kopf, hoffnungslos: du bist ein hoffnungsloser Fall, sagte er. Du kannst niemandes Jünger sein, was soll so aus dir werden?
Weil sie nichts zu sagen wußte auf dergleichen, sagte sie alles mögliche. Denn einfacher Widerspruch galt ja einfach nichts vor diesem Mann.
Wenn sie ihrer Freundin so etwas erzählte, fasste die es nicht.
So etwas gibt es doch nicht. Was liebst du denn da?
Ja, was liebe ich da, fragte sich Mo. Ich liebe ihn eben, das ist die Sache. Er gefällt mir so wie er ist.
Ist natürlich so nicht zu machen, ist nicht zu halten, das weiß ich ja, sagte sie leichthin, ganz modernes Mädchen, aber es gibt diese Augenblicke, in denen es geht und gut ist, und die sind eben so schön. Die Freundin wunderte sich und verstand nicht und wollte doch ihrer Freundin nichts Böses.
Mo wußte nicht, was sie machen sollte.
Lange kämpfte sie darum, die Augenblicke haben zu dürfen, in denen wahr war, was der Mann Ungeheuerliches gesagt hatte, ohne dann gleich gefressen zu werden. Sie kämpfte vergebens, sie tat es trotzdem, sie konnte die Hoffnung nicht aufgeben, bis sie es mußte und unterwegs erheblichen Schaden anrichtete, aber überlebte, selbst freilich sehr gerupft.
Das konnte niemand verstehen, nichts davon. Die einen kannten solche Augenblicke nicht und glaubten, man könne die Liebe nach Plan machen, partnerschaftlich und so, in Wahrheit alles Lüge, dachte Mo, weil es das Wichtigste vergißt. Wenn das da ist, dann kann man auch partnerschaftlich sein, wenn es nicht da ist, ist alles umsonst und nur ein blödes Programm. Kitsch, mit anderen Worten. Die anderen kannten die Augenblicke oder sowas ähnliches und fanden, dann müsse man eben den Preis zahlen. Auch das war entschieden Unsinn. Ganz technisch: Man kann nur einen Preis zahlen, wenn man etwas hat, hat man nichts, dann wird man auch nichts zahlen können, und die ganze Freßsache ist darauf angelegt, daß man nichts hat. Also gab Mo diese ganzen Liebessachen auf. Mit Schmerzen, mit großen Schmerzen.
Manchmal wollte jemand sagen, he, mach doch mal wieder, Männer sind so nett, wenn man zu ihnen nett ist, sei modern, sei partnerschaftlich, nicht jeder ist so und so, du bist so männerfeindlich, du bist tot, weil du keine Beziehungen eingehst, und Mo sagte, ja, ich bin dann wohl tot.
Das alles führte dazu, daß Mo sich gar nicht mehr verständlich machen konnte: Die Wahrheit lag nun da, wo sie nicht zu retten war, in einem Käfig. Und Mo wurde dafür Stückchen für Stückchen aufgefressen, nun nicht mehr von einem allein, sondern von jedem, der darüber zu kam: Um einen Käfig, in dem sie allein saß, hockten und standen und bummelten die immerselben Leute. Sie sagten immer dasselbe, die einen so, die anderen so, und nichts paßte auf ihre Lage. Du mußt dich ändern, sagten ihr die Leute, so wie du bist, kann dir keiner helfen. Du willst zu viel. Zu viel, fragte sie erstaunt, warum soll das denn zu viel sein? Für lange war die Käfigtür zugefallen, sie war drinnen, für jeden sichtbar, und alle konnten gehen, nur sie nicht. Wann immer sie etwas von sich herausstreckte, als ersten Versuch, herauszukommen, wurde es gleich abgebissen, gekaut, verdaut und ihr vor die Käfigtür zurückgeschissen, daß es stank.
Nach langer Zeit fiel die Käfigtür zu, als Mo draußen war. Aber kaum war sie draußen, wurde sie auch schon wieder eingefangen und in einen anderen Käfig getan.
Als sie so weit gekommen war, wiederholte der Traum nun die Geschichte, aus der sie entkommen war, als sie bei der Kreativleitung gelandet war. Ein kleines rettendes Ländchen, das zwar auch nicht sicher war vor Übergriffen aller Art, aber doch ein wenig besser vor unmittelbarer Gewalt zu schützen schien. Man konnte in den Schlaf fliehen. Der Traum wollte nun wieder von vorn beginnen, mit den Essensschalen, die gefüllt waren mit Erbsen, durchmischt mit Federn und Unrat. Aber für diesmal war er erschöpft, ja, der Traum hatte sich erschöpft, und Mo hatte trotz allem ausgeschlafen.
Mo erwachte schwitzend, streckte sich und sah sich um. Kein Käfig. Kein Kranich. Keine Kreativleitung. Kein Honig mit Äpfeln. Sie besah sich selbst. Sie war klein und grau und ihr kleines Kleidchen hatte nicht mehr viele Federn. Ob sie wieder welche bekommen würde? Ob man ohne Federn leben könnte, wenn man nur in der EinSatzLeitung bleiben dürfe? Sie sah sich wieder im Raum um. Sie war ja gar nicht in der EinSatzLeitung, sie war ja mit der Kreativleitung weggefahren, zu einer Hängematte, die an rätselhaft festen Punkten der Welt aufgehängt war, (uffjehangen, sagt der Berliner, dachte sie, und kicherte). Da hing auch noch die Hängematte. Und hier war ihr Fell, am festen Boden. Sonst nichts Bekanntes im Raum, dessen Tür geschlossen war, aber immerhin ein Glasfenster hatte, ein Milchglasfenster.
Sie wurde etwas panisch. Kein Wärter? Nein, nirgends ein Wärter. Immerhin. Und es sah auch so aus, als wäre die Kreativleitung nur kurz aus dem Raum gegangen, vielleicht hatte sie die Tür offengelassen, dachte Mo, vielleicht war die Tür nur durch einen Luftzug zugefallen, vielleicht war Mo nicht eingesperrt. Vielleicht war Mo – die Tür wurde geöffnet, die Kreativleitung trat ein, in der Hand einen Teller mit Apfelstückchen, einer Waffel und sehr viel Honig. Alles war gut. Alles schien gut zu sein, wenn man einmal davon absah, daß sie, Mo, klein und grau war, ohne einen Körper wie sie ihn früher gehabt hatte, ohne einen Körper, der ihr auch nur das Öffnen der Tür erlaubt hätte, so klein war sie geworden, und auch ohne die Federn, die ihr später gewachsen waren, zum Schutz ihres allzu verfrorenen kleinen Körpers vor der allgegenwärtigen Kälte und zum leichteren Fluge, und daß sie also...Sie knickte ein. Sie zog sich den Schal fester um die Schultern. Sie lächelte glücklich, als sie einschlief. Wer weiß wovon sie diesmal träumt, dachte die Kreativleitung, es scheint aber ein schönerer Traum zu sein, und sie stellte den Teller auf das winzige Höckerchen, das sie neben Mos Fell aufgebaut hatte. Sie machte sich an ihrem eigenen Manuskript zu schaffen, in dem doch etwas vom erzählenden Kranich berichtet werden sollte.
Aber es fehlte ihr eine von Mo gekritzelte Vorlage.
„Dafür kam ein Großpeitscher,“ schrieb sie, eine Schlachtszene beschreibend, welche der erzählende Kranich von oben gesehen haben könnte, „und fand, wenn es sich so verhalte, müsse man Mo auch noch die EinSatzLeitung wegnehmen, dann werde sie endlich bekennen. Bloß was soll sie bekennen, würde der Kranich jemanden fragen hören. Ist uns doch egal, würde der Großpeitscher einer Meute antworten, die nur allzu willig auf ihn hörte. Ein Mo, das eine Passionsblume bestaunen kann, ist böse, würde er sagen. Es muß einsehen, daß diese Blume nicht die Blume ist, sondern für etwas anderes steht, für eine große Sache. Es muß unsere große Sache akzeptieren, dann darf es leben. Wir müssen ihm in seinem eigenen Interesse abzwingen, unsere große Sache zu seiner eigenen zu machen.
Ja, brüllte die Meute. Jaja, so wollen wir es machen. Per aspera ad...“
Ist doch alles Mist, dachte sie, alle diese Sprüche, die man ihnen nun also im Gegenzug vor ihre Käfigtüren schmiert – aber so könnte es in manchen Niederungen wohl zugegangen sein.
Aber Mo blieb reglos auf ihrem Fell sitzen, sie konnte nicht niederschreiben, was der Kranich alles gesehen haben würde, wenn er wieder käme, er war etwas zu weit weg.
Entmutigt legte Mo sich nieder, zog den Schal über ihren Kopf und schlief ein.
Im Traum wiederholte sich die Zeit ihrer Gefangenschaft. Wieder spielte der Wärter neben ihrem Käfig Klavier [lass uns vielleicht lieber Orgel schreiben, Vorschlag Assistentin K]. Wieder behauptete er, er wolle doch nur wirklich geliebt werden. Jämmerliche Szenen spielten sich ab. Bis zum Stiefel auf ihrem Hals. Mo durchlebte diese Szenen aber kaum noch, es hatte sich erledigt. In ihrem Traum geschah etwas anderes. Der Wärter verwandelte sich in einen anderen, wurde ein großer Mann, der ihr liebenswert erschien, und sie liebte ihn tatsächlich. Nur hatte sie die Idee, daß sie auch einmal weggehen könne, um dann wieder zu kommen. Im Traum konnte sie die Käfigtür öffnen. Dieser Wärter saß auch nicht draußen, und er kam nicht nur herein, um ihr den Stiefel auf den Hals zu stellen, nein, er saß mit ihr drinnen, hielt sie oft fest umfaßt und fühlte sich dabei weich an. Na, nicht nur weich. Nun sah er erstaunt von seinem Buch auf, als sie zur Käfigtür ging und prüfend die Hand auf den Türgriff legte, sich umschauend, was der Mann dazu sagen würde. Der Mann sagte, ja, tu das nur, und er sagte auch: du solltest selbstbewußter sein. Mo lachte im Traum, denn sie war nun wieder wie vor ihrer Käfigzeit - eine mutige, richtig große Frau.
So geht das ja in Träumen.
Sie setzte sich neben den Mann und bestaunte den kleinen Fleck, der ihr eben noch genügt – aber was heißt hier genügt – hatte, da sie ein Käfigtier gewesen war. Der Mann hatte unmittelbar neben dem Fleck Platz genommen. Die große Mo sagte, wenn einer sich mit seinem großen dicken Ego auf mich setzt und mir sagt, sei selbstbewußt, wie soll ich das bitte machen? Der Mann sagte, das kannst du doch. Hier stehst du doch. Und so gefällst du mir auch viel besser. Ich brauche dich selbstbewußt, sonst schmeckst du mir nicht, ich will dich aber essen. Und wenn du mich liebst, dann läßt du dich essen und verstehst, daß es zur Liebe gehört. Man kann nicht lieben und gleichzeitig groß und stark sein wollen, verstehst du das nicht? Liebe ist langmütig und geduldig, demütig und still. Liebe macht sich klein und ist darauf stolz.
Mo staunte diesen Mann an: was der sich traute!
Natürlich versuchte sie, stark zu bleiben, sie verstand doch alles so gut. Sie verstand es sogar besser als er, und darum wußte sie, daß sie ihn liebte, wenn sie diesem absurden Ansinnen standhielt, sich widersetzend, ohne ihn aufzugeben. Sie wußte, wofür sie stark, sogar sehr stark, besonders stark sein mußte: Für eben jene Augenblicke wonnevoller Hingabe, die er so besonders fein zu beschwören und zu bereiten verstand. Denn sie mußte ja aus ihnen wieder hervorgehen als ein Mensch, der genügend von sich in der Hand hat, um es abermals zu verschenken.
Der Mann verstand ungewöhnlich viel, dieses aber verstand er gar nicht, und er verwechselte ihr Starkseinmüssen in den anderen Zeiten mit Lieblosigkeit. Ach ja, sagte sie, klar. Der erste Wärter wollte geliebt werden, aber ich liebte ihn nicht, und er wollte es auf alle Weisen erzwingen, auch ich selbst wollte es erzwingen, da doch alles so „richtig“ zu sein schien, bis sich erwies, wie wenig richtig es war. Zwei Eheleute Seit an Seit, harhar.
Diesen liebe ich ganz von mir aus, aber er merkt es nicht, weil ich mich ja nicht fressen lasse, und nur wenn ich mich fressen ließe, behauptet er, würde ich ihn lieben.
Mo war immer wieder erstaunt. Der Mann war so anhänglich, und zugleich so gefährlich. Der Mann war drollig, was für Ideen der hatte!
Sie verstand aber nicht, daß er es wirklich so meinte.
Immer wieder kam sie in den Käfig, denn sie fand den Mann in diesem Käfig sehr süß. Aber immer wieder mußte sie auch fliehen, denn er wollte sie wirklich fressen, biß täglich ein bißchen ab, und in ihren Versuchen, sich zu wehren, machte sie alles schlimmer: kannte sich selbst nicht mehr, manchmal, piekte hier und da in den Mann, was eigentlich nicht ihre Art war, piekte ihn jedenfalls im Traum, aber wenn sie es nicht tat, dann biß er, ebenfalls im Traum, einfach immer ein Stück mehr von ihr ab.
Das geht ja so im Traum.
Mo mußte also im Traum immer wieder aus dem Käfig gehen, manchmal vertrieb der Mann sie auch, wenn sie wieder gepiekt hatte, seiner Meinung nach. Da schwirrte sie dann verloren in ein einsames altes Nest, das sie woanders noch hatte. Sie kehrte aber immer wieder zu dem Mann zurück. Irgendwann wollte sie es so nicht mehr, in der Wirklichkeit nicht, und auch nicht im Traum. Sie fragte dann – auch im Traum – noch einmal bei ihm nach: findest du nicht, daß du deine Rede von der langmütigen Liebe allenfalls stützen kannst, indem du selbst langmütig liebst? Wenn Liebe demütig ist, warum sagst du mir dann, daß ich demütiger sein muß, während du selbst alles andere als demütig bist?
Der Mann sah sie an, schüttelte den Kopf, hoffnungslos: du bist ein hoffnungsloser Fall, sagte er. Du kannst niemandes Jünger sein, was soll so aus dir werden?
Weil sie nichts zu sagen wußte auf dergleichen, sagte sie alles mögliche. Denn einfacher Widerspruch galt ja einfach nichts vor diesem Mann.
Wenn sie ihrer Freundin so etwas erzählte, fasste die es nicht.
So etwas gibt es doch nicht. Was liebst du denn da?
Ja, was liebe ich da, fragte sich Mo. Ich liebe ihn eben, das ist die Sache. Er gefällt mir so wie er ist.
Ist natürlich so nicht zu machen, ist nicht zu halten, das weiß ich ja, sagte sie leichthin, ganz modernes Mädchen, aber es gibt diese Augenblicke, in denen es geht und gut ist, und die sind eben so schön. Die Freundin wunderte sich und verstand nicht und wollte doch ihrer Freundin nichts Böses.
Mo wußte nicht, was sie machen sollte.
Lange kämpfte sie darum, die Augenblicke haben zu dürfen, in denen wahr war, was der Mann Ungeheuerliches gesagt hatte, ohne dann gleich gefressen zu werden. Sie kämpfte vergebens, sie tat es trotzdem, sie konnte die Hoffnung nicht aufgeben, bis sie es mußte und unterwegs erheblichen Schaden anrichtete, aber überlebte, selbst freilich sehr gerupft.
Das konnte niemand verstehen, nichts davon. Die einen kannten solche Augenblicke nicht und glaubten, man könne die Liebe nach Plan machen, partnerschaftlich und so, in Wahrheit alles Lüge, dachte Mo, weil es das Wichtigste vergißt. Wenn das da ist, dann kann man auch partnerschaftlich sein, wenn es nicht da ist, ist alles umsonst und nur ein blödes Programm. Kitsch, mit anderen Worten. Die anderen kannten die Augenblicke oder sowas ähnliches und fanden, dann müsse man eben den Preis zahlen. Auch das war entschieden Unsinn. Ganz technisch: Man kann nur einen Preis zahlen, wenn man etwas hat, hat man nichts, dann wird man auch nichts zahlen können, und die ganze Freßsache ist darauf angelegt, daß man nichts hat. Also gab Mo diese ganzen Liebessachen auf. Mit Schmerzen, mit großen Schmerzen.
Manchmal wollte jemand sagen, he, mach doch mal wieder, Männer sind so nett, wenn man zu ihnen nett ist, sei modern, sei partnerschaftlich, nicht jeder ist so und so, du bist so männerfeindlich, du bist tot, weil du keine Beziehungen eingehst, und Mo sagte, ja, ich bin dann wohl tot.
Das alles führte dazu, daß Mo sich gar nicht mehr verständlich machen konnte: Die Wahrheit lag nun da, wo sie nicht zu retten war, in einem Käfig. Und Mo wurde dafür Stückchen für Stückchen aufgefressen, nun nicht mehr von einem allein, sondern von jedem, der darüber zu kam: Um einen Käfig, in dem sie allein saß, hockten und standen und bummelten die immerselben Leute. Sie sagten immer dasselbe, die einen so, die anderen so, und nichts paßte auf ihre Lage. Du mußt dich ändern, sagten ihr die Leute, so wie du bist, kann dir keiner helfen. Du willst zu viel. Zu viel, fragte sie erstaunt, warum soll das denn zu viel sein? Für lange war die Käfigtür zugefallen, sie war drinnen, für jeden sichtbar, und alle konnten gehen, nur sie nicht. Wann immer sie etwas von sich herausstreckte, als ersten Versuch, herauszukommen, wurde es gleich abgebissen, gekaut, verdaut und ihr vor die Käfigtür zurückgeschissen, daß es stank.
Nach langer Zeit fiel die Käfigtür zu, als Mo draußen war. Aber kaum war sie draußen, wurde sie auch schon wieder eingefangen und in einen anderen Käfig getan.
Als sie so weit gekommen war, wiederholte der Traum nun die Geschichte, aus der sie entkommen war, als sie bei der Kreativleitung gelandet war. Ein kleines rettendes Ländchen, das zwar auch nicht sicher war vor Übergriffen aller Art, aber doch ein wenig besser vor unmittelbarer Gewalt zu schützen schien. Man konnte in den Schlaf fliehen. Der Traum wollte nun wieder von vorn beginnen, mit den Essensschalen, die gefüllt waren mit Erbsen, durchmischt mit Federn und Unrat. Aber für diesmal war er erschöpft, ja, der Traum hatte sich erschöpft, und Mo hatte trotz allem ausgeschlafen.
Mo erwachte schwitzend, streckte sich und sah sich um. Kein Käfig. Kein Kranich. Keine Kreativleitung. Kein Honig mit Äpfeln. Sie besah sich selbst. Sie war klein und grau und ihr kleines Kleidchen hatte nicht mehr viele Federn. Ob sie wieder welche bekommen würde? Ob man ohne Federn leben könnte, wenn man nur in der EinSatzLeitung bleiben dürfe? Sie sah sich wieder im Raum um. Sie war ja gar nicht in der EinSatzLeitung, sie war ja mit der Kreativleitung weggefahren, zu einer Hängematte, die an rätselhaft festen Punkten der Welt aufgehängt war, (uffjehangen, sagt der Berliner, dachte sie, und kicherte). Da hing auch noch die Hängematte. Und hier war ihr Fell, am festen Boden. Sonst nichts Bekanntes im Raum, dessen Tür geschlossen war, aber immerhin ein Glasfenster hatte, ein Milchglasfenster.
Sie wurde etwas panisch. Kein Wärter? Nein, nirgends ein Wärter. Immerhin. Und es sah auch so aus, als wäre die Kreativleitung nur kurz aus dem Raum gegangen, vielleicht hatte sie die Tür offengelassen, dachte Mo, vielleicht war die Tür nur durch einen Luftzug zugefallen, vielleicht war Mo nicht eingesperrt. Vielleicht war Mo – die Tür wurde geöffnet, die Kreativleitung trat ein, in der Hand einen Teller mit Apfelstückchen, einer Waffel und sehr viel Honig. Alles war gut. Alles schien gut zu sein, wenn man einmal davon absah, daß sie, Mo, klein und grau war, ohne einen Körper wie sie ihn früher gehabt hatte, ohne einen Körper, der ihr auch nur das Öffnen der Tür erlaubt hätte, so klein war sie geworden, und auch ohne die Federn, die ihr später gewachsen waren, zum Schutz ihres allzu verfrorenen kleinen Körpers vor der allgegenwärtigen Kälte und zum leichteren Fluge, und daß sie also...Sie knickte ein. Sie zog sich den Schal fester um die Schultern. Sie lächelte glücklich, als sie einschlief. Wer weiß wovon sie diesmal träumt, dachte die Kreativleitung, es scheint aber ein schönerer Traum zu sein, und sie stellte den Teller auf das winzige Höckerchen, das sie neben Mos Fell aufgebaut hatte. Sie machte sich an ihrem eigenen Manuskript zu schaffen, in dem doch etwas vom erzählenden Kranich berichtet werden sollte.
Aber es fehlte ihr eine von Mo gekritzelte Vorlage.
„Dafür kam ein Großpeitscher,“ schrieb sie, eine Schlachtszene beschreibend, welche der erzählende Kranich von oben gesehen haben könnte, „und fand, wenn es sich so verhalte, müsse man Mo auch noch die EinSatzLeitung wegnehmen, dann werde sie endlich bekennen. Bloß was soll sie bekennen, würde der Kranich jemanden fragen hören. Ist uns doch egal, würde der Großpeitscher einer Meute antworten, die nur allzu willig auf ihn hörte. Ein Mo, das eine Passionsblume bestaunen kann, ist böse, würde er sagen. Es muß einsehen, daß diese Blume nicht die Blume ist, sondern für etwas anderes steht, für eine große Sache. Es muß unsere große Sache akzeptieren, dann darf es leben. Wir müssen ihm in seinem eigenen Interesse abzwingen, unsere große Sache zu seiner eigenen zu machen.
Ja, brüllte die Meute. Jaja, so wollen wir es machen. Per aspera ad...“
Ist doch alles Mist, dachte sie, alle diese Sprüche, die man ihnen nun also im Gegenzug vor ihre Käfigtüren schmiert – aber so könnte es in manchen Niederungen wohl zugegangen sein.
Mittwoch, 13. August 2008
426.
Die neue Leiterin der Abteilung Öffentlichkeit entspannte sich endlich ein wenig, als sie mit einem der EinSatzLeitung durchaus vorenthaltenen neuen Liebhaber, dem gegenüber sie so erstaunliche Wünsche entwickelte wie "ich will ein Kind von dir" und zwar genau von dir, also nicht einfach nur ein Kind, was in sich schon seltsam genug war für diese selbst noch etwas kindliche Person mit Ambitionen, sondern auch noch eines von genau diesem Mann, einen Wanderurlaub unternahm (ausgerechnet, aber er hatte es so gewünscht und sie schließlich auch zu einem einwöchigen Versuch überreden können, das mußte an der Gegend liegen, die hier nicht verraten werden kann, oder an irgendwelchen seiner Qualitäten, über die in der für den Bericht zuständigen Kreativabteilung nicht spekuliert werden wird), so daß sie stets gut geölt und dabei über die albernen Vorstellungen des Kwaliteitswarts, dem sie also attraktiv erschien, ohne daß er sie ernsthaft mögen wollte (so viel Erfahrung hat man schließlich auch mit 32, daß man das gerade noch hinkriegt, dachte sie) lächelnd (wenn das keine Basis für gute Zusammenarbeit ist, was dann?) und einen leichten Rucksack schleppend durch ein Gebirge spazierte, in angenehmen Hotels nächtigte (darauf hatte sie bestanden, denn was ist ein Urlaub mit einem neuen Liebhaber, wenn man keine Zeit für die sogenannten Intimitäten findet, weil man mit so und so vielen anderen in irgendeiner Berghütte campiert) und für den Augenblick, wenigstens für den Augenblick vergaß, darüber nachzudenken, wie es diesem neuen Mann an ihrer Seite überhaupt habe einfallen können, ernsthaft die Berghüttenlösung in Erwägung zu ziehen, was für Banausen doch die Männer sein können, dachte sie, ohne zu bemerken, daß dies ein Ausdruck war, der gar nicht in ihr sonst übliches Vokabular paßte.
Dienstag, 12. August 2008
425.
Der klitzekleine Forschungsminister war für vieles zu klein, unter anderem auch dafür, aus eigener Kraft eine Urlaubsreise zu unternehmen, und mit dem naseweisen Sinologen (der zwar behauptete, er pflege aus Prinzip nicht zu reisen, schon gar nicht jetzt, dann aber doch oft länger unterwegs war) herumzureisen, dazu hatte er auch keine Lust, mal einen Tag im Einkaufswagen herumgeschoben zu werden war ja schön, aber gleich eine Woche oder mehr, das wäre doch etwas zu weit gegangen für die brüchigen Nerven des Klitzekleinen, und so blieb er in der EinSatzLeitung, während alle anderen verreist oder in ihren Häuslichkeiten waren, schritt zwischen Papieren auf und ab, kletterte hierhin und dahin, nahm Nachrichten zur Kenntnis, kratzte ein wenig an den Pflanztöpfen herum, wenn er den Pflanzen mal wieder ein Tröpfchen Wasser in einem winzigen Kännchen brachte, öffnete die Post, um die verschiedenen Bewegungen des Überläufertums zu der einen oder anderen Seite in der einen oder anderen Schlacht zu verfolgen und die zugrundeliegenden Bewußtseinserweiterungen oder Mißverständnisse zu verstehen (dies betraf die EinSatzLeitung selbst ebenso wie die Gebiete, in denen sie aktiv war), studierte in alten Texten herum und verbiss sich schließlich in das Studium einer Geschichte der Gleichsetzungen von Großreichen und Menschenleibern, denn anläßlich der absurden und schrecklichen neueren Kämpfe in der Welt schien es an der Zeit zu sein, einmal eine Liste anzufertigen, in der aufgestellt würde, wo sich das Wörtlichnehmen der Körpermetaphorik für politische Gebilde (erstmals angeblich erfolgreich eingesetzt durch Menenius Agrippa im Gespräch mit den Plebejern Roms) in Kriegen entladen hatte, in welchen sinnlose Gewalt gegen Menschen und ihr Freiheitsstreben gerechtfertigt wurde mit Reichseinheitsbestrebungen und -ansprüchen, und er fragte sich, ob es nicht auch umgekehrt möglich sein sollte, ob man nicht eine schöne Metapher finden könne, die es irgendwelchen Reichen erlaube, ohne Angst vor Gesichtsverlust oder gar der Amputation ganzer Leibteile damit fertig zu werden, daß sie anstelle eines "Arms" plötzlich einen neuen Freund hätten, etwa die Belgier, dachte er (sich solcherart vom Kaukasus abwendend), warum sollen nicht die Wallonen eine kleine freie Republik Frankwallonien gründen, mit eigenen Institutionen, einem hochehrenwerten und vorbildlichen Schutz der in ihren Ländern dann zur Minderheit werdenden Flamen (auch hier kann man doch zum Guten wetteifern, wenn denn wettgeeifert werden muß), mit einem eigenen Institutionenapparat, schafft doch Arbeitsplätze für Häuptlinge, die sonst nie zum Zuge kommen und deswegen lieber nur mit großen Worten und Nationalitätenkrempel herumzündeln, warum, dachte er weiter, nicht wieder jedem Dompteur aus Leidenschaft seinen eigenen Tigerkäfig anlegen, und er merkte, wie ihn seine Erwägungen davontrugen, vor allem weil er sogleich nun wieder die Perspektive der potentiell dompteurisierten und mit dieser Rolle sicher auch nicht zufriedenen Tiger erwog, und schließlich sah er wieder einmal ein, daß er die Welt, so wie sie sich ihm heute zeigte, einfach nicht verstand, und er schaute also im Kalender nach, wann endlich wieder andere EinSatzKräfte zu erwarten waren, mit denen er seine Überlegungen hätte teilen und diskutieren können.
Montag, 11. August 2008
424.
Der Projektentwickler, als er an seinem karibischen Urlaubsorte, an welchem er mit seiner Schweizer Bekanntschaft weilte, las, was die Dame Ö (welche er in der Tat noch als seine Gattin anzusehen gewohnt war, mochte er auch von seinen Rechten keinen Gebrauch mehr machen wollen, er hielt sich doch über die Vorgänge in der EinSatzLeitung und also auch über alles, was seine dieser immer noch assoziierte Gattin betraf, auf dem Laufenden) im Verein mit der Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse so vor sich hin zu vermuten schien, brach in etwas wie ein leises Gelächter aus, fand alles typisch, war froh, entronnen zu sein, und dachte dann nicht ohne eine gewisse neue obzwar doppelbödige Gutmütigkeit, na gut, wenn sie so zufrieden ist, so soll sie doch, dann werden wir ihre haltlosen "Befürchtungen" noch ein wenig nähren und schauen, was sie mit ihrem kleinen Propaganda-Apparat und ihren literaturkundlichen Wildereien macht, wenn wir ihr so dies und das an den Verstand manipulieren und sie ein wenig beschäftigen, bevor sie in die definitive Langeweile ihrer Altersklasse und ihrer Gouvernantenhaftigkeit übergeht, ein interessantes Experiment wird das allemal, und dann werden wir ja sehen, wer hier hauptberuflich mit der Öffentlichkeit zu arbeiten versteht, und die EinSatzLeitung wird noch sehen, was sie ... und erst als er, sich ein Brötchen mit Butter und Honig bestreichend, so weit gekommen war in seinen nicht sehr müßiggängerischen Gedanken, fiel ihm wieder ein, daß er ja bei der EinSatzLeitung und ihrer neuen Chefin beschäftigt war und spätestens nach seiner Rückkehr mit den ihm neu nähergerückten Kollegen neue Projekte würde entwickeln oder sich eine neue Arbeit würde suchen müssen, und er wurde fast ein wenig zornig, als er den Teebeutel aus seiner Tasse fischte, denn das ihm selbst recht spaßig erscheinende Projekt, nun endlich einmal den modernen Mann unter eine Art Artenschutz zu stellen, für das er sicher den stets recht frustriert wirkenden Oberassistenten würde gewinnen können, wurde ihm bei solchem Lichte betrachtet etwas schal, wußte er doch, daß es in den Augen der Chefin (die jetzt vermutlich schon wieder angestrengt auf die neuen Krisenherde dieser Welt starrte und sehr humorfern sprach und dachte) keine Gnade finden würde, weshalb er plötzlich nicht mehr sicher war, ob er sich wirklich die Mühe machen wollte, für so etwas nun plötzlich abgeschmackt Aussehendes Verbündete zu suchen, und ganz in derartige Gedanken versunken gelang es ihm immerhin fast spielend, sein Entzücken am Anblick seiner Begleiterin, welche er nicht ohne Zärtlichkeit seine neue Bekannte zu nennen pflegte, nicht allzu offen zu zeigen, woran ihm wiederum gelegen war, denn solche jungen Frauen bilden sich doch gar zu leicht allzu viel ein, fand er, vor allem dann, wenn ihre Eroberung mehr gekostet hat als man eigentlich investieren wollte.
Sonntag, 10. August 2008
423.
Die Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse war etwas verdrossen, als sie las, was ihr alter Rangelgenosse mit den grünen Borsten sich so ausgedacht hatte, und in einem Gespräch mit der Dame Ö bemerkte sie, der Spinner verdiene ihre schlechte Laune eigentlich natürlich nicht, es gehe ihr jedoch dieses Gehampel auf die Nerven, in welchem die Themen Liebe und Dienst in jenem allerorten zitierten Zitat "Dienen lerne beizeiten das Weib..." durcheinandergeschmissen würden (die neuere Zeit lehre freilich, daß in der Tat jedenfalls ein Mann, wenn er das leiste, was bei Goethe "Dienst" heiße, dies nur zu Zwecken des ZurHerrschaftKommens tue, falls man das mal so trocken feststellen dürfe, ohne gleich wieder als "männerfeindlich" zu gelten, aber dadurch werde doch das, worum es im Familienleben solcher "Charaktere" wie sie vorbildlich für die Dorothea gewesen sein mochten, recht eigentlich gehe, nur verdunkelt), worauf die Dame Ö die ihr ohnehin nicht sonderlich sympathische Minderheitlerin unterbrach mit der Feststellung, dem Goethe müsse man allerdings zugute halten, daß er seiner Dorothea-Figur innerhalb des Rahmens, der ihm durch seine komische Zeit gesetzt war, immerhin eine nicht geringe Würde erlaube, und die Minderheitlerin giftete, wenn man davon absieht, daß es natürlich ohne die für diese Kultur hier ja wohl unerläßlichen "Herzensprüfungen" durch irgendeinen Geistlichen mal wieder nicht abgeht, und die Dame Ö sagte, sagen Sie mal, sind Sie eigentlich unglücklich in Ihrer Familie oder warum fechten diese Sachen Sie plötzlich so an, Sie können doch hier und heute Gott sei Dank jederzeit gehen, und wenn Ihnen danach ist, sollten Sie das auch tun, denn sie selbst fühlte sich wunderbar frei und leicht von allem diesem, die Kinder groß, der Mann von ihrer Seite freundlichst und gründlichst verabschiedet, mochte der das auch bisher kaum realisiert haben (und sie ahnte noch nicht, was er wirklich plante, um sich in seine sogenannten Rechte wieder einzusetzen), er konnte doch, so fand sie, wahrhaftig froh sein, so glimpflich davongekommen zu sein, und dann, sagte sie leichthin zu der jüngeren Minderheitlerin, da sie nun einmal Frauen brauchen, für sie findet sich doch immer was Nettes, sollen sie doch bitte zufrieden sein, wenn selbst ich, sagte die Dame Ö, die sich keine Illusionen über ihr künftiges Leben machen wollte, wenn selbst ich so zufrieden bin!
Samstag, 9. August 2008
422.
In der steinernen Falte eines rötlichen Gebirges hockte der Minderheitler mit den grünen Borsten, die Beine unter sich versammelt, und starrte sinnend in einen See, auf dessen Oberfläche eine Seeanemone sich geöffnet hatte, und es schien ihm, als würde dieses törichte Gewächs eine derjenigen Goethe-Balladen vor sich hin trällern, die ihm immer schon besonders abscheulich erschienen waren, aus Gründen, welche ihm wohl nur die Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse hätte erläutern können, diese aber dachte natürlich nicht daran, ihre Ferien in irgendwelchen Bergfalten zu verbringen, und ihre Erklärung für die Halluzination, in der ihm eine friedliche Seeanemone so dermaßen geschwätzig erscheinen konnte, daß sie "Hermann und Dorothea" zu tirilieren schien, konnte er sich auch gerade so noch selbst vorflözen - nur hätte es ihm vielleicht mehr Spaß gemacht, sie in einem trefflichen Gezänk mit der Minderheitlerin zu entwickeln und sich schließlich für diesmal gegen Goethe mit ihr zu verbünden, den er dann in anderen Zusammenhängen und mit einem anderen Werk freundwillig wieder an sich nehmen und ohne jedes Vertun gegen sie und ihre Liebe zum alles verzerrenden E.T.A. Hoffmann verteidigen würde, ach verdammte Seeanemone, dachte der Minderheitler mit den grünen Borsten sodann, entfaltete seinerseits seine Beine, versicherte sich, daß sie ihn noch trugen, und stolperte auf ihnen direkt in den See, wo er die Anemone schwatzen und das Wasser leise platschen ließ.
Freitag, 8. August 2008
421.
Es wäre wirklich nicht nötig gewesen, er hätte durchaus das Recht gehabt, für wenigstens zehn Tage auf alle Informationen aus den Gebieten seiner beruflichen Zuständigkeit zu verzichten, die Regel der Qualitätsprüfer gab das allemal her, aber der Kwaliteitswart konnte es seinerseits nicht lassen, immer mal wieder zu schielen, ob zum Beispiel die EinSatzLeitung es fertigbringe, auch in Ferienzeiten täglich einen EinSatz zu produzieren, und so sah er denn, daß man dort den Umweg über einen seiner Lieblingsschriftsteller genommen hatte (einen von denen, die nicht Philosoph, nicht Historiker, nicht Dichter, sondern von allem etwas waren, einer von denen, die man in nichts festlegen konnte und deren Witz sich doch so frisch weg las, als wäre er gestern geschrieben, einer, der nicht Fisch und nicht Fleisch, sondern eben so etwas wie ein Wasservogel war, der aus jeder Grille und schlechten Laune noch etwas hübsch Glitzerndes in die Wellen schlagen konnte, einer zum Schwärmen, kurzum, zumal da er lange schon tot und hinlänglich etabliert war und den Preis für seine schrägen Qualitäten im Leben entrichtet hatte), um besser zu verstehen, warum er selbst trotz aller Liebe zu seinem Heimatland dieses verlassen hatte, um sich im "architektonisch katastrophalen" Berlin anzusiedeln und dort nach dem Menschlichen zu suchen, welches sich - davon war er mehr und mehr überzeugt - gleichsam nur noch als ein Unkraut zwischen den Pflastersteinen aller symbolischen Ordnungen zeigen konnte, immer lästig, immer zäh, und manchmal zu erstaunlichen Blüten neigend, und der Kwaliteitswart schmunzelte, denn er fühlte sich ein wenig verstanden und durchaus geschätzt; auf die Idee, daß irgendwer in der EinSatzLeitung mit seinem höchsteigenen mageren Gesicht irgendetwas wie ein Träumen würde verbinden können, verfiel er freilich sicherheitshalber nicht, hierin womöglich doch behaftet mit einer Qualität, welche Heine an seinem holländischen Nachbarn so gar nicht mochte?
Donnerstag, 7. August 2008
420.
An einer anderen Stelle der Welt waren zwei feste Punkte, zwischen denen eine Hängematte hing, und in der Hängematte schaukelte sanft die Kreativleitung, das Mo, welches seine Lemurenaugen träumerisch geschlossen hatte, aber durch die Ohren anzeigte, wie wach es war, im Schoß, und las ein wenig, wenn sie nicht gerade von einem bestimmten Gesicht träumte, und immer wieder während der sehr erheiternden Lektüre kicherte sie ein wenig vor sich hin, schließlich sagte sie, ich muß es dir vorlesen, es ist zu lustig, da schreibt dieser Mensch, der gerade von etwas Revolutionärem in Frankreich gehört hat, doch tatsächlich: "Sogar den Holländer drückte ich an mein Herz... aber dieses indifferente Fettgesicht blieb kühl und ruhig, und ich glaube, wär ihm die Juliussonne in Person um den Hals gefallen, Mynheer würde nur in einen gelinden Schweiß, aber keineswegs in Flammen geraten sein; diese Nüchternheit inmitten einer allgemeinen Begeisterung ist empörend; wie die Spartaner ihre Kinder vor der Trunksucht bewahrten, indem sie ihnen als warnendes Beispiel einen berauschten Heloten zeigten, so sollten wir in unseren Erziehungsanstalten einen Holländer füttern, dessen sympathielose gehäbige Fischnatur den Kindern einen Abscheu vor der Nüchternheit einflößen möge;" usw., natürlich mit Punkten dazwischen, was sagst du dazu, Mo, sagte sie, und was würde wohl der Kwaliteitswart sagen, wenn er das läse, na, sagte Mo, ein Fettgesicht hat der jedenfalls nicht, und wie es mit seiner Nüchternheit bestellt ist, willst du das im Ernst... ach du mußt doch nicht immer alles so direkt übertragen, Mo, seit wann machst du denn sowas, murrte die Kreativleitung, ich kann diese Sachen lesen, ohne im geringsten an den Kwaliteiten des Kwaliteitswarts zu zweifeln, das könntest du dir doch wenigstens denken, und Mo maulte, denken, denken, noch in der Hängematte soll man denken!
Mittwoch, 6. August 2008
419.
Mit einem Seitenblick ins elektronische Aquarium der Eins-zu-Einsler, deren stupiditas ihn immer wieder entzückte, verabschiedete sich der ehemalige Chef von seinem behaglichen Heim, um mit seiner Gattin auf ein bekanntes und beliebtes Eiland zu reisen, nachdem die beiden sich bereits tags zuvor vom schweigsamen Herrn Y. verabschiedet hatten, welcher zu ihrer Überraschung seit einigen Tagen immer öfter sein Gästezimmer verlassen und sich rührig betätigt hatte, um schließlich mit noch nicht ganz geölter Stimme zu verkünden, daß er, anstatt während des lange geplanten Urlaubs seiner Gastgeber dero Pflanzen zu wässern (dazu hatten sie durchaus hilfreiche Nachbarn, mit denen ein wechselseitiges Gießen und Gießenlassen sich lange etabliert hatte), plante, in ein anderes Land an einem anderen Meere zu reisen, um dortselbst inkünftig als Mar Y. wieder sprechend in Erscheinung zu treten und sich heimisch zu machen, zu welchem Vorhaben die beiden älteren Herrschaften ihm herzlichst Glück und Segen und Wohlgelingen wünschten, wobei insbesondere die Gattin des ehemaligen Chefs bemerkte, daß sie ihn doch wohl ziemlich vermissen würde, erstaunlich im Grunde, meinte sie, bei sich natürlich, denn was hätte dazu wohl der ehemalige Herr Chef gesagt.
Dienstag, 5. August 2008
418.
Ausschließlich für Beschwerden von Trottellummen, Baßtölpeln und mauligen Seehunden hatte der Sicherheitsbeauftragte in diesen Tagen offene Ohren, welche er nicht einmal durchgängig unter seiner Karomütze trug, nein, er zeigte dem Sommer etliches von seinem beachtlichen Haar, was er besonders genoß, da er mit einem alten Kumpel, einem über und über tätowierten und auch recht gründlich gepiercten Glatzkopf, den er aus gemeinsamen Zeiten bei der GSG 9 kannte, unterwegs war, die beiden gaben dem schwarzen Alfa Romeo viel Gelegenheit zu zeigen, was er könne, und sie hofften natürlich, daß dies auch vollumfänglich von bewundernden Mitmenschen und Mitmenschinnen gewürdigt würde - jedenfalls bis sie ihren Zielort erreicht hatten, an dem es dann nur noch um die etwas stillere Beschäftigung der Beobachtung der Tierwelt ging - denn auch harte Burschen und Ewigbesorgte haben solche Zeiten.
Montag, 4. August 2008
417.
Im Sommer gibt es natürlich nicht nur Sommerlöcher, nein, manche Menschen machen auch richtig Ferien, aber in den Ferien ereilt den einen oder anderen die eine oder andere Mitteilung, und an einem Tag reichte es der Chefin so sehr mit den Nachrichten aus der Welt, daß sie, während das Kind mittags schlief, den Demokratiebauftragten anrief und sagte, sie müsse sich doch überlegen, ob sie auch fürderhin vertreten könne, jemanden, der vormals ein obzwar stiller Theologe gewesen sei, nunmehr als Beauftragten ausgerechnet für Demokratie zu beschäftigen, ob er ihr auf diese völlig spontane und informelle Anfrage angesichts der Nachrichten aus religiösen Gebieten eine ferienkurze und halbwegs bündige (und möglichst nicht bündische) Antwort geben könne, und der Demokratiebeauftragte, der mit so etwas in Wahrheit schon lange gerechnet hatte und seinerseits sich von gewissen Bildern nicht befreien konnte, sagte, tatsächlich sind sie furchtbar, die Tugendwächter und Herzbegucker und Sitten-Einprügler vieler Gebiete, und man findet nicht viel, sie zu verteidigen, übrigens auch bei uns nicht, übrigens auch nicht für die Tugendwächter der rein säkularen Art, die uns vorschreiben wollen, wie wir ehrlich zu sein und wie zu lügen hätten, wo gesünder als gesund und wo opferbereit, wo wir mit Pragmatismus zu betrügen und wo mit Pragmatismus unkorrupt zu sein haben, wie uns zu verpaaren oder zu entpaaren, wie überhaupt zu fühlen und wie zu denken sei, wie wir das Glück lernen und wo wir gefälligst auf es zu verzichten haben usw., und wo einer von Gott redet, da hat das nur dann einen Sinn, wenn er unter diesem Namen einen Platz freihält, den wir nicht besetzen können und wollen, aber ich weiß natürlich, daß die meisten Leute sich auf irgendeinen Gott gerade berufen, um mit ihm möglichst alle Plätze zu besetzen, und weil ich mit diesen nicht so zurechtgekommen bin, habe ich mich ja schließlich mal der EinSatzLeitung assoziiert, aber wenn Ihnen das gefährlich erscheint...ich danke Ihnen, sagte die Chefin, sagte, sie gehe nun also weiter davon aus, daß auch er die Idee, Menschen mit Augenbinden, aber entblößt als Ohnmächtige vor laufender Kamera von einer Kontrolle in eine andere zu übergeben, als eine Schrecklichkeit ansehe, über deren spezielle Pragmatik man durchaus ernsthaft mit den Pragmatikern, die für grundsätzliche Bedenken noch zugänglich seien, noch reden müßte, und daß er über EinSätze zu so einem Thema werde sprechen müssen, wenn die Arbeitszeit wieder begonnen haben würde, beide wünschten einander schöne Ferien an ihren jeweiligen Plätzen, und hofften, für ein paar Tage wenigstens nicht zuständig zu sein, wenn sie schon nicht lassen konnten, wenigstens ein wenig zu sehen.
Sonntag, 3. August 2008
416.
Noch ein anderer befindet sich seit längerem nicht besonders wohl und verdient in seinem Sommerloch endlich eine Aufmerksamkeit: der neue Projektentwickler und ehemalige Leiter der Abteilung Öffentlichkeit, welcher sich noch nicht recht in seine neue Position gefunden und seine persönliche Version der Schweizreisen usw. noch lange nicht zum Besten Aller gegeben hat, also gut, sagen wir uns da, solange der Zettel an der Tür der EinSatzLeitung hängt, wird er Gelegenheit haben und hoffentlich auch ergreifen, sich zu allem zu äußern und die Dinge richtig zu stellen, die dessen bedürfen.
Samstag, 2. August 2008
415.
Der niedersächsiche Milchzar weilte gerade auf einem seiner neu erworbenen Güter im wahren Sachsen und wurde ein wenig obergärig, als er die Eloge, bestehend aus 1. und 2. (0. war ja nun nicht für seine Augen bestimmt gewesen) erhielt, denn, nun ja, zuerst war er ganz angetan, dachte, wie nett sie es doch gemacht haben, kurz und handlich, man kann es bestens in einem Buchklappentext unterbringen, und ja, es ist ja wie es ist, man ist eben ein Hüter seiner Güter, und was kann man machen, wenn sie einem gerade nur so zufliegen, man hat schließlich eine Leidenschaft für die Nutztierhaltung und alle Schollen, auf denen sie nur irgend stattfinden könnte,nicht wahr, aber dann begann etwas in ihm zu brodeln und zu köcheln, sobald ihm (mitten in der Nacht, er hatte bereits geschlafen und rumorte plötzlich darob in seinem Bette) klar wurde, daß mit keiner Silbe seiner Verdienste um Y. gedacht worden war, daß, mit anderen Worten, rein nichts unternommen worden war, um ihn genau dort, wo es ihm am wichtigsten war, in ein besonders rechtes Licht zu setzen, und auch die Sache mit der Scholle und den Damen, als ob er es nötig hätte, sich mit verheirateten Frigiden einzulassen, o nein, er redete freilich gern auch mit diesen und dies durchaus mit dem einem Menschen seiner Naturwärme eigenen Gebaren, aber das war doch etwas süffisant übermittlet worden, und dann die Geschichte mit der Rinderexpertin, natürlich, eine Große ihres Faches, aber was man über diese Dame noch erfahren konnte, du lieber Himmel, er schnaubte etwas, aber die Dame neben ihm, aufgestört aus ihrem Schlafe, doch immer noch in ihrem Schlummer verfangen, murmelte, ach was, er sei doch keine Frau, eine Frau, die das F-Wort benutze, die würde freilich sofort als eine Betroffene angesehen werden, und eine, die sich mit Autistinnen abgibt, als autistisch usw., aber ihm könne das doch egal sein, er stehe nun wirklich wartburghoch über allem diesem, indes, das tröstete den nur furioser werdenden keineswegs, er ereiferte sich stattdessen immer mehr, rannte schon im Zimmer auf und ab und sagte, nein, nein, für eine Eloge, also nein, da war wohl doch etwas schief gelaufen - am meisten aber wurmte ihn, daß die Y.-Sache auf diese Weise keineswegs aus der Welt war, dabei war doch gerade dessen Besitztum ihm sozusagen am leichtesten zugefallen, und er selbst war so besorgt gewesen um den guten Y., kurzum, es gor etwas in unserem Milchzaren X., das geeignet war, ihn aus dem Sommerloch hevor kochen zu lassen, und es kostete die Dame neben ihm einige Anstrengung und Mühe, ihn wieder zu sich zu ziehen und ihn immerhin dazu zu überreden, die Sache auf den anderen Tag zu verschieben.
Freitag, 1. August 2008
414.
Nach Auslieferung der Eloge (der Buchhalter hatte die Rechung schon geschrieben) heftete der Oberassistent einen kleinen Zettel an die Tür der EinSatzLeitung: Sommerloch, Müllablage an den Rändern verboten, die Versorgung der Bevölkerung mit MinimalEinSätzen wird nach Möglichkeit aufrechterhalten, Wiederaufnahme des regulären Betriebes am 10. August, und als er dieses vollbracht hatte, tranken alle im "Bistro" noch etwas Buttermilch, packten ihre Sachen und gingen ihrer Wege.
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