Sonntag, 15. Juni 2008

366.B

Es war ein Sonntag. Im arbeitsreichen Leben der Demokratiebeauftragten hatten diese gezählten Tage und ihre Austage über Jahre nicht viel bedeutet. Aber an diesem Wochenende hatte sie sich von Samstagmittag bis Sonntagmittag so etwas wie Freiheit von allen Gedanken über Jubiläen, über Aufträge, über Angelegenheiten von Verwaltung und Selbstverwaltung verordnet. Sie hatte sehr verschiedene Menschen gesehen, hatte bewirtet und sich bewirten lassen, hatte nachts die Spuren eines freundlichen Besuchs beseitigt, noch ein wenig an Lektüren genippt, ihr Kind begrüßt, als es nachhause kam, und war dann in einen tiefen, fast traumlosen Schlaf verfallen. Als sie nach vielen Stunden erwachte, schaute sie fast glücklich in den wie vom Sonnenlicht selbst bewegten Vorhang neben ihrem Bett. Sie erinnerte sich an Zeiten, in denen sie ganz glücklich und in Armen erwacht war - und sie erinnerte sich des Unglücks, durch das diese Zeiten unerbittlich ihrem Ende zugetrieben waren. Vielleicht hatte sie doch geträumt? Sie streckte sich, und jede lebendige Bewegung schien sie des glücklich gewonnenen Abstands zu jenen aufgewühlten Tagen zu vergewissern. Wie schön, sich zu strecken. Und welche grundstürzende Beunruhigung, damals. Es war still, nur wenige Geräusche drangen vom Hof mitten in der Stadt in ihr Zimmer. Welches Unrecht, dachte sie, ein langes, auf beiden Seiten. Und wie sinnlos es gewesen war, immer schon, darüber zu rechten. Wie sie es doch immer getan hatten, beide, bald der eine, bald die andere eifervoller im besinnungslosen Tun. Sie erinnerte sich, wie sie ein abscheuliches Verhalten an ihrem Gewissen vorbei gemogelt und sich zurecht geredet hatte. Sie erinnerte sich, wie wenig ihr ihre Einsicht vorher und nachher genützt hatte. Sie erinnerte sich, wie sie den, an dem sie nicht nur die Arme liebte, bewundert, gefürchtet und schließlich verletzt hatte. Sie erinnerte sich vieler Szenen, in denen sie die süßeste Überredung, derer sie, damals noch jung und durch eine gewisse Ansehnlichkeit unterstützt, fähig gewesen war, bemüht hatte, um von manchem Entlastung zu erwirken, das für sie in dieser Liebe schlimm und schwer gewesen war. Sie erinnerte sich, wie sie nach einem Exzess scheußlichen Verhaltens, mitten in allen inneren und äußeren Bedrängnissen und gegen den auch starken Impuls, sich zu rechtfertigen, für ihren Teil die Verantwortung übernommen und mehrfach und sehr ernst eine Verzeihung erbeten hatte. Wie traurig sie gewesen war, diese nicht zu bekommen. Und, sich noch einmal streckend und freudig das Sonnenlicht im Zimmer in sich aufnehmend, genoß sie den Augenblick der Ruhe. Ja, sagte sie sich (und einen strengen Zweifel im Kopf komplimentierte sie für den Augenblick ins Nebenzimmer) seltsam ist, wie frei man am Ende ist. Sie hatte angefangen, sich freier zu fühlen, als sie sich gesagt hatte, gut, vielleicht geht das eben nicht. Wie sie sich konsequent zurückgezogen hatte und ihre Restenergie auf anderes gewendet. Wie sie sich dann zuhause in Tagen und Nächten kummervollen Nachdenkens an dem Grundsatz festgehalten hatte: wenn einer nicht verzeihen will, dann ist das so. Dann bleibt es so. Und niemandem steht zu, ihn zu drängen. Sie hatte das immer so gesehen, wenn man sie hatte nötigen wollen. Sie sah es nun, da ihr nicht verziehen wurde, noch einmal ganz genau so, ja, es schien sich erst recht zu bestätigen. Damit waren der Kummer und der Verlust nicht verwunden, aber sie war jedenfalls mit sich in etwas, das ihr als ein „Reines“ erschien. Und erst, als nicht mehr übersehbar wurde, daß sich jemand allen Ernstes sehr heftig und wirksam zu rächen schien, geriet sie zunächst in äußere und dann auch in innere Nöte. Nicht so sehr, weil sie gedacht hätte, diese Rache wäre berechtigt gewesen. Verständlich mochte sie in Grenzen sein. Aber Rache ist nie berechtigt, dessen war sie sicher, auch wenn sie es zeitweilig sich vorsagen mußte, womöglich laut: Rache ist nie berechtigt, das hatte sie manchal, bevor sie ins Büro ging, vor sich hin deklamieren müssen, sie war es nicht, hatte sie sich gesagt, als ich Rache übte, und sie ist es auch nicht, wenn jemand sich an mir rächt. Rache ist immer nur dumm. Hätte man nun nicht denken sollen, mit diesem Grundsatz würde sie in Ruhe alles überstehen? Dieses hatten die philosophischen Lehrer ihrer Jugend in ihrer süßen Vernünftigkeit ihr wohl versucht zu vermitteln. Jetzt mußte sie darüber lachen, oder, wenn es besser ging, lächeln.
Denn ganz etwas anderes geschah: Die Verantwortung, die ihr zugewachsen war, als sie selbst um Verzeihung gebeten hatte, die wurde ihr im Zuge jenes Rachefeldzuges Stück für Stück wieder aus der Hand geschlagen. Es geschah ihr etwas wie eine Löschung, es war, als hätte sie nie die Verantwortung übernommen. Es war, als schriee ihr wo immer sie hin kam ein „schuldig, schuldig, schuldig“ entgegen. Es gab keine Geschichte. Es gab keine Komplikation. Es gab nichts, nur dieses anonyme „schuldig.“
Das machte sie völlig hilflos. Damit hatte sie nicht gerechnet, damit konnte sie auch nichts verbinden. Denn es war ohne jeden Zweifel Unrecht. Alles dieses spielte sich irgendwo ab, in einem Raum, der nicht existierte, und doch alles vergiftete.
So blieb sie, obwohl oder weil ihre Liebe – diese Liebe als die Liebe überhaupt – ihr viel bedeutet hatte, persönlich lange unverbunden. Die Gründe waren verschieden und verstärkten sich gegenseitig. Da war der Verlust des Bestimmten. Dieser war der Grund im Glück, das sie genossen hatte. Es ist eben nicht egal, in wessen Armen man erwacht. Das war aber nur das eine. Das, von dem man weiß, wenn man es weiß: es wird irgendwann abgetrauert sein.
Es gab aber ein anderes, und das war viel schlimmer, beunruhigender. Es wollte ihr einfach nicht einleuchten, wie sich das kurze und heftige, noch viel weniger das lange und tiefgehende Glück der Liebe zwischen zweien so verwandeln konnte in ganze Feldzüge. Mit dem Gerede der Menschen drumherum konnte sie nicht viel anfangen. „Rosenkriege,“ du lieber Gott, genausogut kannst du vom Weihnachtsmann reden. Die Leute meinten es nicht so, aber es kam eben fast nur peinigendes Nichtverstehen und Bramabasieren, lächerliche Systemlogiken, sabbernder Voyeurismus, wohlmeinender Stumpfsinn – aber nichts, das irgendetwas mit dem zu tun haben konnte, was sie empfand. So zog sie es vor, dies alles für lange zu vergessen und zu begraben und nicht mehr links oder rechts zu schauen, vielmehr die bestimmte Kammer, die ihr so viel bedeutet hatte und aus der so viel wirklich gefährlicher Stoff in ihr Leben gekommen war, zu verschließen. Das war lange ein Raub, ein schlimmer. Es war wie eine Amputation, eine, die sie nie als eine freiwillige oder von ihr aus ernsthaft nötige empfand. Ab und zu ging sie in die Kammer und sah sich um, sah alles an, was darin herumstand. Dann dachte sie, sie sollte einmal ans Fenster dieser Kammer gehen und es öffnen. Aber wann immer sie sich dem Fenster näherte: Es war, als wäre dieses Fenster, durch das sie von klein auf Sonnenlichteinfall und hübsche oder doch aufregende Geräusche, ein beglückend streichelndes Lüftchen oder eine frische Brise erwartet hatte, geschlossen worden, als wäre es ferner mit Brettern zugenagelt und als wären diese Bretter mit Mörtel ausgestrichen worden, es war, als stünden auf den Brettern grell warnende Hinweise, die besagten, daß bei Öffnen dieses Fensters etwas hereinkommen würde, das den ganzen Bau noch mehr verdunkeln würde als es das verschlossene Fenster schon tat, als würde statt frischer Luft stickigste Verpestung eindringen, zusammen mit groben, verletzend herumfliegenden Teilchen, die ihr den Atem nehmen und die Haut ritzen würden, und als würden, wenn man auch nur versuchen würde, die Bretter zu entfernen, bereits schwere Schäden zu erwarten sein, die dann möglicherweise nicht nur diese Kammer, sondern die ganze Wohnung betreffen würden. Jedes Mal, wenn sie diese Kammer ihres Innern betrat, nahm die Demokratiebeauftragte etwas von dem, was da herumstand, mit nach draußen. Jedes Mal versuchte sie, etwas in der Kammer so zu verändern, daß sie ein wenig angenehmer würde, etwas wohnlicher aussähe, auch wenn sie wohl noch eine Weile unbewohnbar sein würde. Aber an das Fenster wagte sie sich nicht mehr heran. Oft stand sie davor und dachte: es müßte doch möglich sein, diese Barrikaden einmal abzunehmen. Wenn ich durch die anderen Fenster meiner Wohnung nach draußen schaue, sehe ich doch Licht und Sonne, natürlich gibt es Pollen in der Luft, die mir die Augen röten und mich niesen oder auch husten lassen, aber insgesamt ist der Wind doch schön, ob stark oder schwach, und der Regen ist heftig oder sanft, und die Sonne ist in allen Farben warm, natürlich gibt es den Lärm der Straße und des Hofes, natürlich Baufahrzeuge und was nicht alles, aber es ist doch immer so, daß ich am Fenster stehe, es öffne oder schließe, und immer finde ich irgendeinen Winkel in der Wohnung, an dem das, was gerade getan werden soll oder muß, getan werden kann. Was also ist hinter diesem Fenster so schlimm?
Und sie wunderte sich, verließ die Kammer dann regelmäßig wieder, ging ihrer Arbeit nach und kümmerte sich um ihr Kind und um Menschen, wie sie kamen und gingen, auftauchten und verschwanden, und freute sich, daß es die EinSatzLeitung und ihre lieberen und ihre ihr nicht ganz so lieben Kolleginnen und Kollegen dort gab.
Und nun war also Sonntag. Sie war ausgeschlafen. Vielleicht sollte man es nicht gerade Glück nennen, aber mindestens fast Glück. Das Kind war überraschenderweise auch ausgeschlafen. Es war Juni. Es gab eine Stunde Zeit für ein gemeinsames Frühstück auf dem Balkon. Das Kind vergewisserte sich der Erzählung, wie es in die Welt gekommen, und betrachtete sich, wie es jetzt darinnen war. Die Demokratiebeauftragte betrachtete das Kind. Das war Glück.

10 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

So habe ich es mir nicht vorgestellt, wenn sie grämlichen Gesichts im grauen Kostüm vor mir saß.

Anonym hat gesagt…

Es hat eben nicht jeder so ein Glück wie wir, mein Lieber.

Anonym hat gesagt…

Man beachte den Klammersatz, in ihm verrät sich die Verlogenheit dieser selbstgefälligen Tante.

Anonym hat gesagt…

Da hält sich aber jemand für sehr schlau, wir laden höflich ein zu etwas Nachhilfeunterricht in Komplexität.

Anonym hat gesagt…

Wer hat den eigentlich erfunden, ich meine den Komplexitätswart, er ist ja manchmal ganz gut.

Anonym hat gesagt…

Aber ich finde, ihr solltet angesichts meiner neuen Position etwas vorsichtig sein mit Berichten über meine Häuslichkeit.

Anonym hat gesagt…

Aus der des Chefs haben wir auch rücksichtslos berichtet.

Anonym hat gesagt…

Ich möchte ja zu gerne mal wissen, was ihr am Ende aus unserem Hause berichten werdet! Und wieso bestimmt eigentlich die Kreativabteilung so dermaßen viel, und wie lange will man sich dieses undisziplinierte Mo noch leisten?

Anonym hat gesagt…

Ha, da seht ihr, wie sie wirklich ist!

Anonym hat gesagt…

Wir sprechen uns noch.

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