Dienstag, 3. Juni 2008

355.

Die Demokratiebeauftragte - oder sollen wir sie ab jetzt Chefin nennen? - war an diesem Morgen früher als alle anderen in ihrem neuen geräumigen Büro, und während sie die Notizen, die der stille Theologe ihr auf den Schreibtisch gelegt hatte, anschaute, durchzuckte sie hier und da der gewohnheitsmäßige Impuls, sich für alles mögliche zu rechtfertigen, bis sie auf eine Notiz traf, aus der sehr eindeutig hervorging, daß sie, die als notorisch mißtrauisch Verschriene, mal wieder zu vertrauensselig gewesen war, hatte sie doch in einer von ihr für privat gehaltenen und im Zustand der Entspannung aufgesuchten Gesellschaft 1. der Humanität der Menschen zu viel zugetraut, indem sie arglos über eine von ihr sehr bewunderte Person eine kleine Schwäche als eine liebenswerte mitgeteilt hatte, wie selbstverständlich annehmend, daß die anderen diese Schwäche auch liebenswert finden würden, 2. aber denjenigen, die dort saßen, zu viel Anstand zugetraut und also nicht damit gerechnet, daß diese sofort gehässigst ihre Worte weiterleiten und der betroffenen Person das Gefühl tiefster Beschämung und Bloßstellung vermitteln würden, eine Sache, an der sie weniger die darin zum Ausdruck kommende rücksichtslose Feindseligkeit gegen sie selbst störte - mit dergleichen hatte man eben zu rechnen, wenn man Verantwortung übernahm - sondern vielmehr die ekelerregende Takt- und Geschmack- und Rücksichtslosigkeit gegen die von ihr so bewunderte Person, und sie nahm sich vor, noch viel genauer darauf zu achten, was sie wo sagte, und noch viel gründlicher alles zu anonymisieren, was sie irgendwo erzählte, mochte man auch ihr den entsprechenden Schutz auf die härteste Weise versagen, es wollte ihr vorkommen, als sei der in solchen Dingen sich voranbringenden Barbarisierung der Welt nur entgegenzuwirken, wenn man auf alle Weisen einen freundlichen Ton gegen jeden, der dessen nur irgendwie würdig erscheinen konnte, anschlug, wenn man die Schwächen enttabuisierte und den Leuten ihren anscheinend unausrottbaren Wunsch danach, alles Menschliche bei sich selbst unter den Teppich zu kehren, alles Menschliche bei anderen bloßstellend hervorzuziehen, als eine vor allem überflüssige und hinderliche Maßnahme vor Augen hielt, und zugleich Menschen, die sich verhielten wie die Kolporteure der ihr nun so verzerrt zurück kolportierten Nachricht und sich geifernd auf jeden Fehler und jede Schwäche eines anderen stürzten, entschieden in ihre Schranken wies, nicht, indem man etwa selbst "Sündenregister" führte, sondern indem man alle derartigen Kolportagen, in denen sich ein entsprechender gehässiger Ton fand, ganz einfach vereiste, ja, dachte sie, vereisen, das ist das Richtige, das muß man auch keineswegs machtförmig machen, das geht durchaus anders, und dann sah sie, daß die Kreativleitung sich angemeldet hatte, oweia, dachte sie, jetzt muß sie sich plötzlich anmelden, um mit mir zu sprechen, und es wurde ihr seltsam zumute, denn sie fürchtete um ihre langjährige Freundschaft, da doch sich das Verhältnis nun sehr gewandelt hatte und sie plötzlich der Freundin "übergeordnet" war, eine irgendwie reichlich mißliche Position, fand sie, und sie hoffte sehr, daß sowohl sie selbst als auch die Freundin mit diesen neuen Verhältnissen würden umgehen können.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

De absentibus nil nisi bene - gehört diese Regel nicht zum moralischen Minimum des Buddhismus?

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