Die EinSatzLeitung schreibt mit Gästen ein Buch. Pro Tag darf jede Person einen Satz einsetzen, die EinSätze werden fortlaufend numeriert. Auf der B-Ebene gibt es längere narrative Stücke. Die EinSatzKräfte und ihre Texte sind sämtlich rein fiktiv und frei erfunden. Alle Rechte bei der Autorin.
Montag, 30. Juni 2008
382.
Nur wer einen richtigen Feiertag hatte, kennt auch die frischmütigen Wonnen eines Montagmorgen, dachte die Kreativleitung, als sie das Radio abstellte (pflichtschuldigst wurde dort der Fußballabend nachbereitet) und sich auf ihrem Drehstuhl zurechtsetzte, um das Lob des Herrn X zu schreiben, welches zweifellos mit einer erheblichen Eloge seiner Kämpfertugenden und seines Selbstbewußtseins sowie seiner Treue gegenüber der außerordentlich beeindruckenden obersten Maxime der Nutztierhaltung würde beginnen müssen, in die dann so ganz allmählich eingeflochten werden müßte, welche Art von Verdiensten er sich dadurch auch an seinen Mitmenschen erworben habe, und sie kräuselte ihre Fingerspitzen ein wenig bei dem Gedanken, wie sie dies alles formulieren würde, während sie eigentlich viel lieber der Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse bei der Vorbereitung eines Gesprächs zur Hand gegangen wäre oder mit Mo irgendwelche Wanderungen unternommen hätte, aber Mo, nun ja, Mo schaute aus dem Fenster, als wartete sie auf etwas, das nun wirklich ... lass gut sein, Mo, sagte die Kreativleitung, es ist wie es ist, und obwohl Mo nicht reagierte, war sie sich ihrer Zustimmung gewiß.
Sonntag, 29. Juni 2008
381.
Es war Sonntag, die EinSatzKräfte setzten aus, und der Kwaliteitswart, der nach dem Ausstieg seiner Mannschaft das Interesse am Fußball etwas gebremst hatte, weil er sich nicht entscheiden konnte, welchem der ehemaligen Nationalfeinde er nun sein begeisterungsbereites Herz schenken sollte, erinnerte sich angesichts der nationalen Sorge um die Wade des deutschen Kapitäns daran, daß vor Jahren schon einmal der Minderheitler mit den grünen Borsten in erhebliche Konflikte mit der Abteilung Öffentlichkeit geraten war, indem er mit Kreide ihrem auf Fußball versessenen Leiter "Ballack, quo wadis?" aufs Hosenbein geschrieben hatte.
Samstag, 28. Juni 2008
380.
Die Kreativleitung ihrerseits, die weder Interesse daran hatte, irgendwelche fremden Hirne aufzuschließen - viel zu stürmisch flog sie ohnehin an, was die Menschen neben ihren offiziellen Mitteilungen immer schon von sich gaben - noch sich mit Leuten abgeben mochte, deren manifeste Kontrollwünsche sie außerordentlich lästig fand, die Kreativleitung, die oft auch ihre Wochenenden im Büro zubrachte, hatte sich wegen der vorübergehenden Schließung des Büros und weil sie von etlichen Aufgaben sehr erschöpft war, ein häusliches Wochenende organisiert, und als sie am Freitagabend zusammen mit dem im Bündel hockenden Mo, welches sein Köpfchen wie immer auf dem Heimweg neugierig aus dem Stoff streckte, an ihrem Haus ankam und die Tür aufschloss, bemerkte sie einen Aushang - ein einfaches Din A 4 Blatt - im Treppenhaus, auf dem in drei Sprachen geschrieben stand: "Liebe Nachbarn, in letzter Zeit häufen sich an Wochenenden in unseren Häusern die Schreie gequälter Menschen und darum habe ich an Sie die folgende Bitte: wenn Ihnen das nächste Mal danach zumute ist, Ihr Kind oder Ihre Frau zu schlagen oder durch die Wohnung zu schleifen, wenn Sie das nächste Mal glauben, Sie halten es einfach nicht mehr aus, ohne Ihrem Kind Ohren lang zu ziehen oder eine Blumenvase auf dem Kopf Ihrer Frau zu zerdeppern, dann bitte: ZÖGERN Sie einen Augenblick und rufen Sie mich unter der folgenden Telefonnummer an" - und dann stand da tatsächlich die Telefonnummer einer alleinlebenden älteren Nachbarin, von der die Kreativleitung eine solche Kühnheit doch nicht erwartet hätte, und sie sagte, Mo, wir müssen noch einmal losgehen und Blumen für diese Nachbarin kaufen.
Freitag, 27. Juni 2008
379.
Als dem Herrn X zu Ohren kam, daß die EinSatzLeitung nicht nur ihre Türen verschlossen hielt (hier hatte er sich für den Moment durch die Botschaft des Zubringers beruhigen lassen, die vereinbarte Frist war noch nicht abgelaufen, und er wollte mal nicht so sein, obwohl es ihm wirklich lieber gewesen wäre, jeden Schritt der Produktion eigens und einzeln zu überwachen, am liebsten hätte er unmittelbar in das Hirn der Kreativleitung geguckt, so war er nun einmal, es durfte nichts geben, das seiner Kontrolle entzogen wäre, indes hatte ihn die Nutztierhaltung gelehrt, daß das Vieh sich unter völliger Kontrolle nicht mehr wohl befindet und so viel Energie auf die Frage nach dem Stand seiner Kontrolliertheit und auf Versuche, die Kontrolle zu umgehen verwendet [dies vor allem tun gerade die besten Stücke], daß eben kein Nutzen mehr herauskommt, weshalb man also bei totaler Kontrolle zugleich gegen die erste Maxime der Nutztierhaltung verstoßen würde, man versteht schon...), sondern hinter ihren verschlossenen Türen dem Herrn Y Asyl gewährt hatte, wurde er sehr zornig, und, wie es seine Art war, dann auch gleich sehr tatendurstig, mit dem Ergebnis, daß er sich nun also einen Plan ersann, wie er den ja auswärts zu einer Fortbildung weilenden Demokratiebeauftragten aufspüren und in einer von langer Hand vorbereiteten Aktion durch Mittelspersonen (vielleicht weiblichen Geschlechts?) zu Auskünften über den Stand seiner Angelegenheiten und zu möglicherweise geheimen Kooperationen gegen seinen Willen oder doch an seinem Willen vorbei (denn es durfte nur einen Willen geben, seinen eigenen, den herr-x-lichen, und nur er selbst durfte wissen, was wo gespielt wurde) nötigen könne, ach, nötigen, was für ein häßliches Wort, gewinnen würde sicher sehr viel besser geklungen haben, entscheidend würde nur sein, daß etwas gegen das Gewissen dieses stillen Theologen unternommen werden müßte, und dies zu erreichen, könnte sich, so dachte Herr X, doch als relativ schwierig erweisen, und es kam ihm keine Sekunde lang in den Sinn, sich zu fragen, ob man nicht auch einfach und gerade und fair Anliegen neben Anliegen auf einen Tisch legen könne, und warum ihm das nicht in den Sinn kam, das war eine Frage, die er sich dann natürlich auch nicht selbst stellen konnte.
Donnerstag, 26. Juni 2008
378.
Der möglicherweise ehemalige Leiter der möglicherweise ehemaligen Abteilung Öffentlichkeit einer, wie er sich nun ausmalte, möglicherweise ehemaligen Institution entfernte sich verwirrt vom Ort des Geschehens oder vielmehr des Nichtgeschehens - und begegnete der neuen Chefin, welche zu Fuß auf dem Weg zu ihrem Büro war (denn die Arbeit ging ja selbstverständlich weiter), in der Hand einen Zettel, den sie zusätzlich an der im übrigen verschlossen bleibenden Tür anbringen wollte, heute nicht mit einer Befreiungsaufforderung (obwohl auch von diesen nichts vergessen war), sondern mit einer Gratulation an die Fußballfans in ihrer Stadt, in der alle sportlich miteinander gefeiert hatten, sie strahlte ihn an und sagte, ach, Sie sind mal wieder da, und er sagte, mit ihr habe er nun nicht gerechnet, und sie sagte, sie habe mit ihm wahrhaftig auch nicht gerechnet, da er aber einmal da sei, bitte sie ihn, das Protokoll der letzten Sitzung zur Kenntnis zu nehmen, sich zu überlegen, ob er einen Vorschlag zu seinen eigenen Vorstellungen zur Weiterarbeit machen wolle, und dann anderntags in ihr Büro zu kommen, einen Tag zum Umgewöhnen könne er sicher gut brauchen, und der offenbar ehemalige Leiter der offenbar noch vorhandenen Abteilung Öffentlichkeit einer offenbar trotz ausgewechselten Schlosses weiter arbeitenden Institution war von dieser zweiten Überraschung derartig verblüfft, daß er in der Tat fand, einen Tag zum Umgewöhnen könne er gut brauchen.
Mittwoch, 25. Juni 2008
377.
Als der ehemalige Leiter der Abteilung Öffentlichkeit von seiner Reise in die Gesamtschweiz zurückkehrte, fand er die Tür des ehemaligen Büros der ehemaligen EinSatzLeitung verschlossen, und als er seinen Schlüssel aus der Tasche zog, um sie aufzuschließen, fand er, daß das Schloß ausgetauscht worden sein müsse, denn der Schlüssel paßte nicht mehr, und als er nach längerem Stutzen und dem immer befreienden Ausstoßen einiger derber Flüche die Treppe hinab ging, vor dem Haus auf und ab schritt und schließlich noch einmal genauer die Aushänge und Schilder am Eingang betrachtete, sah er, daß das Schild "EinSatzLeitung" einen Zusatz hatte: Wegen ökonomischer Sanierungsmaßnahmen geschlossen, Wiederaufnahme des Betriebes nach abgeschlossener Sanierung, Sanierungsbeiträge erbeten auf das Konto der Autorin, Kto. 22150431 bei der Postbank Essen, BLZ 36010043, Kennwort EinSatzBuch.
Dienstag, 24. Juni 2008
376.
Sitzung der EinSatzLeitung
Leitung: Chefin
Protokoll: Assistentin K
Tagesordnung:
1. Bericht der Chefin über bisher erfolgte und weitere geplante Umstrukturierungen
2. Bericht der Karomütze über ein Instruktionsblatt
3. Verschiedenes
TOP 1:
Die Chefin bedankt sich für die gute Zusammenarbeit bis hierher und berichtet in aller Knappheit über die Ernennung des stillen Theologen zum Demokratiebeauftragten sowie die offizielle Einsetzung der Assistentin Ö als stellvertretende Leiterin der Abteilung Öffentlichkeit. Die weitere Entwicklung dieser Abteilung wird geprüft.
TOP 2:
Der Sicherheitsbeauftragte mit der Karomütze berichtet, in Sicherheitskreisen zirkulierten Schriften, die namens eines weltberühmten Fernsehpsychiaters dartun, daß Vögel als Symbol für Psychose gelten, weshalb jeder, der sich mit ihnen beschäftige, als mindestens unzurechnungsfähig, möglicherweise aber sogar als ein Sicherheitsrisiko und potentieller Amokläufer einzustufen sei. Ihm selbst sei in einer entsprechenden Übung von Sicherheitsleuten ein Bogen zugespielt worden, in welchem unter der Überschrift "Finde den Amokläufer in deiner näheren Umgebung" ein Kriterienkatalog zur Abarbeitung empfohlen werde, und er habe darin Erstaunliches gefunden. Demnach könne etwa jemand wie er selbst oder die Kreativleitung oder sogar die Demokratiebeauftragte (pardon, die Chefin, aber übrigens auch der ehemalige Chef) in einen entsprechenden Verdacht kommen, einfach aufgrund gewisser vogelkundlicher Interessen - wobei man dann auch gewisse Sätze wieder, wie er schnell mal anhand einiger EinSätze analysiert habe, als sozusagen "Schritte auf dem Weg zu einer Verbesserung des Zustands" auffassen könne. Ein Kollege, mit dem er öfter über Pestvögel, Brachvögel und andere Vogelarten gesprochen habe, habe ihm dringend geraten, mit der Kreativabteilung diese Dinge zu klären und endlich das Schreiben über Vögel einzustellen. Die Kreativleitung, die erst gelacht und gesagt hatte, "jaja, promovierte Deppen mit weißen Kitteln an Bundeswehrhochschulen, immer schon ein ideales Potential für organisierte Hysterie oder Schlimmeres, wenn man Pech hat," machte nach dem Ende des ersten Amusements ein etwas ernsteres und entschlosseneres Gesicht und sagte: "Wo sollen wir, wenn wir so anfangen, aufhören? Wenn wir über Affen schreiben, dann sind Affen bekannte Symbole für Hühnerpest, wenn wir über Schwesternhäubchen schreiben, dann sind diese bekannte Symbole für Prüderie, und wenn wir über Kindsmörder schreiben, sind wir selbst welche, und wenn wir über Trauer schreiben, sind wir traurig, und wenn wir über Übermut schreiben, sind wir übermütig, und wer einmal einen Stein in die Hand genommen hat, hat immer schon gern welche geworfen, und so weiter. Wir wollen doch solchen Idiotien nicht zu viel Gewicht beimessen?" Sie danke natürlich für die Warnung. Aber was könne die Konsequenz sein?
Demnächst dürfe man also gar nichts mehr schreiben, weil Fernsehpsychiater in Sicherheitskreisen ihre Empfehlungen aussprechen? Wir haben bisher gedacht, in einem freien Land zu leben. Anscheinend sei man hierzulande aber auf der Suche nach Amokläufern, und man suche sie in Schreibbüros? Ob das jemand ernsthaft glaube? Die EinSatzLeitung möge sich entscheiden, ob sie sich eine freie Kreativleitung leisten wolle oder nicht. Die Chefin übernimmt den Antrag und gibt ihn zur Abstimmung frei.
Die EinSatzLeitung entscheidet - unter gequälter Enthaltung des Buchhalters und etlicher Mehrheitler - zugunsten der Kreativleitung und des Schreibens über alle Tier- und Menschenarten. Der Sicherheitsbeauftragte, der dafür gestimmt hat, empfiehlt allerdings, bei Verdichtung der Indizien für eine gezielte Kampagne gegen dieses oder ein anderes Schreibbüro, die Urheber solcher Kampagnen (die es ohnehin niemals unterlassen, hier und da ihre Stempel in Form von Symbolnamen etc. zu hinterlegen) ausfindig zu machen und mit Strafverfolgung und Schadensersatzforderungen zu bedrohen. Man dürfe übrigens durchaus wissen, daß das illegale Ausspähen von privaten Computern nebst publizistischer Verarbeitung mit Haftstrafen bis zu drei Jahren geahndet werden könne, das könnte in manchen Fällen, die ihm schon zu Ohren gekommen seien, ein echter Straßenfeger werden, verhaltenes Gekicher aus der Ecke der Minderheitler.
TOP 3
Alle sind noch etwas betreten, denn eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen, welche sie immer für ausgesprochen harmlos gehalten hatten, die Spekulation über Vögel und der EinSatz von Vogelnamen für bestimmte Figuren und gesellschaftliche Phänomene (jawoll, Herr Forschungsminister, auch um so etwas handelt es sich bei uns), ist auf diese Weise in ein irgendwie - wie dies der Minderheitler mit den grünen Borsten ausdrückt - funzeliges Lichte geraten, und die Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse, deren Onkel angesehener Psychiater in einer Kleinstadt ist, sagt: "Ich kenne diese Verhaltensweisen aber sehr gut: Diese Leute glauben von Berufs wegen (Gattin Ö ist nicht da, also rutscht auch keine Braue hoch), sie hätten ein Mikroskop, unter das sie einen anderen legen könnten, und dann bearbeiten sie ihn aus dem Off so lange, bis er reif ist für den Draufblick." Das habe sie schon aus vielen Betrieben gehört, und es sei bis in die Spitzen solcher kleinstädtischer Gesellschaften verbreitet. Tatsächlich sei ihr Onkel selbst einmal sozusagen in aller Unschuld in so etwas als Täter hineingeraten und nur deswegen aus der Sache rechtzeitig ausgestiegen, weil ein guter Kollege damals beherzt die Partei des Sezierten ergriffen und zu seiner Rehabilitation entschlossen beigetragen habe, freilich habe der Betroffene Jahre gebraucht, um sich von dem Schrecken wieder zu erholen, und sein Leben habe eine bis dahin völlig unerwartete Wendung genommen.
Wie wäre es, wenn ihr darüber mal schreiben würdet, fragt sie die Kreativabteilung. Wir beschließen, uns dieser Sache nach dem Projekt XY einmal anzunehmen. Vielleicht trage diese kleine Episode des Sicherheitsbeauftragten ja sogar schon zur besseren Erklärung jenes Falles bei, bemerkt die Kreativleitung noch.
Die Chefin wurde an dieser Stelle unruhig, das sei im Grunde noch zu TOP 2 gewesen, aber jetzt solle mal bitte noch TOP 3 abgehandelt und die Sitzung dann schnell geschlossen werden, dringliche Arbeiten stünden an.
Der klitzekleine Forschungsminister merkt an, er arbeite gerade an einem kleineren Konvolut mit dem Titel "Versöhne und herrsche," in welchem er wissenschaftlich untersuche, was mit Menschen geschehe, die in gewissen Fachkontexten von Mediation oder in anderen zu Versöhnungsaktivitäten ermunternden Ämtern größenwahnsinnig werden. Er gehe davon aus, daß er es mit diesem Bändchen, das erheblich zur Aufklärung einiger Mißverständnisse beitragen werde, sicher nicht zum Ruhm und Ruf eines angesehenen Fernsehpsychiaters bringen werde, aber er hoffe doch, einige Dinge der wissenschaftlichen Klärung zuzuführen, die dieser unbedingt bedürfen.
Ende der Sitzung, die nächste wird auf Nr. 406 festgesetzt.
Leitung: Chefin
Protokoll: Assistentin K
Tagesordnung:
1. Bericht der Chefin über bisher erfolgte und weitere geplante Umstrukturierungen
2. Bericht der Karomütze über ein Instruktionsblatt
3. Verschiedenes
TOP 1:
Die Chefin bedankt sich für die gute Zusammenarbeit bis hierher und berichtet in aller Knappheit über die Ernennung des stillen Theologen zum Demokratiebeauftragten sowie die offizielle Einsetzung der Assistentin Ö als stellvertretende Leiterin der Abteilung Öffentlichkeit. Die weitere Entwicklung dieser Abteilung wird geprüft.
TOP 2:
Der Sicherheitsbeauftragte mit der Karomütze berichtet, in Sicherheitskreisen zirkulierten Schriften, die namens eines weltberühmten Fernsehpsychiaters dartun, daß Vögel als Symbol für Psychose gelten, weshalb jeder, der sich mit ihnen beschäftige, als mindestens unzurechnungsfähig, möglicherweise aber sogar als ein Sicherheitsrisiko und potentieller Amokläufer einzustufen sei. Ihm selbst sei in einer entsprechenden Übung von Sicherheitsleuten ein Bogen zugespielt worden, in welchem unter der Überschrift "Finde den Amokläufer in deiner näheren Umgebung" ein Kriterienkatalog zur Abarbeitung empfohlen werde, und er habe darin Erstaunliches gefunden. Demnach könne etwa jemand wie er selbst oder die Kreativleitung oder sogar die Demokratiebeauftragte (pardon, die Chefin, aber übrigens auch der ehemalige Chef) in einen entsprechenden Verdacht kommen, einfach aufgrund gewisser vogelkundlicher Interessen - wobei man dann auch gewisse Sätze wieder, wie er schnell mal anhand einiger EinSätze analysiert habe, als sozusagen "Schritte auf dem Weg zu einer Verbesserung des Zustands" auffassen könne. Ein Kollege, mit dem er öfter über Pestvögel, Brachvögel und andere Vogelarten gesprochen habe, habe ihm dringend geraten, mit der Kreativabteilung diese Dinge zu klären und endlich das Schreiben über Vögel einzustellen. Die Kreativleitung, die erst gelacht und gesagt hatte, "jaja, promovierte Deppen mit weißen Kitteln an Bundeswehrhochschulen, immer schon ein ideales Potential für organisierte Hysterie oder Schlimmeres, wenn man Pech hat," machte nach dem Ende des ersten Amusements ein etwas ernsteres und entschlosseneres Gesicht und sagte: "Wo sollen wir, wenn wir so anfangen, aufhören? Wenn wir über Affen schreiben, dann sind Affen bekannte Symbole für Hühnerpest, wenn wir über Schwesternhäubchen schreiben, dann sind diese bekannte Symbole für Prüderie, und wenn wir über Kindsmörder schreiben, sind wir selbst welche, und wenn wir über Trauer schreiben, sind wir traurig, und wenn wir über Übermut schreiben, sind wir übermütig, und wer einmal einen Stein in die Hand genommen hat, hat immer schon gern welche geworfen, und so weiter. Wir wollen doch solchen Idiotien nicht zu viel Gewicht beimessen?" Sie danke natürlich für die Warnung. Aber was könne die Konsequenz sein?
Demnächst dürfe man also gar nichts mehr schreiben, weil Fernsehpsychiater in Sicherheitskreisen ihre Empfehlungen aussprechen? Wir haben bisher gedacht, in einem freien Land zu leben. Anscheinend sei man hierzulande aber auf der Suche nach Amokläufern, und man suche sie in Schreibbüros? Ob das jemand ernsthaft glaube? Die EinSatzLeitung möge sich entscheiden, ob sie sich eine freie Kreativleitung leisten wolle oder nicht. Die Chefin übernimmt den Antrag und gibt ihn zur Abstimmung frei.
Die EinSatzLeitung entscheidet - unter gequälter Enthaltung des Buchhalters und etlicher Mehrheitler - zugunsten der Kreativleitung und des Schreibens über alle Tier- und Menschenarten. Der Sicherheitsbeauftragte, der dafür gestimmt hat, empfiehlt allerdings, bei Verdichtung der Indizien für eine gezielte Kampagne gegen dieses oder ein anderes Schreibbüro, die Urheber solcher Kampagnen (die es ohnehin niemals unterlassen, hier und da ihre Stempel in Form von Symbolnamen etc. zu hinterlegen) ausfindig zu machen und mit Strafverfolgung und Schadensersatzforderungen zu bedrohen. Man dürfe übrigens durchaus wissen, daß das illegale Ausspähen von privaten Computern nebst publizistischer Verarbeitung mit Haftstrafen bis zu drei Jahren geahndet werden könne, das könnte in manchen Fällen, die ihm schon zu Ohren gekommen seien, ein echter Straßenfeger werden, verhaltenes Gekicher aus der Ecke der Minderheitler.
TOP 3
Alle sind noch etwas betreten, denn eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen, welche sie immer für ausgesprochen harmlos gehalten hatten, die Spekulation über Vögel und der EinSatz von Vogelnamen für bestimmte Figuren und gesellschaftliche Phänomene (jawoll, Herr Forschungsminister, auch um so etwas handelt es sich bei uns), ist auf diese Weise in ein irgendwie - wie dies der Minderheitler mit den grünen Borsten ausdrückt - funzeliges Lichte geraten, und die Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse, deren Onkel angesehener Psychiater in einer Kleinstadt ist, sagt: "Ich kenne diese Verhaltensweisen aber sehr gut: Diese Leute glauben von Berufs wegen (Gattin Ö ist nicht da, also rutscht auch keine Braue hoch), sie hätten ein Mikroskop, unter das sie einen anderen legen könnten, und dann bearbeiten sie ihn aus dem Off so lange, bis er reif ist für den Draufblick." Das habe sie schon aus vielen Betrieben gehört, und es sei bis in die Spitzen solcher kleinstädtischer Gesellschaften verbreitet. Tatsächlich sei ihr Onkel selbst einmal sozusagen in aller Unschuld in so etwas als Täter hineingeraten und nur deswegen aus der Sache rechtzeitig ausgestiegen, weil ein guter Kollege damals beherzt die Partei des Sezierten ergriffen und zu seiner Rehabilitation entschlossen beigetragen habe, freilich habe der Betroffene Jahre gebraucht, um sich von dem Schrecken wieder zu erholen, und sein Leben habe eine bis dahin völlig unerwartete Wendung genommen.
Wie wäre es, wenn ihr darüber mal schreiben würdet, fragt sie die Kreativabteilung. Wir beschließen, uns dieser Sache nach dem Projekt XY einmal anzunehmen. Vielleicht trage diese kleine Episode des Sicherheitsbeauftragten ja sogar schon zur besseren Erklärung jenes Falles bei, bemerkt die Kreativleitung noch.
Die Chefin wurde an dieser Stelle unruhig, das sei im Grunde noch zu TOP 2 gewesen, aber jetzt solle mal bitte noch TOP 3 abgehandelt und die Sitzung dann schnell geschlossen werden, dringliche Arbeiten stünden an.
Der klitzekleine Forschungsminister merkt an, er arbeite gerade an einem kleineren Konvolut mit dem Titel "Versöhne und herrsche," in welchem er wissenschaftlich untersuche, was mit Menschen geschehe, die in gewissen Fachkontexten von Mediation oder in anderen zu Versöhnungsaktivitäten ermunternden Ämtern größenwahnsinnig werden. Er gehe davon aus, daß er es mit diesem Bändchen, das erheblich zur Aufklärung einiger Mißverständnisse beitragen werde, sicher nicht zum Ruhm und Ruf eines angesehenen Fernsehpsychiaters bringen werde, aber er hoffe doch, einige Dinge der wissenschaftlichen Klärung zuzuführen, die dieser unbedingt bedürfen.
Ende der Sitzung, die nächste wird auf Nr. 406 festgesetzt.
Montag, 23. Juni 2008
375.
Der stille Theologe, den die Demokratiebeauftragte tatsächlich als eine Art Oberassistenten weiter beschäftigen und bei sich haben wollte - er sollte recht bald den Titel "Demokratiebeauftragter" übernehmen, sie selbst würde früher oder später eben doch "Chefin" heißen müssen, ein schweres Los, wie sie wirklich fand, auch wenn die Assistentinnen, der Praktikant und andere zu dieser "Schwere" nur rancünös geschmiert haben würden - wurde nun also, nachdem dies prinzipiell geklärt worden war, in eine Fortbildung geschickt und sollte einmal alles studieren, was inzwischen an sozusagen rechtsverbindlichen Konsequenzen durch die einschlägigen politischen Organe aus den Lehren des Abendlandes gezogen und in eine Form gegossen waren, eine vorübergehende Abwesenheit von der EinSatzLeitung, der er sich nicht ungern überließ, zumal er sich einerseits recht wohl fühlte bei dem Gedanken an eine Änderung seiner Amtsbezeichnung und seiner damit verbundenen Aufgabe (so herum? so herum, das gehört nun einmal zur stillen Theologie), andererseits ein wenig fürchtete, in allzu heikle neue Schwierigkeiten verwickelt zu werden, vor denen ihn seine Randständigkeit bisher doch geschützt hatte; jetzt sollte er plötzlich selbst dafür zuständig sein, die Interessen der Minderheitler, der von Auftraggebern Geschädigten, der Misch- und Schrumpfwesen wie Mo und am Ende womöglich noch der Pestvögel zu schützen und sich zu diesem Zweck gegebenenfalls Existenzen wie dem Buchhalter und der Karomütze und den auch nicht völlig ungefährlichen Assistentinnen und - horribile dictu - der neuen Chefin selbst entgegenzustellen, nun ja, keine leichte Sache, dachte er, aber er suchte erst einmal die Tagungsstätte für die Fortbildung und hoffte, daß es schon irgendwie gehen würde.
Sonntag, 22. Juni 2008
374.B.
Die Kreativleitung entschied schließlich, das Beste sei, den Kwaliteitswart ein wenig abzulenken, indem sie ihn bei seiner eigentlichen Aufgabe packte und ihm ein Stück aus dem Wandteppich zur Prüfung vorlegte. Sie riß also ihren Blick von dem Mann, dessen Gesicht ihr auch in der ungewohnten Melancholie noch sehr gut gefiel, los, von der Art, wie er seine Hände hängen ließ, zu schweigen, und schaute auf das in Arbeit befindliche Produkt. Wie erstaunt war sie zu sehen, daß Mo mit wilden Gesten und bewegungslosem Gesichtchen auf dem Weberschiffchen saß und soeben in den Hafen der Häuslichkeit der Demokratiebeauftragten einzulaufen im Begriffe war, ein Seeräubertüchlein um den Kopf gewickelt. Die Kreativleitung pflückte das Wesen beherzt vom Schiffchen, lachte der Verblüfften verblüfft ins Gesicht und sagte, so, das sind also deine neuesten Abenteuer. Mir gefällt es eigentlich besser, wenn du irgendwo sitzt und schreibst oder deine Apfelstückchen verspeist oder irgendwelche nützlichen Erkundungen in der EinSatzLeitung und darüber hinaus betreibst, anstatt hier die Produktion zu piratisieren, aber – sag mal, habe ich dich vernachlässigt? Und Mo brach sofort in Tränen aus, streckte ihre dürren Ärmchen aus, ließ sich gern auf die Hüfte der Kreativleitung setzen und schmiegte sich fest an. Aha, sagte die Kreativleitung, so ist das also, und ließ einfach ihre Hand an Mos Rücken, während sie, ihre Rührung unterdrückend, nunmehr mit sachlichem Gesicht dem Kwaliteitswart zu erläutern versuchte, wie sie die Niederungen der Pestvögel allmählich über den – übrigens von Mo erfundenen – erzählenden Kranich wieder mit den Gärten der Kreativabteilung und den nüchternen Bauwerken der Demokratieabteilung verbinden wolle, wie sie zu diesem Zwecke die scharfe Friktion der Abteilung Ö... Aber der Kwaliteitswart hatte dafür gar keinen Sinn. Er beobachtete mit mäßigem Interesse das Gefühlstheater um Mo und die Kreativleitung, fand den winzigen eifersüchtigen Stich, den ihm dieses gab, leicht verkraftbar, wenn auch deutlich spürbar, und er fragte sich, ob denn an dieser so aufgeladenen Fußballrealität wirklich nichts mehr zu rütteln sei. Müde, heute.
Na gut, sagte die Kreativleitung, also das hilft auch nicht. Und sie merkte, wie eine Ungeduld in ihr aufstieg, gegen die noch stets nur eine einzige Sache geholfen hatte: die Produktion, in der sie alles andere vergessen konnte. Das Übliche also, dachte sie, ein wenig enttäuscht, aber wir kennen es ja schon. Sie konnte nun das Mo nicht absetzen, nahm in Kauf, daß der Kwaliteitswart sich vermutlich wieder verziehen würde, wenn ihm seine Grantigkeit nicht durch Überaufmerksamkeit beantwortet werden würde, und nahm also das Weberschiffchen in die linke Hand (die rechte mußte ja Mos Rücken halten). Sie stattete das Schiffchen unter Mos gelegentlich hervorblinzelnden Blicken fein aus mit Kanonen, aus denen schärfste Geschösschen geschossen werden könnten, und ließ es ganz langsam auf die Niederungen der Pestvögel, jene versumpften Gebiete, deren gefiederte Bewohner von der vollkommen haltlosen Illusion besessen waren, sie lebten in gut organisierten Anlagen, zufahren. Das übermütige Ahoi von Mo schien in der Luft mit zu schwirren und als ein akustisches Wimpelchen zu bleiben, während Mo selbst sanft und beruhigt bald wieder einschlief.
Na gut, sagte die Kreativleitung, also das hilft auch nicht. Und sie merkte, wie eine Ungeduld in ihr aufstieg, gegen die noch stets nur eine einzige Sache geholfen hatte: die Produktion, in der sie alles andere vergessen konnte. Das Übliche also, dachte sie, ein wenig enttäuscht, aber wir kennen es ja schon. Sie konnte nun das Mo nicht absetzen, nahm in Kauf, daß der Kwaliteitswart sich vermutlich wieder verziehen würde, wenn ihm seine Grantigkeit nicht durch Überaufmerksamkeit beantwortet werden würde, und nahm also das Weberschiffchen in die linke Hand (die rechte mußte ja Mos Rücken halten). Sie stattete das Schiffchen unter Mos gelegentlich hervorblinzelnden Blicken fein aus mit Kanonen, aus denen schärfste Geschösschen geschossen werden könnten, und ließ es ganz langsam auf die Niederungen der Pestvögel, jene versumpften Gebiete, deren gefiederte Bewohner von der vollkommen haltlosen Illusion besessen waren, sie lebten in gut organisierten Anlagen, zufahren. Das übermütige Ahoi von Mo schien in der Luft mit zu schwirren und als ein akustisches Wimpelchen zu bleiben, während Mo selbst sanft und beruhigt bald wieder einschlief.
374.
"Kommt ein Pestvogel geflogen, trägt einen Kwaliteitswart im Schnabel," zwitscherte ein plötzlich sehr ausgeschlafen wirkendes Mo - von dem wir nun also auch wissen, daß es einer kleinen Eifersucht auf die etwas deutlich zutagegetretene Vorliebe der Kreativleitung für den freundlichen niederländischen Externen durchaus fähig war - als der Kwaliteitswart tief bedrückt mit seinem Kaffeebecher ins Kreativbüro kam, wo er sich von etwas stabil Begeistertem in den Augen der Kreativleitung und dem meist beruhigenden Klang ihrer Stimme ein wenig Zuspruch erhoffte, nachdem seine Mannschaft seiner vernichtenden und vernichteten Meinung nach das Geunke über die klassische Art der Holländer, schön zu spielen und dann zu verlieren, diesmal auszuhebeln versucht hatte, indem sie einfach gleich nicht ganz so gut spielte und die Niederlage insofern legitimierte, und, sagte der Kwaliteitswart zur Kreativleitung, vielleicht ist es eben doch schlecht, wenn man so daran gewöhnt ist, andere leben zu lassen, und die Kreativleitung sagte ihm, beglückt über seine Anwesenheit, nein, das ist ganz und gar nicht schlecht, es kommt da viel zusammen, und vielleicht waren die Russen einfach nur so begeistert über die ihnen neue holländische Spielart, und vielleicht waren eure Leute einfach nur in diesem Doppelding gefangen, diesem "bloß nicht zu selbstbewußt sein nach den vielen Erfolgen" und dem "bloß nicht zu feige sein" vor der komischen Konstellation mit dem russischen Trainer, und sie bemerkte, daß ihr wirklich viel auch nicht mehr einfiel, sie hielt das bei sich für ein ernstes Alarmzeichen und zog sich ein wenig zurück, um den Kwaliteitswart in Ruhe zu betrachten, sie hätte ihn gern umarmt, um ihn zu trösten, aber das wäre natürlich entschieden zu weit gegangen, also wartete sie eben ab, ob er noch etwas würde sagen wollen, und genoß jede Minute, die sie mit ihm auf diese Weise verbringen konnte, ohne zu bemerken, daß Mo sich im Hintergrund fast in eine Art Kobold zu verwandeln schien und zum Sprung auf das Weberschiffchen ansetzte.
Samstag, 21. Juni 2008
373.
Die Kreativleitung, im übrigen eine freundliche Person, hatte doch ihrer Assistentin gegenüber gelegentlich jene typische Unbarmherzigkeit, mit welcher Vorgesetzte und Lehrmeister besonders diejenigen ihrer Schüler zu plagen pflegen, welche ihnen am nächsten zu kommen oder sie gar dereinst zu überflügeln drohen, ja, man dächte wohl, das wäre eine Attitüde, die eher dem sadistisch strukturierten älteren Mann naheläge, umso heftiger, je härter ihn ein wie auch immer induzierter verschärfter Triebverzicht ankommt, aber sie findet sich durchaus auch beim Weibe und da sogar bei solchen, von denen wir es am wenigsten erwartet hätten, und so verlangte unsere gute Kreativleitung nun also, natürlich pädagogisch wohlbegründet, von ihrer Assistentin, noch einmal selbst Herrn X anzurufen und nach der Sache mit Herrn Y zu fragen, was diese zähneknirschend denn auch unternahm, und als sie sich wiederum vorgestellt und sofort ihre Frage abgeschossen hatte, sagte Herr X gleich hocherfreut, ach Sie sinds wieder, ja, naja, diese Sache verhält sich so, liebe junge Frau (habe ich Ihnen übrigens schon gesagt, wie reizend ich Ihre Stimme finde, habe ich Sie eigentlich auch persönlich gesehen, als ich in Ihrer EinSatzLeitung war?), wie ich ja schon bemerkte, ich glaube, ich habe es schon so oft auch in anderen Zusammenhängen gesagt, sicher habe ich nicht versäumt, auch Sie darauf aufmerksam zu machen, wie ich also schon bemerkt habe (o Gott, dachte die Assistentin, wie lange soll ich das wohl aushalten, ohne die Contenance zu verlieren), prägt die Tätigkeit, die ein Mensch ausübt, diesen doch nachhaltig, und die Nutztierhaltung, bei welcher man bekanntlich zwei Grundsätze vorzüglich zu beachten hat, erstlich, daß man maximalen Nutzen aus dem Vieh...hatschii, machte die Assistentin, und, ja, entschuldigen Sie bitte, die Pollen, es tut mir so leid, wie Sie schon gesagt haben, ja, maximaler Nutzen etc., aber was hat das... ach jaja richtig, lautete die wenig beeindruckte Antwort, wie schade, daß Sie so eilig sind, ich plaudere doch so gern mit Ihnen, also der Herr Y., nun, das ist ein guter Mann, nicht dumm, nicht verkehrt, hat es ein bißchen schwer gehabt in seinem Leben, man weiß nicht so recht, warum, aber irgendein Grund findet sich ja meistens, die Kindheit, die Jugend, nicht wahr, manchmal ist jemand auch einfach nicht so ein Kämpfer, vielleicht verwöhnt, wir kannten uns ja schon in der Schule, ich habe ihm immer gesagt, Y, habe ich ihm immer gesagt, du mußt mehr kämpfen, weißt du, und ich habe ihm gesagt, nicht so viel lamentieren, mein Junge, mir hat er ja immer, ich sagte es glaube ich schon, leid getan, was soll man denn aber machen mit so einem, ich habe mich immer redlich bemüht, ihn zu fördern, er war doch ein guter Junge, ja, jetzt sage ich schon, er war, also wissen Sie, in der Nutztierhaltung ... die Assistentin konnte schlecht schon wieder niesen, sie tat es trotzdem, sie tat es sehr heftig, sie entschuldigte sich zwischen den Anfällen, sagte, es sei nötig, den Anruf für den Moment zu unterbrechen, sie werde gern anderntags wieder anrufen, ob es ihm da recht sei, und als sie aufgelegt hatte, nicht ohne noch einige wertvolle Hinweise zur Nutztierhaltung erhalten zu haben, verdrehte sie die Augen und seufzte und fragte die Kreativleitung, ob sie nicht vielleicht am andern Tag doch einmal selbst bei diesem überaus interessanten Gesprächspartner anrufen wolle, welchen sie hier der Abteilung immerhin höchstselbst eingebrockt habe, er verstehe es übrigens durchaus, Komplimente in sein Geseier einfließen zu lassen, das hätte man doch sicher in ihrem Alter auch nicht mehr so oft, und als sie daraufhin das Gesicht der Kreativleitung in Augenschein nahm, biß sie sich auf die Lippen.
Freitag, 20. Juni 2008
372.
Nach diesem Gespräch fand die Assistentin, mit dem Herrn X solle vielleicht doch lieber die Kreativleitung selbst sprechen, oder wie seh ich das, sagte sie in einer Art genervter Laxheit, in welcher sie sich sehr weit vergessen konnte, so weit, daß sie dann auch zum Gebrauch von Kraftausdrücken neigte, was die Kreativleitung bald störte, bald amüsierte, paßte es doch so haarsträubend überhaupt nicht zu ihr, daß es schon wieder so etwas wie Stil hatte, also der Typ, fuhr die Assistentin fort, ist doch ein ausgemachtes...nenn es Nutztier, unterbrach die Kreativleitung schnell, denn die Tür stand offen, und vom Flur konnten sie hören, wie die Demokratiebeauftragte auf und ab gehend mit ihrem Mitarbeiter, dem stillen Theologen, heute nicht über die fälligen Umstrukturierungen sprach, sondern über einen Satz, welcher die Gemeinsamkeiten von "Meuten" und dem, was man in vielen Traditionen "Gott" zu nennen pflegte, betonte, und eigentlich war die Kreativleitung darauf gerade neugieriger als auf die doch eher schmalen Ergebnisse der Unterredung mit einem anscheinend sehr breit angelegten Herrn X.
Donnerstag, 19. Juni 2008
371.
In der Nutztierhaltung, sprach Herr X, als Assistentin K ihn endlich am Apparat hatte, um für die Laudatio seiner Person noch einige Dinge zu erfragen, in der Nutztierhaltung ist zweierlei zu beachten, erstlich, daß man maximalen Nutzen aus dem Viehzeug zieht, und zweitens, daß man – der obersten ersten Maxime verpflichtet – dafür sorgt, daß das Viehzeug sich also dabei auch gesund und wohl befindet, denn tut es das über längere Zeiträume nicht, drohen lästige Keulungen und Produktionseinbußen, und jaja, wie sage ich es doch den Mitgliedern meines Verbandes immer wieder, da kann man zwar mit Versicherungen rechnen und spekulieren, aber langfristig rechnet es sich doch am besten, wenn man das Vieh so hält, daß man auch einen Nutzen davon hat, ja, es ist eine ganz klare Sache, wenn man es nur einmal richtig durchdenkt, das rechnet sich immer, und das zahlt sich auch aus, ich sage Ihnen, es sind im Grunde nur diese zwei Maximen, und, da Sie ja nach meinem persönlichen Leben zu fragen belieben, nun, die Nutztierhaltung hat mich natürlich auch für mein weiteres Leben geprägt, und ich darf doch sagen, das sage ich auch insbesondere meinem Sohn immer wieder, aber Gott ja, die Jugend, also ich sage ihm immer wieder, es sind diese zwei Maximen, die dafür gesorgt haben, daß ich es in der Nutztierhaltung recht herrlich weit gebracht habe, vom einfachen Wärter und Melker zum Hauptaktionär und einzigen wirklich Stimmberechtigten einer gewaltigen Kette von nennen wir sie mal Produktionsstätten, denn Ställe, das würde doch gar zu ... genug, genug, unterbrach die Assistentin relativ unwirsch den Herren in seinen überaus sensiblen und bescheidenen Betrachtungen, was mir noch nicht ganz klar ist, ist die Geschichte jenes Herrn Y., den Sie so besonders gern zu haben scheinen, welcher aber zu Ihrem großen Kummer Ihre besondere Zuneigung so gar nicht zu erwidern scheint, wie kommt es überhaupt zu dieser Verbindung, und in welchem Zusammenhang steht sie mit der Nutztierhaltung?
Mittwoch, 18. Juni 2008
370.
Was macht eigentlich die Verwertungsgemeinschaft, fragte Karomütze, als er im "Bistro" die Assistentin K traf, und diese sagte, das Übliche, ärgert sich, daß ihr immer noch kein Konzeptpapier vorliegt, und arbeitet darauf hin, endlich ihrerseits gründlich verwertet zu werden, hast du schon Neues aus der demokratischen Cheflichkeit, und der Bemützte war sich nicht so sicher, ob er etwas Neues habe, einen Termin für die nächste Sitzung gab es jedenfalls immer noch nicht, und etwas behagte ihm auch nicht am Ergebnis der letzten Unterredung mit der Chefin, das Einzige, was er konkret weitergeben konnte, war, daß sie den Auftrag des Herrn X vom Tisch und schnell erledigt haben wolle, daß sie sich bei Durchsicht der Nachrichten hoffnungsvoll über einen Waffenstillstand geäußert habe, und daß recht bald eine Sitzung stattfinden werde, na ja, sagte die Assistentin, verzog ihr Gesicht, klopfte Karomütze noch einmal jovial auf die Schulter, und sagte, dann werden wir uns wohl mal um diese Angelegenheit des Herrn X kümmern, und lief mit dem Kaffee in der Hand zum Kreativbüro.
Dienstag, 17. Juni 2008
369.
Ein großes Rauschen, und der erzählende Kranich landete auf dem Fenstersims, ein sachtes Picken an der Scheibe, und Mo erwachte, schaute zum Fenster, von dem das Geräusch gekommen war, lächelte kurz, wollte sich wegdrehen und wieder einrollen, war dann aber doch zu neugierig, und setzte sich also aufrecht auf ihr Fell, mit dem Rücken an das Sesselbein gelehnt, nachdem die Kreativleitung, von der sie nicht wußte, ob die den Kranich überhaupt sehen konnte, das Fenster geöffnet hatte; mit weit offenen Augen betrachtete das Mo die eleganten Bewegungen des Kranichs, als dieser im Büro ein wenig herumstelzte, hier etwas an seinem Gefieder putzend, da etwas von seinem Fuße schüttelnd und sich seinerseits in aller Ruhe umsehend, während die Kreativleitung wieder vor ihrem Wandteppich stand, und Mo rätselte weiter, ob die beiden einander wohl sähen oder nicht, einstweilen freilich ohne Ergebnis.
Montag, 16. Juni 2008
368.
Als der erzählende Kranich, der am Wochenende die Niederungen der Pest- und Brachvögel überflogen und kopfschüttelnd ihr unverständiges Geschnatter über Nutztierhaltung und trotzige Nutztiere angehört hatte, an diesem Montagmorgen den Turm (oder das Hochhaus, es sah doch mehr aus wie ein Turm, fand er) anflog, in welchem die EinSatzLeitung ihren Sitz hatte, und bereits von weitem die Stimmen sortierte, die an sein für diese besonders feines Ohr drangen, da wurde er sehr melancholisch, denn er glaubte förmlich hören zu können, wie sich die Kreativleitung einsam und ununterstützt mit jenem entsetzlichen Auftrag des Herrn X abplagte, der gelobt werden wollte dafür, daß er den Herrn Y fertiggemacht hatte, er hörte, wie die Gattin Ö den berechtigten Unmut über ihren unmöglichen Gatten anfing, in einem Gezeter über Mo auszulassen, er hörte, wie der Sicherheitsbeauftragte mit der Karomütze seiner neuen Chefin wie diese es in Form einer Dienstanweisung angeordnet hatte den allmorgendlichen Eins-zu-Einsler-Bericht vorlegte und dabei versuchte, ihr einzureden, daß sie mal auf etwas mehr Diskretion achten müsse - der junge Mann hatte einen Sinn für Vorgesetzte und sah seiner Chefin an, wie es ihr bei manchen Zuschriften zu gehen schien (er wußte selbst freilich noch nicht, daß die Assistentin K seit Erscheinen jener neuen Dienstanweisung systematisch Köder für Eins-zu-Einsler auslegte, um den jungen Kollegen in seiner Findigkeit ein wenig zu reizen, und daß die Eins-zu-Einsler auch regelmäßig anzubeißen pflegten), er selbst sah sich als Rundumdienstleister, er wollte angenehm sein, er wollte beraten und notfalls trösten und natürlich, dies gehörte ja nun auch wirklich zu seiner Profession, er wollte die jeweiligen Vorgesetzten vor Ärger schützen und so dazu beitragen, daß alles gut lief, wobei er (das wollen wir jedenfalls zu seinen Gunsten annehmen) nicht zu bemerken schien, wie er sich mit seinen Dienstleistungen der neuen Chefin gegenüber aufplusterte und wichtig machte und bereits anfing, sie zu okkupieren, ein Verhalten, das er gegenüber dem Chef nie zustandegebracht hatte, da dessen Autorität ihm dergleichen unmöglich gemacht hatte, während nun aber der erzählende Kranich bereits an der Stimme der Chefin meinte hören zu können, wie diese ihrem Sicherheitsbeauftragten gegenüber genauso mühselig und konsequent ihren Rücken straffte wie seinerzeit dem Chef gegenüber, wie sie ein empörtes Beben unter Kontrolle brachte, um mit sanften Worten seine übergriffigen Ratschläge zu parieren und den Bericht zukünftig in einer Weise zu erhalten, die in ihre Befugnisse nicht eingriff, und der erzählende Kranich schüttelte seinen Kopf und seine Flügel und eilte, sich am Fenster des Kreativbüros niederzulassen, wo er Mos Neugierde zu wecken und der Kreativleitung zur Hand zu gehen gedachte.
Sonntag, 15. Juni 2008
367.
Mo war kurz erwacht und hatte unwillig gegrunzt, als sie bemerkt hatte, daß sie tatsächlich geweckt worden war, sie hatte die Kreativleitung verwundert und sogar ein wenig verwundet angeschaut und gefragt, seit wann bist du so zu mir, wieso wartest du nicht, bis ich von mir aus aufwache, und die Kreativleitung hatte gesagt, schon gut, verzeih, ich wollte so gern mit dir sprechen, und Mo hatte gesagt, bitte lass mich, und die Kreativleitung hatte sich dreingefügt und den komplizierten Auftrag von sich weg und aufgeschoben und sich lieber mit einem kleinen Stück für die B-Ebene befaßt, denn von Mo war ja offenkundig nicht viel zu erwarten heute, schade eigentlich, dachte sie, aber was willst du machen.
366.B
Es war ein Sonntag. Im arbeitsreichen Leben der Demokratiebeauftragten hatten diese gezählten Tage und ihre Austage über Jahre nicht viel bedeutet. Aber an diesem Wochenende hatte sie sich von Samstagmittag bis Sonntagmittag so etwas wie Freiheit von allen Gedanken über Jubiläen, über Aufträge, über Angelegenheiten von Verwaltung und Selbstverwaltung verordnet. Sie hatte sehr verschiedene Menschen gesehen, hatte bewirtet und sich bewirten lassen, hatte nachts die Spuren eines freundlichen Besuchs beseitigt, noch ein wenig an Lektüren genippt, ihr Kind begrüßt, als es nachhause kam, und war dann in einen tiefen, fast traumlosen Schlaf verfallen. Als sie nach vielen Stunden erwachte, schaute sie fast glücklich in den wie vom Sonnenlicht selbst bewegten Vorhang neben ihrem Bett. Sie erinnerte sich an Zeiten, in denen sie ganz glücklich und in Armen erwacht war - und sie erinnerte sich des Unglücks, durch das diese Zeiten unerbittlich ihrem Ende zugetrieben waren. Vielleicht hatte sie doch geträumt? Sie streckte sich, und jede lebendige Bewegung schien sie des glücklich gewonnenen Abstands zu jenen aufgewühlten Tagen zu vergewissern. Wie schön, sich zu strecken. Und welche grundstürzende Beunruhigung, damals. Es war still, nur wenige Geräusche drangen vom Hof mitten in der Stadt in ihr Zimmer. Welches Unrecht, dachte sie, ein langes, auf beiden Seiten. Und wie sinnlos es gewesen war, immer schon, darüber zu rechten. Wie sie es doch immer getan hatten, beide, bald der eine, bald die andere eifervoller im besinnungslosen Tun. Sie erinnerte sich, wie sie ein abscheuliches Verhalten an ihrem Gewissen vorbei gemogelt und sich zurecht geredet hatte. Sie erinnerte sich, wie wenig ihr ihre Einsicht vorher und nachher genützt hatte. Sie erinnerte sich, wie sie den, an dem sie nicht nur die Arme liebte, bewundert, gefürchtet und schließlich verletzt hatte. Sie erinnerte sich vieler Szenen, in denen sie die süßeste Überredung, derer sie, damals noch jung und durch eine gewisse Ansehnlichkeit unterstützt, fähig gewesen war, bemüht hatte, um von manchem Entlastung zu erwirken, das für sie in dieser Liebe schlimm und schwer gewesen war. Sie erinnerte sich, wie sie nach einem Exzess scheußlichen Verhaltens, mitten in allen inneren und äußeren Bedrängnissen und gegen den auch starken Impuls, sich zu rechtfertigen, für ihren Teil die Verantwortung übernommen und mehrfach und sehr ernst eine Verzeihung erbeten hatte. Wie traurig sie gewesen war, diese nicht zu bekommen. Und, sich noch einmal streckend und freudig das Sonnenlicht im Zimmer in sich aufnehmend, genoß sie den Augenblick der Ruhe. Ja, sagte sie sich (und einen strengen Zweifel im Kopf komplimentierte sie für den Augenblick ins Nebenzimmer) seltsam ist, wie frei man am Ende ist. Sie hatte angefangen, sich freier zu fühlen, als sie sich gesagt hatte, gut, vielleicht geht das eben nicht. Wie sie sich konsequent zurückgezogen hatte und ihre Restenergie auf anderes gewendet. Wie sie sich dann zuhause in Tagen und Nächten kummervollen Nachdenkens an dem Grundsatz festgehalten hatte: wenn einer nicht verzeihen will, dann ist das so. Dann bleibt es so. Und niemandem steht zu, ihn zu drängen. Sie hatte das immer so gesehen, wenn man sie hatte nötigen wollen. Sie sah es nun, da ihr nicht verziehen wurde, noch einmal ganz genau so, ja, es schien sich erst recht zu bestätigen. Damit waren der Kummer und der Verlust nicht verwunden, aber sie war jedenfalls mit sich in etwas, das ihr als ein „Reines“ erschien. Und erst, als nicht mehr übersehbar wurde, daß sich jemand allen Ernstes sehr heftig und wirksam zu rächen schien, geriet sie zunächst in äußere und dann auch in innere Nöte. Nicht so sehr, weil sie gedacht hätte, diese Rache wäre berechtigt gewesen. Verständlich mochte sie in Grenzen sein. Aber Rache ist nie berechtigt, dessen war sie sicher, auch wenn sie es zeitweilig sich vorsagen mußte, womöglich laut: Rache ist nie berechtigt, das hatte sie manchal, bevor sie ins Büro ging, vor sich hin deklamieren müssen, sie war es nicht, hatte sie sich gesagt, als ich Rache übte, und sie ist es auch nicht, wenn jemand sich an mir rächt. Rache ist immer nur dumm. Hätte man nun nicht denken sollen, mit diesem Grundsatz würde sie in Ruhe alles überstehen? Dieses hatten die philosophischen Lehrer ihrer Jugend in ihrer süßen Vernünftigkeit ihr wohl versucht zu vermitteln. Jetzt mußte sie darüber lachen, oder, wenn es besser ging, lächeln.
Denn ganz etwas anderes geschah: Die Verantwortung, die ihr zugewachsen war, als sie selbst um Verzeihung gebeten hatte, die wurde ihr im Zuge jenes Rachefeldzuges Stück für Stück wieder aus der Hand geschlagen. Es geschah ihr etwas wie eine Löschung, es war, als hätte sie nie die Verantwortung übernommen. Es war, als schriee ihr wo immer sie hin kam ein „schuldig, schuldig, schuldig“ entgegen. Es gab keine Geschichte. Es gab keine Komplikation. Es gab nichts, nur dieses anonyme „schuldig.“
Das machte sie völlig hilflos. Damit hatte sie nicht gerechnet, damit konnte sie auch nichts verbinden. Denn es war ohne jeden Zweifel Unrecht. Alles dieses spielte sich irgendwo ab, in einem Raum, der nicht existierte, und doch alles vergiftete.
So blieb sie, obwohl oder weil ihre Liebe – diese Liebe als die Liebe überhaupt – ihr viel bedeutet hatte, persönlich lange unverbunden. Die Gründe waren verschieden und verstärkten sich gegenseitig. Da war der Verlust des Bestimmten. Dieser war der Grund im Glück, das sie genossen hatte. Es ist eben nicht egal, in wessen Armen man erwacht. Das war aber nur das eine. Das, von dem man weiß, wenn man es weiß: es wird irgendwann abgetrauert sein.
Es gab aber ein anderes, und das war viel schlimmer, beunruhigender. Es wollte ihr einfach nicht einleuchten, wie sich das kurze und heftige, noch viel weniger das lange und tiefgehende Glück der Liebe zwischen zweien so verwandeln konnte in ganze Feldzüge. Mit dem Gerede der Menschen drumherum konnte sie nicht viel anfangen. „Rosenkriege,“ du lieber Gott, genausogut kannst du vom Weihnachtsmann reden. Die Leute meinten es nicht so, aber es kam eben fast nur peinigendes Nichtverstehen und Bramabasieren, lächerliche Systemlogiken, sabbernder Voyeurismus, wohlmeinender Stumpfsinn – aber nichts, das irgendetwas mit dem zu tun haben konnte, was sie empfand. So zog sie es vor, dies alles für lange zu vergessen und zu begraben und nicht mehr links oder rechts zu schauen, vielmehr die bestimmte Kammer, die ihr so viel bedeutet hatte und aus der so viel wirklich gefährlicher Stoff in ihr Leben gekommen war, zu verschließen. Das war lange ein Raub, ein schlimmer. Es war wie eine Amputation, eine, die sie nie als eine freiwillige oder von ihr aus ernsthaft nötige empfand. Ab und zu ging sie in die Kammer und sah sich um, sah alles an, was darin herumstand. Dann dachte sie, sie sollte einmal ans Fenster dieser Kammer gehen und es öffnen. Aber wann immer sie sich dem Fenster näherte: Es war, als wäre dieses Fenster, durch das sie von klein auf Sonnenlichteinfall und hübsche oder doch aufregende Geräusche, ein beglückend streichelndes Lüftchen oder eine frische Brise erwartet hatte, geschlossen worden, als wäre es ferner mit Brettern zugenagelt und als wären diese Bretter mit Mörtel ausgestrichen worden, es war, als stünden auf den Brettern grell warnende Hinweise, die besagten, daß bei Öffnen dieses Fensters etwas hereinkommen würde, das den ganzen Bau noch mehr verdunkeln würde als es das verschlossene Fenster schon tat, als würde statt frischer Luft stickigste Verpestung eindringen, zusammen mit groben, verletzend herumfliegenden Teilchen, die ihr den Atem nehmen und die Haut ritzen würden, und als würden, wenn man auch nur versuchen würde, die Bretter zu entfernen, bereits schwere Schäden zu erwarten sein, die dann möglicherweise nicht nur diese Kammer, sondern die ganze Wohnung betreffen würden. Jedes Mal, wenn sie diese Kammer ihres Innern betrat, nahm die Demokratiebeauftragte etwas von dem, was da herumstand, mit nach draußen. Jedes Mal versuchte sie, etwas in der Kammer so zu verändern, daß sie ein wenig angenehmer würde, etwas wohnlicher aussähe, auch wenn sie wohl noch eine Weile unbewohnbar sein würde. Aber an das Fenster wagte sie sich nicht mehr heran. Oft stand sie davor und dachte: es müßte doch möglich sein, diese Barrikaden einmal abzunehmen. Wenn ich durch die anderen Fenster meiner Wohnung nach draußen schaue, sehe ich doch Licht und Sonne, natürlich gibt es Pollen in der Luft, die mir die Augen röten und mich niesen oder auch husten lassen, aber insgesamt ist der Wind doch schön, ob stark oder schwach, und der Regen ist heftig oder sanft, und die Sonne ist in allen Farben warm, natürlich gibt es den Lärm der Straße und des Hofes, natürlich Baufahrzeuge und was nicht alles, aber es ist doch immer so, daß ich am Fenster stehe, es öffne oder schließe, und immer finde ich irgendeinen Winkel in der Wohnung, an dem das, was gerade getan werden soll oder muß, getan werden kann. Was also ist hinter diesem Fenster so schlimm?
Und sie wunderte sich, verließ die Kammer dann regelmäßig wieder, ging ihrer Arbeit nach und kümmerte sich um ihr Kind und um Menschen, wie sie kamen und gingen, auftauchten und verschwanden, und freute sich, daß es die EinSatzLeitung und ihre lieberen und ihre ihr nicht ganz so lieben Kolleginnen und Kollegen dort gab.
Und nun war also Sonntag. Sie war ausgeschlafen. Vielleicht sollte man es nicht gerade Glück nennen, aber mindestens fast Glück. Das Kind war überraschenderweise auch ausgeschlafen. Es war Juni. Es gab eine Stunde Zeit für ein gemeinsames Frühstück auf dem Balkon. Das Kind vergewisserte sich der Erzählung, wie es in die Welt gekommen, und betrachtete sich, wie es jetzt darinnen war. Die Demokratiebeauftragte betrachtete das Kind. Das war Glück.
Denn ganz etwas anderes geschah: Die Verantwortung, die ihr zugewachsen war, als sie selbst um Verzeihung gebeten hatte, die wurde ihr im Zuge jenes Rachefeldzuges Stück für Stück wieder aus der Hand geschlagen. Es geschah ihr etwas wie eine Löschung, es war, als hätte sie nie die Verantwortung übernommen. Es war, als schriee ihr wo immer sie hin kam ein „schuldig, schuldig, schuldig“ entgegen. Es gab keine Geschichte. Es gab keine Komplikation. Es gab nichts, nur dieses anonyme „schuldig.“
Das machte sie völlig hilflos. Damit hatte sie nicht gerechnet, damit konnte sie auch nichts verbinden. Denn es war ohne jeden Zweifel Unrecht. Alles dieses spielte sich irgendwo ab, in einem Raum, der nicht existierte, und doch alles vergiftete.
So blieb sie, obwohl oder weil ihre Liebe – diese Liebe als die Liebe überhaupt – ihr viel bedeutet hatte, persönlich lange unverbunden. Die Gründe waren verschieden und verstärkten sich gegenseitig. Da war der Verlust des Bestimmten. Dieser war der Grund im Glück, das sie genossen hatte. Es ist eben nicht egal, in wessen Armen man erwacht. Das war aber nur das eine. Das, von dem man weiß, wenn man es weiß: es wird irgendwann abgetrauert sein.
Es gab aber ein anderes, und das war viel schlimmer, beunruhigender. Es wollte ihr einfach nicht einleuchten, wie sich das kurze und heftige, noch viel weniger das lange und tiefgehende Glück der Liebe zwischen zweien so verwandeln konnte in ganze Feldzüge. Mit dem Gerede der Menschen drumherum konnte sie nicht viel anfangen. „Rosenkriege,“ du lieber Gott, genausogut kannst du vom Weihnachtsmann reden. Die Leute meinten es nicht so, aber es kam eben fast nur peinigendes Nichtverstehen und Bramabasieren, lächerliche Systemlogiken, sabbernder Voyeurismus, wohlmeinender Stumpfsinn – aber nichts, das irgendetwas mit dem zu tun haben konnte, was sie empfand. So zog sie es vor, dies alles für lange zu vergessen und zu begraben und nicht mehr links oder rechts zu schauen, vielmehr die bestimmte Kammer, die ihr so viel bedeutet hatte und aus der so viel wirklich gefährlicher Stoff in ihr Leben gekommen war, zu verschließen. Das war lange ein Raub, ein schlimmer. Es war wie eine Amputation, eine, die sie nie als eine freiwillige oder von ihr aus ernsthaft nötige empfand. Ab und zu ging sie in die Kammer und sah sich um, sah alles an, was darin herumstand. Dann dachte sie, sie sollte einmal ans Fenster dieser Kammer gehen und es öffnen. Aber wann immer sie sich dem Fenster näherte: Es war, als wäre dieses Fenster, durch das sie von klein auf Sonnenlichteinfall und hübsche oder doch aufregende Geräusche, ein beglückend streichelndes Lüftchen oder eine frische Brise erwartet hatte, geschlossen worden, als wäre es ferner mit Brettern zugenagelt und als wären diese Bretter mit Mörtel ausgestrichen worden, es war, als stünden auf den Brettern grell warnende Hinweise, die besagten, daß bei Öffnen dieses Fensters etwas hereinkommen würde, das den ganzen Bau noch mehr verdunkeln würde als es das verschlossene Fenster schon tat, als würde statt frischer Luft stickigste Verpestung eindringen, zusammen mit groben, verletzend herumfliegenden Teilchen, die ihr den Atem nehmen und die Haut ritzen würden, und als würden, wenn man auch nur versuchen würde, die Bretter zu entfernen, bereits schwere Schäden zu erwarten sein, die dann möglicherweise nicht nur diese Kammer, sondern die ganze Wohnung betreffen würden. Jedes Mal, wenn sie diese Kammer ihres Innern betrat, nahm die Demokratiebeauftragte etwas von dem, was da herumstand, mit nach draußen. Jedes Mal versuchte sie, etwas in der Kammer so zu verändern, daß sie ein wenig angenehmer würde, etwas wohnlicher aussähe, auch wenn sie wohl noch eine Weile unbewohnbar sein würde. Aber an das Fenster wagte sie sich nicht mehr heran. Oft stand sie davor und dachte: es müßte doch möglich sein, diese Barrikaden einmal abzunehmen. Wenn ich durch die anderen Fenster meiner Wohnung nach draußen schaue, sehe ich doch Licht und Sonne, natürlich gibt es Pollen in der Luft, die mir die Augen röten und mich niesen oder auch husten lassen, aber insgesamt ist der Wind doch schön, ob stark oder schwach, und der Regen ist heftig oder sanft, und die Sonne ist in allen Farben warm, natürlich gibt es den Lärm der Straße und des Hofes, natürlich Baufahrzeuge und was nicht alles, aber es ist doch immer so, daß ich am Fenster stehe, es öffne oder schließe, und immer finde ich irgendeinen Winkel in der Wohnung, an dem das, was gerade getan werden soll oder muß, getan werden kann. Was also ist hinter diesem Fenster so schlimm?
Und sie wunderte sich, verließ die Kammer dann regelmäßig wieder, ging ihrer Arbeit nach und kümmerte sich um ihr Kind und um Menschen, wie sie kamen und gingen, auftauchten und verschwanden, und freute sich, daß es die EinSatzLeitung und ihre lieberen und ihre ihr nicht ganz so lieben Kolleginnen und Kollegen dort gab.
Und nun war also Sonntag. Sie war ausgeschlafen. Vielleicht sollte man es nicht gerade Glück nennen, aber mindestens fast Glück. Das Kind war überraschenderweise auch ausgeschlafen. Es war Juni. Es gab eine Stunde Zeit für ein gemeinsames Frühstück auf dem Balkon. Das Kind vergewisserte sich der Erzählung, wie es in die Welt gekommen, und betrachtete sich, wie es jetzt darinnen war. Die Demokratiebeauftragte betrachtete das Kind. Das war Glück.
Samstag, 14. Juni 2008
366.
Die Kreativleitung war noch sehr bewegt vom Anblick des Herrn Y, als sie sich in ihrem Büro das Ansinnen des Herrn X durch den Kopf gehen ließ, sie versenkte sich in ihren Sessel, den sie zuvor ein wenig näher an den Wandteppich gezogen hatte, und sie wünschte, sie könnte dies alles mit dem Kwaliteitswart und ihrer Assistentin besprechen - aber die Assistentin mußte mit der Demokratiebeauftragten, dem Buchhalter und den Resten der Öffentlichkeitsabteilung über irgendwelche sinnvollen Reformen der Sitzungsordnung und der Jubiläen weiterverhandeln, der Kwaliteitswart war mit Recht und Grund vollkommen berauscht von dem orgiastisch guten Fußball "seiner" Mannschaft und trieb sich irgendwo in den Fluren oder draußen im Lande herum, und daß manche frankophilen Damen aus der EinSatzLeitung leise seufzend sagten, mit Zinedine Zidan wäre das nicht passiert, focht ihn überhaupt nicht an in seinem unentwegten Strahlen, welchem man nichts verdenken konnte (weiter wollte die Kreativleitung für heute keinesfalls über dieses Gesicht nachdenken, wohl ahnend, daß derartige Gedanken sie doch auf seltsame Wege würden bringen können), Mo hatte sich zu tiefem Schlaf eingerollt und würde erwachend erstmal wieder nur Apfel und Ahornsirup im Sinne haben, also mußte es der Kreativleitung irgendwie allein gelingen, in der Zeit, in welcher der stets umtriebige Herr X seine mehr oder weniger absurden Anliegen unermüdlich be- und verfolgen würde, einen Weg zu finden, wie aus seinem Auftrag etwas gemacht werden könnte, das weiteren Schaden von Herrn Y abwenden würde, ohne Herrn X zu weiterem Wüten zu reizen, und sie stupste in einem Anfall von Ungeduld das kleine schnarchende und schnaufende Mo ein wenig mit dem Fuße an, denn wer wenn nicht Mo konnte ihr in dieser Lage weiterhelfen?
Freitag, 13. Juni 2008
365.
Mit glänzenden Augen kam der Buchhalter ins Chefbüro gestürmt, es fiel ihm, seit dort die Demokratiebeauftragte den Drehstuhl bewohnte, noch etwas schwer, nach dem Anklopfen abzuwarten, bis er wirklich hereingebeten wurde (und seltsamerweise hatte ja der Chef von der segensreichen Einrichtung eines Vorzimmers selbst nie etwas gehalten und entsprechend auch nichts hinterlassen), zumal an diesem Tage, denn mochte er auch sich gewöhnt haben an kleine Unregelmäßigkeiten im Sitzungsturnus während der Übergangszeit, so erschien es ihm doch vollkommen unhaltbar, daß man eine Zahl wie die 365, welche ein Jahr EinSatzBuch markierte, einfach so übergehen sollte, und er stolperte geradezu über seine eigenen Füße, weil er sich gar nicht vorstellen konnte, wie er seine Empörung über die Schlamperei dieser gräulichen Tante mit dem nun einmal einer Chefin gegenüber zu bezeugenden Respekt in irgendeine Harmonie bringen sollte, in einer weiteren Komplikation wurde seine durch die Jahreszahl stimulierte Zahlenlust von der Tatsache, daß nun auch noch Freitag der 13. war, empfindlich gestört, denn einen Hang zum Aberglauben hatte er doch, und als er schließlich der Demokratiebeauftragten gegenüber saß, die ihn, sein echauffiertes Geraschel und Gehampel freundlichst übersehend, so wie sie sich andererseits während seiner persönlichen leibseelischen Renovierungsphase angewöhnt hatte, völlig unbeteiligt an allem vorbei zu sehen, was er sich an Raffinessen zugelegt hatte, die seiner Ansicht nach (und nach Auskunft aller von ihm konsultierten Rezepte) weibliche Aufmerksamkeit unwiderstehlich anziehen müßten, weshalb er sie nicht nur den jüngeren Damen der EinSatzLeitung, sondern durchaus auch ihr gegenüber stets pfauenradartig präsentiert hatte, als er nun also etwas unbalanciert mit seinem Anliegen heraus kam, daß doch der Jahrestag begangen werden müsse, da sagte sie ihm einen höflichen Dank für den Hinweis, sie habe den Termin durchaus nicht vergessen, bitte aber darum zu beachten, daß das EinSatzBuch ja erst mit der Zahl 22 beginne, weshalb man noch 22 Tage Zeit habe, den wirklichen Jahrestag vorzubereiten, und sie wäre ihm sehr verbunden, wenn er dabei eine aktive Rolle übernehmen würde, selbstverständlich müssten auch der Chef und seine Gattin eingeladen und in die Vorbereitungen einbezogen werden, und der Buchhalter war nun noch verwirrter als zuvor, denn damit hatte er tatsächlich nicht gerechnet, ist das richtig, nein, das ist nicht ganz richtig, mit ihrer Schnippischkeit hatte er sehr wohl gerechnet, aber die Merkwürdigkeit mit der 22 war ihm völlig entfallen.
Donnerstag, 12. Juni 2008
364.
Der klitzekleine Forschungsminister saß – abseits vom Fußballtrubel und in Unkenntnis der neueren Entwicklungen im Falle der Herren X und Y – mit dem stillen Theologen im neuerdings diesen beiden völlig zur freien Gestaltung überlassenen ehemaligen Büro der Demokratiebeauftragten und sonnte sich in seinem eigenen kleinen Glanze, welcher ihm, seit er ohne sie selbst vor Augen zu haben auf dem früheren Schreibtisch der Demokratiebeauftragten residierte, besonders hell erschien, und er sagte zum stillen Theologen, siehst du, in Wahrheit und Wirklichkeit bin ich natürlich ganz groß, das sieht nur keiner, aber eines Tages, da werdet ihr es alle sehen, und dann und dann und dann, und der stille Theologe sah ihn ein wenig gerührt an, ja, es rührte ihn das Schicksal des Geschrumpften und diese niedliche Art, es zu verarbeiten, natürlich waren die Auswüchse solcher Verarbeitung überhaupt nur erträglich durch den Kontrast zu den sichtbaren Realien, aber eben durch diese wurde er schon süß, auf eine Weise sogar süßer als jedes Süßholz, das der stille Theologe selbst ihm zum Troste hätte raspeln können, süßer auch als alle Lakritze, die er nebenher als letztes Suchtmittel in seinen Mund stopfte, und er sagte, ja, mein lieber Herr Forschungsminister, einige hier in der EinSatzLeitung sehen es ja schon jetzt, gleichsam wie ein Astralleib umweht Sie Ihre Größe, und wenn Sie einen Raum betreten, ist dieser sogleich wie ganz mit Ihnen ausgefüllt, nur müssen wir dennoch für Sie ein Plätzchen finden, auf dem Sie auch real bequem sitzen können, wenn Sie an unseren Diskussionen teilnehmen, und wo finden wir bitte dieses, wenn nicht etwa an jenem hübschen kleinen Tischchen, das wir eigens für Sie hier im Büro aufstellen könnten, oder eben in jenem herrlichen Hochstühlchen, das Sie befähigen würde, auch an den Sitzungen der EinSatzLeitung völlig autonom teilzunehmen, aber der klitzekleine Forschungsminister, der um keinen Preis wieder in einen Kindersitz geschnallt werden wollte, sagte, man wächst nicht nur mit seinen Aufgaben, man schrumpft auch mit ihnen, und er verzog seinen Mund zu einem trotzigen Schmollen.
Mittwoch, 11. Juni 2008
363.
Der Mann im Chefbüro, aufmerksame Leser ahnten es schon, war Herr Y, der sich – von der Demokratiebeauftragten durch Boten dazu eingeladen – doch einmal in die EinSatzLeitung bemüht hatte, und der nun also da saß, seiner freundlichen Gastgeberin gegenüber, ein eingefallener und wohl eher kleiner Mensch mit Resten von rötlichen Löckchen um seinen großen Schädel, ein Mensch, der trotz einer leichten Dicklichkeit um die Hüften einen insgesamt hageren Eindruck machte, ein Mensch mit einem tief resignierten, etwas gelblich-bleichen und seltsam erloschenen Gesicht, ein Mensch, der aus Mangel an eigener Bosheit und Gewaltneigung einfach nie wirklich verstehen konnte, wie ihm das Widerwärtige widerfahren konnte, das ihm nun einmal geschehen war, ein Mensch, der eher immer weiter wegstolpern als sich durch irgendwelche Maßnahmen zu idiotischen und aussichtslosen Kämpfen hinreißen lassen würde, ein Mensch, der freilich auch niemals einem, welcher ihn etwa überwältigte, den Gefallen würde tun können, diesem nun besondere Aufmerksamkeit und Neugierde, gar Sympathie und loving kindness zuzuwenden, ein Mensch kurzum, den seine Freiheitssucht und seine mangelnde oder durch allzu viele Niederlagen totfrustrierte Bereitschaft, sich mit den üblichen Mitteln durchzusetzen, zusammen mit einer gewissen manch kreativem Menschen eigenen Freundlichkeit in eine ewige Flucht genötigt hatten, ein Mensch, der, obgleich völlig verstummt, doch ständig zu singen schien, wie er geweint hatte, als er an den Wassern Babylons gesessen und genötigt worden war, seinen Feinden ein Lied zu singen, ein Mensch, dessen Lied, wenn man es denn würde hören können, wohl überall hin seine sehnsüchtigen Worte reckte, aber sicher nicht dahin, wo die Feinde es würden hören wollen, ein Mensch, der Worte seines Liedes vielmehr wie ein kostbares Manuskript über die beschwerliche Grenze zum Verstummen gerettet zu haben schien, ein Mensch kurzum, der von einer unheilbaren Verzweiflung offenkundig befallen war, von welcher er freilich kurze Pausen zu machen schien, wenn man ihn wirklich durch keine Neugierde und keine Besorgnis zwang, über seine Lage zu sprechen, ein Mensch, der nun also dem Ruf der Demokratiebeauftragten gefolgt und durchaus und ganz und gar gekommen war, ein Mensch, der trotz der unübersehbaren Gegenwart seiner Verzweiflung überhaupt den Eindruck erweckte, lebhafter Aktivität und großer menschlicher Aufmerksamkeit, ja, sogar einer umständlichen und zugleich unkomplizierten Fürsorge fähig zu sein, aber absolut keine nötigenden und manipulativen Maßnahmen zu ertragen, ein Mensch, der offenbar von einem anderen, welcher ihn nicht interessierte, aber sein Interesse durchaus erzwingen wollte, mit einem Stein verwechselt worden war, ein Mensch, den jener andere, der ihn mit einem Stein verwechselte, nun durch steten Tropfen auszuhöhlen gedachte, um sich in der so entstandenen Höhle recht komfortabel einzurichten, ein Mensch, dem es nicht gelingen wollte zu zeigen und wirksam zur Geltung zu bringen, daß er keineswegs ein Stein sei, sondern ein Zuckerklumpen, welcher bei ständiger Betropfung mit Wasser zu süßem Sirup wird, zu einem Sirup, der dann einfach im Boden versickert, sinnlos, völlig sinnlos in seiner Süßigkeit – und als die Kreativleitung diesen Menschen sah, kamen ihr die Tränen, sie wäre am liebsten aus dem Raume gegangen, so hoffnungslos ward ihr zumute bei seinem Anblick, und so blieb sie und sagte, okay, wir nehmen den Auftrag dieses Herrn X an, und dann schaun wir mal, wie das ausgeht.
Dienstag, 10. Juni 2008
362.
An die Ungelöstheit des Falles von X und Y schienen sich alle mehr oder weniger gewöhnt zu haben: die Gattin Ö rumorte in ihrer neuen kleinen Behausung, hatte sich leidlich eingerichtet, telefonierte dann und wann mit dem Haushalt des ehemaligen Chefs und dachte in ihren handwerklichen Betätigungen außer über kommende Aktivitäten auch noch darüber nach, wie großartig doch Shakespeare in seiner "Zähmung der Widerspenstigen" jene offenbar unausrottbaren kollektiven Phantasien in Sprache gesetzt hatte, welche sich gerade wieder über eine Senatorin in den Vereinigten Staaten ergossen, jene Phantasien, nach denen man eine Frau nur gründlich brechen müsse, um sodann in den Genuß der wundervollsten Liebenswürdigkeit zu kommen, ja, sagte sie sich seufzend, Shakespeare wußte, was Männer wünschen, und er konnte es wundervoll so darstellen, daß es aussah, als entspräche dies auch dem, was Frauen wünschten, und sie freute sich, daß ihr eigener Sohn mehr Interesse an lustiger Musik zeigte als an irgendwelchen Neuauflagen dieser blödsinnigen alten Geschichten und gedachte, sich in der nächsten Zeit im Entwerfen und Nähen und Verkaufen von hübschen Kleidungsstücken zu üben; die Kreativleitung unterhielt sich mit einem wiedererwachten Mo über Fragen von Schnee und Regen, die Herren waren sämtlich mit Fußball beschäftigt, der Kwaliteitswart hatte nach dem Sieg der niederländischen Mannschaft über Italien einen euphorischen Schub, welcher alle ansteckte und auch die Kreativleitung von ferne miterfaßte, obwohl diese sich wegen ihrer Teppicharbeiten wirklich sehr zurückhielt und glaubte, auch bei ihm eher in Vergessenheit geraten zu sein, die Assistentinnen hockten gemeinsam mit allen Mehrheitlern und Minderheitlern unablässig an den Bildschirmen, um auf Bälle und Beine und Bewegungen zu schauen, und selbst Mo befand, daß man nun auch wieder nicht immer über Schnee reden könne, und drängte nach einer Weile darauf, die Werkstatt zu verlassen, eine Bitte, der die Kreativleitung nach kurzem Zögern nachgab, sie schickte Mo also auf den Weg ins "Bistro" und beschloss, selbst einmal nachzuschauen, was eigentlich die Demokratiebeauftragte so trieb, und war einigermaßen überrascht, diese in Gesellschaft eines ihr bis dahin völig unbekannten Herren anzutreffen.
Montag, 9. Juni 2008
361.
Nun, Falschmeldungen bekommen wir hier jede Menge, sagte die Assistentin K mit einer an ihr ungewohnten Wichtigkeit zur Kreativleitung, als beide wieder vor dem Wandteppich standen und die Kreativleitung laut murmelnd überlegte, man solle doch mal versuchen, jenen Satz der bisher schweigsamen Forscherin über Realität und Falschmeldungen produktiv zu machen, und nun enttäuschte die Assistentin ihre Vorgesetzte also vorsätzlich mit der Information, daß selbst der Anruf bei Karomütze und sein ganzes Gelaber (ja, so nannte sie das nun wieder) darüber ohne jeden Zusammenhang mit der sonst schweigsamen Forscherin gewesen sei, richtig ist, sagte sie, nun ihrerseits fast schon mit einer Karomütze auf dem Kopf (sieh mal an, dachte die Kreativleitung, ist sie verliebt, macht sie ihn nach, oweia, natürlich wuchs da nun keine Mütze auf dem Kopf der Assistentin, aber ihr Gesicht bekam diesen Ausdruck, den doch wohl jeder mit Augen als einen Ausdruck identifiziert haben würde, welchen man auf Karomützens Gesicht bei solchen Gelegenheiten kannte) wie ich aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen erfahren habe: tatsächlich war der Herr Y am Telefon, aber er hatte seinen Geheimhaltungswunsch so dringlich vorgebracht, daß Karomütze sich verzweifelt diesen Blödsinn ausgedacht hat, rücksichtsvollerweise auf Kosten einer nur selten auftauchenden Figur, so daß er glaubte, keinen großen Schaden anzurichten, und immer mit dem Hintergedanken, Mo wegzulangweilen (also die gut unterrichteten Kreise sind die von Karomütze und Assistentin, dachte die Kreativleitung, na das gibt ja was, dann noch so imitatorisch, aber die Jugend, mir kommt Mo dagegen alt, weise und sehr erwachsen vor), denn wenn Mo dabei geblieben wäre in ihrer törichten Versessenheit auf Nachrichten über Schnee, hätte die sich mit Sicherheit verplappert, nölte die Assistentin weiter - wie naseweis sie sein kann, dachte zärtlich die Kreativleitung, und sie sagte, ich hole uns erst einmal einen Kaffee, und dann sehen wir, ob wir nicht trotz aller dieser Komplikationen etwas aus jenem Satz der schweigsamen Forscherin, sei er nun gut zitiert oder gut ausgedacht, machen können.
Sonntag, 8. Juni 2008
360.
Wir werden die Aufklärung des Falles der Herren X und Y noch ein wenig aufschieben müssen, und auch Mo wird noch etwas warten müssen, bis sie ihr seltsames Interesse an Schnee gleichsam als Kollateralnutzen an diesem Fall und seiner Aufklärung wird nähren können (sie will das natürlich keineswegs einsehen, aber wir verlassen uns auf die Überredungs- und Trostkünste der Kreativabteilung und letztlich auch ein wenig auf ihre eigene nun doch schon öfter bewährte Zählebigkeit), denn Karomütze, als er endlich sein fesches Mobiltelefon eingeklappt hatte, sagte, am anderen Ende der Leitung sei die bisher meist schweigsame Forscherin gewesen, jene Person, die wenn überhaupt dann am ehesten noch mit dem klitzekleinen Forschungsminister, dem stillen Theologen oder der Demokratiebeauftragten zu reden, aber eben schwerpunktmäßig (so mußte er das ja ausdrücken) doch lieber zu schweigen pflegte, und just diese Dame habe also plötzlich einen Anfall von Logorrhoe gehabt, ausgerechnet in sein Telefon, ausgerechnet jetzt, da er doch einmal in Ruhe einen Kaffee mit der Assistentin...schon gut, komm zum Punkt, sagte diese, was war denn so dringend, und er sagte, sie habe sich mächtig empört, weil man ihr als einem alten und in vielem doch wichtigen, wenn auch verschwiegenen Mitglied der EinSatzLeitung nur wegen ihrer hauptberuflichen Bescheidenheit keine Mitteilung gemacht habe vom anstehenden Führungswechsel, und sie habe gesagt, einen derartigen Wechsel zu vollziehen, ohne zuvor kompetente Lageanalysen einzuholen, ohne die Archive zu erforschen und die wahrscheinlichsten Prognosen erstellen zu lassen, sei wirklich vollkommen unverantwortlich, etc. etc., und sie wisse nun gar nicht mehr, an wen sie sich überhaupt wenden solle mit ihrer Erwägung, die Mitgliedschaft zu kündigen, sie könne nun ohne Hintergrundinformationen nicht einfach die Demokratiebeauftragte ansprechen, und irgendwie muß sie gedacht haben, daß ich ihr weiterhelfen würde, sagte Karomütze, dem das erst während seiner Erzählung komisch vorkam, aber dann muß ihr klargeworden sein, daß ich da gar nichts machen könnte, übrigens auch nicht wollte, und dann ist sie in ein Lamento ausgebrochen, das ich nicht unterbrechen wollte oder konnte, zumal sie es in so allgemeinen Begriffen formuliert hat, daß ich es gar nicht alles verstanden habe, und da sagte die Assistentin, ach was, wir schreiben ihr einen Brief, in dem sie in aller Form über den Wechsel informiert wird, und dann soll die Demokratieabteilung, die sich eh umstrukturiert, was mit ihr anfangen, sie soll halt öfter mal was sagen, möglichst an die richtige Adresse, ich weiß gar nicht, warum du dich da so angestellt hast, und Mos Gesicht schrumpelte zusammen vor Enttäuschung, daß nichts, aber auch gar nichts hier in diesem "Bistro" über Schnee in Erfahrung zu bringen war, erreichte wieder durch bloßes aufforderndes Gebaren, daß die Assistentin K sie vom Tisch hob und prüfte, ob die Tür zum Kreativbüro auch offen wäre, trippelte, solange noch ein wenig Kraft in ihr war, hinein, legte sich auf ihr Fell und versank wieder einmal in allertiefsten Schlaf.
Samstag, 7. Juni 2008
359.
Die Tür zum "Bistro" stand zum Glück für Mo meistens offen, so auch heute, und Mo, die sehr schnell in ihre Richtung getrippelt war, blieb nun doch etwas zögerlich neben der unteren Türangel stehen, denn sie sah, daß die Assistentin K mit etwas bedrücktem Gesicht in einer Zeitung blätterte, während der Kollege mit der Karomütze sein mobiles Telefon an ein überaus angespannt dreinblickendes Gesicht gepreßt hielt, ohne mehr als ein gelegentliches "Hm" oder "Ja" oder "Verstehe" von sich zu geben, und Mo fragte sich, was sie tun könne, um herauszubekommen, ob da am anderen Ende der Leitung möglicherweise der Herr Y mit seinem besonderen Gespür für Schnee war, oder ob es sich eher um etwas anderes handele, etwa den Anruf des Leiters Ö oder dergleichen, für den sie sich nicht zu interessieren wünschte, war ihr doch ohnehin klar, daß Herr Ö vermutlich auf der Veranda eines schönen Hotels in der Schweiz sitzen würde, begleitet oder unbegleitet, und daß er damit beschäftigt sein würde, in seinem Kopfe eine Geschichte zurechtzulegen, die sein Verhalten so weit rechtfertigen könnte, daß er damit wieder vor- und zurückzupreschen imstande sein würde, nein, also wenn der es wäre, dachte Mo, dann würde Karomütze nicht so angespannt lauschen, sondern fachmännisch dazwischen brabbeln, es wird also vielleicht wirklich jener Herr Y sein, der mußte doch auch einen richtigen Namen haben, dachte sie dann, zu gern hätte sie gewußt, wie dieser Name lautete, er hätte ihr vielleicht auch etwas verraten können über ihn und über Schnee, und sie fühlte wieder diese innere Ungeduld, die sie überkam, wenn sie nur daran dachte, sie zappelte ein wenig von einem Bein auf das andere, und dabei mußte sie ein Geräusch verursacht haben, denn die Assistentin K blickte von ihrer Zeitung auf und sagte, ach du bists, Mo, komm doch herein, was machen die Texte, und Mo dachte, Texte, Texte, immer wollen sie nur Texte von mir, aber sie freute sich doch, als die Assistentin sie vorsichtig auf den Tisch hob und ihr gleich etwas Ahornsirup auf ein Stück von dem Hörnchen träufelte, das sie noch auf ihrem Teller liegen hatte, nur aus Karomützens Gespräch war einstweilen gar nicht schlau zu werden, die Anspannung ließ sich auch weder wegkauen noch weglesen noch wegplappern, obwohl das noch das Beste war, so daß also die Assistentin K und das kleine Mo sich ehrerbietig ereiferten über die Nachrichten aus Zimbabwe, wo wie jeder zugeben würde dringend sehr viel befreit werden mußte.
Freitag, 6. Juni 2008
358.
Als die Demokratiebauftragte das Telefonat mit dem Kinde beendet und den Hörer wieder abgelegt hatte, wickelte sich Mo aus dem Bündel der Kreativleitung und kletterte auf den Schreibtisch, um sich mit etwas verschmitztem Gesicht darüber zu beklagen, daß ihre alte Hippoparabel immer noch in irgendeiner Schublade herum liege, sie finde, man solle jetzt diese Herren X und Y einmal sich selbst überlassen und lieber aus dem Stoff, der noch vorhanden sei, ein paar gute Dinge machen, aber die Demokratiebeauftragte sagte, neue Aufträge würden schon gebraucht, und sie, Mo, sei nun einmal nicht im Bilde über die Angelegenheiten der Buchhaltung, sie versuchte, Mo zu überreden, sich aus diesem Gespräch, das doch wahrhaftig kompliziert genug sein würde, bitte einfach mal herauszuhalten, aber daran war natürlich überhaupt nicht zu denken, Mo sprang auf dem Schreibtisch herum, als hätte sie in ihrem Schlaf alle ihre Kräfte nur dafür gesammelt, hier im entscheidenden Augenblick zu stören, verzweifelt fragte sich die Demokratiebeauftragte, was wohl die Gattin des Chefs in solchen Momenten getan haben würde, und sie wollte gerade anfangen, per SMS den Minderheitler mit den grünen Borsten einzubestellen, damit er Mo mit etwas Honig und Apfel ins "Bistro" locke, als die Kreativleitung offenkundig eine wirksamere Idee hatte: sie sagte, es sei ihr zugetragen worden, daß jener Herr Y, dem es nicht gelingen wolle, sein Anliegen vorzubringen und der von dem potentiellen Auftraggeber X anscheinend so massiv geschädigt worden war, ein eigentümliches Verhältnis zu Schnee unterhalte, Karomütze, der gerade im "Bistro" mit Assistentin K einen Kaffee trinke, habe ihr zugetragen, Y sei imstande, noch im Juni...und da war Mo schon vom Schreibtisch geklettert, hatte so lange mit aufforderndem Blick aus riesigen Augen an der Tür gestanden, bis die Kreativleitung aufgesprungen war, um diese zu öffnen, und als Mo glücklich und flink Richtung "Bistro" davon getrippelt war, kehrte die Kreativleitung nicht an ihren Platz zurück, sondern ging ans Fenster, die Demokratiebeauftragte folgte ihr, man ließ sich im bequemeren hinteren Teil des Büros nieder und entschied recht zügig, den Auftrag zwar anzunehmen, aber so auszuführen, daß auf irgendeine Weise doch der Herr Y noch zur Sprache und vielleicht sogar zu etwas wie seinem Recht kommen würde, wobei die Demokratiebeauftragte ihre Freundin etwas bedauernd ansah, denn sie wußte, daß das kein leichter Job werden würde.
Donnerstag, 5. Juni 2008
357.
Wie gut, daß du es geschafft hast, sagte die Kreativleitung zu ihrer alten Freundin, welche ja nicht zum ersten Mal in jenem Chefsessel saß, wir werden das sicher bald mal feiern, wie geht es dir, und die Demokratiebeauftragte oder Chefin sagte, es gehe ihr gut, sie wisse noch nicht so genau, wie viele Veränderungen sie im Büro vornehmen wolle, sie denke über die Umverteilung mancher Posten nach, habe aber den Eindruck, daß dies die Kreativabteilung sicher nicht betreffen werde, da deren Arbeit ja unabhängig von allem anderen weiterlaufen werde, wie immer bei voller Souveränität der Kreativleitung, diese hatte keine Einwände, und schnell waren sie bei der amerikanischen Kandidatin, die Demokratiebeauftragte freute sich, daß es in der Gegenwart zu dieser Sache wenigstens an manchen Orten ein Gegenbeispiel gebe, so daß die Welt für Frauen nicht mehr kompakt geschlossen erscheine, dennoch sei ihr das Mediengeschwafel zum Thema streckenweise unerträglich, wie viele Tapferkeitsmedaillen soll diese Frau denn noch einfahren, und die Kreativleitung erinnerte daran, daß dieser Ausgang der Sache hiesigenorts leider von Anfang an als ausgemacht gegolten habe, und zwar nicht aus "prophetischer Begabung," sondern weil zwei bis drei emotionale und systematische Gesetzmäßigkeiten von vornherein dafür gesprochen haben, wenn es nicht Obama gewesen wäre, wäre es ein anderer gewesen (Mo regte sich ein wenig in ihrem Bündel, aber sie schlief schnell wieder ein, oder sie rollte sich still zusammen, um aufmerksam zu lauschen), die Demokratiebeauftragte sagte noch, lass uns heute mal für die finanzielle Unterstützung der afghanischen Frauenzeitschrift werben, die Franzosen wollen helfen, wir wollen das unterstützen, und die Kreativleitung sagte, okay, machen wir, nun aber zum ersten Grund meines Besuchs, was machen wir bitte mit den Herren X und Y?
Mittwoch, 4. Juni 2008
356.
Die Kreativleitung war ihrerseits ein wenig nervös, als sie mit einer Tasse Kaffee in der linken Hand, dem Bündel mit Mo auf der rechten Hüfte und den ersten Entwürfen zu jenem unerfreulichen Auftrag in der rechten Hand ihren Körper verzweifelt nach einer dritten Hand absuchte, mit der sie an die Tür vom Chefbüro hätte klopfen können, natürlich fand sie wie üblich weder eine dritte noch eine vierte noch eine fünfte Hand, sie war ja schließlich nicht die Göttin Kali, sondern nur eine einfache Textarbeiterin, und so benutzte sie, wie sie es von früh an in solchen Verlegenheiten sich angewöhnt hatte, den linken Fuß zum Anklopfen und zum Öffnen der Tür, eine Gewohnheit, welche die Demokratiebeauftragte an ihrer Freundin natürlich schon kannte, ebenso wie die gewisse Umständlichkeit, in die diese bei sonst passabel erscheinender Eleganz zu verfallen schien, sobald sie mehr als einen Gegenstand durch die Welt zu bewegen hatte, und sie lachte erleichtert, als das Gesamtkunstwerk es nun also geschafft hatte, einzutreten und auszusehen wie immer, obwohl freilich auch nicht zu übersehen war, daß die Kreativleitung, kaum hatte sie das Problem mit den zwei Armen wieder einmal bewältigt, nun ihren Kopf absuchte nach einem möglichen Verhalten, durch das einerseits die alte Vertrautheit erhalten, andererseits dem der neuen Situation geschuldeten Rangunterschied eine das Plumpvertrauliche ausschließende Achtung erwiesen werde, zum Glück für beide gab es das Ritual des "nimm doch bitte Platz," und von da aus führte sich das Gespräch dann schließlich gleichsam von ganz allein, aber uff, man soll solche Schwellen nicht unterschätzen.
Dienstag, 3. Juni 2008
355.
Die Demokratiebeauftragte - oder sollen wir sie ab jetzt Chefin nennen? - war an diesem Morgen früher als alle anderen in ihrem neuen geräumigen Büro, und während sie die Notizen, die der stille Theologe ihr auf den Schreibtisch gelegt hatte, anschaute, durchzuckte sie hier und da der gewohnheitsmäßige Impuls, sich für alles mögliche zu rechtfertigen, bis sie auf eine Notiz traf, aus der sehr eindeutig hervorging, daß sie, die als notorisch mißtrauisch Verschriene, mal wieder zu vertrauensselig gewesen war, hatte sie doch in einer von ihr für privat gehaltenen und im Zustand der Entspannung aufgesuchten Gesellschaft 1. der Humanität der Menschen zu viel zugetraut, indem sie arglos über eine von ihr sehr bewunderte Person eine kleine Schwäche als eine liebenswerte mitgeteilt hatte, wie selbstverständlich annehmend, daß die anderen diese Schwäche auch liebenswert finden würden, 2. aber denjenigen, die dort saßen, zu viel Anstand zugetraut und also nicht damit gerechnet, daß diese sofort gehässigst ihre Worte weiterleiten und der betroffenen Person das Gefühl tiefster Beschämung und Bloßstellung vermitteln würden, eine Sache, an der sie weniger die darin zum Ausdruck kommende rücksichtslose Feindseligkeit gegen sie selbst störte - mit dergleichen hatte man eben zu rechnen, wenn man Verantwortung übernahm - sondern vielmehr die ekelerregende Takt- und Geschmack- und Rücksichtslosigkeit gegen die von ihr so bewunderte Person, und sie nahm sich vor, noch viel genauer darauf zu achten, was sie wo sagte, und noch viel gründlicher alles zu anonymisieren, was sie irgendwo erzählte, mochte man auch ihr den entsprechenden Schutz auf die härteste Weise versagen, es wollte ihr vorkommen, als sei der in solchen Dingen sich voranbringenden Barbarisierung der Welt nur entgegenzuwirken, wenn man auf alle Weisen einen freundlichen Ton gegen jeden, der dessen nur irgendwie würdig erscheinen konnte, anschlug, wenn man die Schwächen enttabuisierte und den Leuten ihren anscheinend unausrottbaren Wunsch danach, alles Menschliche bei sich selbst unter den Teppich zu kehren, alles Menschliche bei anderen bloßstellend hervorzuziehen, als eine vor allem überflüssige und hinderliche Maßnahme vor Augen hielt, und zugleich Menschen, die sich verhielten wie die Kolporteure der ihr nun so verzerrt zurück kolportierten Nachricht und sich geifernd auf jeden Fehler und jede Schwäche eines anderen stürzten, entschieden in ihre Schranken wies, nicht, indem man etwa selbst "Sündenregister" führte, sondern indem man alle derartigen Kolportagen, in denen sich ein entsprechender gehässiger Ton fand, ganz einfach vereiste, ja, dachte sie, vereisen, das ist das Richtige, das muß man auch keineswegs machtförmig machen, das geht durchaus anders, und dann sah sie, daß die Kreativleitung sich angemeldet hatte, oweia, dachte sie, jetzt muß sie sich plötzlich anmelden, um mit mir zu sprechen, und es wurde ihr seltsam zumute, denn sie fürchtete um ihre langjährige Freundschaft, da doch sich das Verhältnis nun sehr gewandelt hatte und sie plötzlich der Freundin "übergeordnet" war, eine irgendwie reichlich mißliche Position, fand sie, und sie hoffte sehr, daß sowohl sie selbst als auch die Freundin mit diesen neuen Verhältnissen würden umgehen können.
Montag, 2. Juni 2008
354.
Nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte, entschloß sich die Kreativleitung, ins Chefbüro zur Demokratiebeauftragten zu gehen und diese um Rat zu fragen, aber die Demokratiebeauftragte war nicht da, und an der Tür stand nur: "Befreit endlich Ehud Goldwasser, Eldad Regev und Gilad Shalit."
353.B.
Nach dem Besuch beim nunmehr ehemaligen Chef und seiner Gattin kehrte die Kreativleitung in ein ungewöhnlich stilles Büro zurück. Mo hatte es irgendwie geschafft, das Fell auf den Sessel zu bewegen (vermutlich hatte ihr alter Freund, der Minderheitler mit den grünen Borsten, ihr dabei geholfen, diesen nämlich hatte die Kreativleitung ins Büro schlüpfen sehen, als sie selbst gegangen war), und da lag sie nun in den Schattenlinien von Palmwedeln, wegen der Temperaturen ohne Schal, zusammengerollt wie eine versteinerte Schnecke, ganz grau, so fest schlafend, daß die Kreativleitung sie kurz berührte, um zu fühlen, ob überhaupt noch Leben in ihr sei. Dies schien der Fall zu sein, ein kleines Beben war die Reaktion des schlafenden Wesens auf die leichte Berührung.
Die Kreativleitung wischte sich etwas Schweiß von der Stirn, ließ sich nun also nicht, wie sie es sich unterwegs vorgestellt hatte, im Sessel nieder, legte sich auch nicht gleich auf ihren Teppich, sondern ging zuvor noch einmal an die Wand, an der das Gewebe des Wandteppichs hing, um zu überlegen, an welcher Stelle sie nun weiter arbeiten sollte. Mos bizarre Kreatur, der erzählende Kranich, hatte seine Schöpferin offenbar sehr angestrengt, und ohne Mos Hilfe konnte die Kreativleitung an dieser Stelle nicht weiter arbeiten. Warum schlief Mo so fest?
Es war wohl der Auftritt des unbekannten Gastes des Kwaliteitswart gewesen. Bevor die beiden ins "Bistro" gegangen waren, hatten sie gemeinsam die Kreativabteilung aufgesucht. Der Kwaliteitswart (von der Kreativleitung wie immer besonders herzlich begrüßt, sie errötete sogar ein wenig, weil sie fürchtete, man könnte ihr ihre übermäßige Freude anmerken) hatte gesagt, er wünsche den Damen einen sehr interessierten Auftraggeber vorzustellen. Dieser habe gehört, daß man im Kreativbüro besonders knifflige Fälle in Erzählungen fassen könne, welche zu Herzen gingen, und Herr X wünsche sich nun also die besonders hübsche Darstellung der folgenden Geschichte: Ein Mann, eben jener Herr X, habe vor Jahren einem anderen Mann, Herrn Y, einen Job abgejagt. Mit, zugegeben, etwas unlauteren und sogar brutalen Mitteln. Er habe das aber in gutem Glauben getan. Es sei ein schlechtbezahlter Job gewesen, undankbar usw., niemand habe sich vorstellen können, daß jener Herr Y, der diesen Job innehatte und ohne größere Anstrengungen zur Selbstdarstellung in seiner Bedeutung ihn regelmäßig und gut genug versah, besonders an ihm hängen würde, so daß Herr X durchaus glauben konnte, als besonders selbstlos zu gelten, wenn er diesen Job dem Herrn Y "abnehme." Zumal doch Herr Y alle Chancen auf viel großartigere Beschäftigungen gehabt habe. Die Dinge hatten dann aber eine merkwürdige Wendung genommen. Herr Y hatte es nicht verwinden können, wie übel man ihm zugesetzt hatte. Er sagte, er sei in seinem Job glücklich gewesen, er wolle nichts anderes, er hätte diesen Job ausbauen wollen, und er hätte vor allem selbst bestimmen wollen, wann er was tue. Herr Y nahm dann doch noch andere Tätigkeiten auf, zwischendurch auch solche, die besser bezahlt waren, als der Job, den Herr X ihm abgenommen hatte, aber das nützte nicht viel, weil Herr X ihn beklagte und bejagte und permanente Lastenausgleiche forderte, weil er den schlechter bezahlten Job, den er sich erraubt hatte, nun ausübte und damit zwar nicht viel gewonnen hatte, aber doch das Recht zu beständigem Klagen. Nun hätte Herr Y gern wieder seinen alten Job angenommen und nichts dagegen gehabt, wenn Herr X einen besser bezahlten Job gehabt und seinerseits für Lastenausgleiche zuständig gewesen wäre, aber dies suchte Herr X auf alle Weisen zu verhindern, wodurch er den Schaden für Herrn Y natürlich immer weiter vergrößerte. Er führte aber in seiner Selbstdarstellung den wachsenden Schaden Ys darauf zurück, daß dieser sich idiotisch anstelle, seine Niederlage nicht ertrage, überhaupt machtbesessen sei und verstockt und völlig behindert in seiner Wahrnehmung der Wirklichkeit. Herr X schickte sich an, der Welt zu beweisen, daß er auch andere Jobs noch besser könne als Herr Y, und irgendwie verbiß er sich regelrecht in die Idee, Y wirklich alles abzujagen, Herr Y wurde alles los, nur nicht diesen Herrn X, und Herr X war einerseits stolz darauf, andererseits aber unermüdlich darin zu beklagen, wie schlecht es ihm gehe im Vergleich zum Wohlleben des Herrn Y, das dieser angeblich auf Kosten des Herrn X führe. Herr X hatte ferner, um sich ins rechte Licht zu setzen sobald jemand Herrn Y kennenlernte und bemerkte, daß dieser eigentlich ein ganz freundlicher und eher bescheidener Herr sei, der einfach etwas gebrochen wirke, weil er offenbar nicht fassen konnte, wie man ihm zugesetzt hatte, und der darüber irgendwie das Interesse an sehr vielen Tätigkeiten und Menschen verloren hatte, aber immr noch alles, was er anfing, mit leichter Hand und großer Freundlichkeit und einem gewissen unverbissenen Erfolg tat, angefangen zu betonen, daß er selbst große und tiefe Sympathien und auch ein gewisses Mitleid für Herrn Y habe, der leider einfach etwas fehlgeleitet sei, unter der Anleitung des Herrn X aber sicher sehr schnell wieder zu etwas werden könne, was dann ganz wunderbar für alle Welt wäre, er müsse nur seine verstockte Erbitterung und Verbitterung gegenüber dem liebenswerten Herrn X aufgeben, schon wäre alles prima. Und dies tat Y nicht, er tat alles mögliche, aber er wollte partout nichts wissen von den Machenschaften des Herrn X, mit dessen anerkannter Übermacht er sich verachtungsvoll abgefunden hatte, verachtungsvoll gegenüber X selbst und ebenfalls gegenüber allen, die seine Geschichten glaubten. Y kümmerte sich nunmehr um alles, was ihm blieb, achtete, so gut es ging, auf das, was man ihm vom Leben ließ, und hoffte, irgendwann einmal völlig aus dem Wirkungsbereich des Herrn X zu verschwinden. Er war ein Mann, dem die Sympathien der Menschen leicht zuflogen, auch wenn mancher nicht verstand, warum er nicht größer leuchtete, da er doch offenbar große Fähigkeiten hatte. Die Xler hielten ihn zwar unerbittlich für zu stolz und zu arrogant, aber immer wieder kamen Unbefangene und schienen ihn zu mögen und sogar unterstützen zu wollen. Dieser bescheidene, aber unleugbare Erfolg des Y wurmte nun Herrn X, der seiner Ansicht nach alles getan hatte, um zu betonen, wie schlecht bezahlt und undankbar der Job war, den er ergaunert und erraubt hatte und nun über Jahre ausübte, er verwies auf das Luxusleben, das der Herr Y führe und schließlich, als dies alles nicht mehr half, darauf, daß er selbst in Wahrheit sehr liebenswert sei, was alle Welt wisse, nur jener mißgünstige Herr Y erkenne es nicht an. Und er werde nicht ruhen, bis endlich Herr Y zugebe und einräume und durch Gesten der Freundschaft beweise, wie liebenswert in Wahrheit Herr X auch ihm sei. Eben darum benötige er jetzt die Unterstützung der EinSatzLeitung und insbesondere des Kreativbüros. Aus dieser Geschichte also sollte die Kreativabteilung etwas machen, bei dem X endlich so gut dastehe, wie er es verdiene. Mo war, als der Begleiter des Kwaliteitswart diese Dinge entfaltete, grau geworden und hatte sich verzogen. Es schien sie an ihre Gefangenschaft zu erinnern, oder der Herr X an einen Wärter. Die Kreativleitung hatte schließlich mit einem bedauernden Blick auf den Kwaliteitswart die beiden bitten müssen, den Raum zu verlassen, und um Bedenkzeit gebeten, eine Bedenkzeit, in der sie dann erst einmal dem Chef und seiner Gattin ihren Besuch abgestattet hatte. Und nun saß sie also damit an und sollte entscheiden, was mit diesem Auftrag zu machen sei. Sie fühlte sich außerstande, so etwas zu entscheiden, sie wollte auf keinen Fall Mo mit einer Sache überfordern, die ihr Übelkeit bereiten würde, und so stand sie nun vor dem Wandteppich, in den der Auftrag auch nicht passen wollte, ratlos. Was für ein Zwangscharakter dieser X sein muß, dachte sie. Man merkte es ja schon an seinen Bewegungen. Und warum kann er nicht die Finger von Y lassen? Wir werden vielleicht einen Weg finden, ihn zufriedenzustellen, ohne Y weiter zu kompromittieren und zu bedrängen? Aber wie? Wie geben wir ihm das Gefühl, seinen Auftrag bestens zu erfüllen, und wie schaffen wir es, in Erfüllung seines Auftrages doch Y dazu zu verhelfen, daß er endlich aus dem Einflußbereich von X kommt und wieder Freude an den Dingen gewinnt, zu denen er anscheinend befähigt ist?
Und sie legte sich auf ihren Teppich, Füße auf den Drehstuhl, und versank in tiefes Nachdenken.
Die Kreativleitung wischte sich etwas Schweiß von der Stirn, ließ sich nun also nicht, wie sie es sich unterwegs vorgestellt hatte, im Sessel nieder, legte sich auch nicht gleich auf ihren Teppich, sondern ging zuvor noch einmal an die Wand, an der das Gewebe des Wandteppichs hing, um zu überlegen, an welcher Stelle sie nun weiter arbeiten sollte. Mos bizarre Kreatur, der erzählende Kranich, hatte seine Schöpferin offenbar sehr angestrengt, und ohne Mos Hilfe konnte die Kreativleitung an dieser Stelle nicht weiter arbeiten. Warum schlief Mo so fest?
Es war wohl der Auftritt des unbekannten Gastes des Kwaliteitswart gewesen. Bevor die beiden ins "Bistro" gegangen waren, hatten sie gemeinsam die Kreativabteilung aufgesucht. Der Kwaliteitswart (von der Kreativleitung wie immer besonders herzlich begrüßt, sie errötete sogar ein wenig, weil sie fürchtete, man könnte ihr ihre übermäßige Freude anmerken) hatte gesagt, er wünsche den Damen einen sehr interessierten Auftraggeber vorzustellen. Dieser habe gehört, daß man im Kreativbüro besonders knifflige Fälle in Erzählungen fassen könne, welche zu Herzen gingen, und Herr X wünsche sich nun also die besonders hübsche Darstellung der folgenden Geschichte: Ein Mann, eben jener Herr X, habe vor Jahren einem anderen Mann, Herrn Y, einen Job abgejagt. Mit, zugegeben, etwas unlauteren und sogar brutalen Mitteln. Er habe das aber in gutem Glauben getan. Es sei ein schlechtbezahlter Job gewesen, undankbar usw., niemand habe sich vorstellen können, daß jener Herr Y, der diesen Job innehatte und ohne größere Anstrengungen zur Selbstdarstellung in seiner Bedeutung ihn regelmäßig und gut genug versah, besonders an ihm hängen würde, so daß Herr X durchaus glauben konnte, als besonders selbstlos zu gelten, wenn er diesen Job dem Herrn Y "abnehme." Zumal doch Herr Y alle Chancen auf viel großartigere Beschäftigungen gehabt habe. Die Dinge hatten dann aber eine merkwürdige Wendung genommen. Herr Y hatte es nicht verwinden können, wie übel man ihm zugesetzt hatte. Er sagte, er sei in seinem Job glücklich gewesen, er wolle nichts anderes, er hätte diesen Job ausbauen wollen, und er hätte vor allem selbst bestimmen wollen, wann er was tue. Herr Y nahm dann doch noch andere Tätigkeiten auf, zwischendurch auch solche, die besser bezahlt waren, als der Job, den Herr X ihm abgenommen hatte, aber das nützte nicht viel, weil Herr X ihn beklagte und bejagte und permanente Lastenausgleiche forderte, weil er den schlechter bezahlten Job, den er sich erraubt hatte, nun ausübte und damit zwar nicht viel gewonnen hatte, aber doch das Recht zu beständigem Klagen. Nun hätte Herr Y gern wieder seinen alten Job angenommen und nichts dagegen gehabt, wenn Herr X einen besser bezahlten Job gehabt und seinerseits für Lastenausgleiche zuständig gewesen wäre, aber dies suchte Herr X auf alle Weisen zu verhindern, wodurch er den Schaden für Herrn Y natürlich immer weiter vergrößerte. Er führte aber in seiner Selbstdarstellung den wachsenden Schaden Ys darauf zurück, daß dieser sich idiotisch anstelle, seine Niederlage nicht ertrage, überhaupt machtbesessen sei und verstockt und völlig behindert in seiner Wahrnehmung der Wirklichkeit. Herr X schickte sich an, der Welt zu beweisen, daß er auch andere Jobs noch besser könne als Herr Y, und irgendwie verbiß er sich regelrecht in die Idee, Y wirklich alles abzujagen, Herr Y wurde alles los, nur nicht diesen Herrn X, und Herr X war einerseits stolz darauf, andererseits aber unermüdlich darin zu beklagen, wie schlecht es ihm gehe im Vergleich zum Wohlleben des Herrn Y, das dieser angeblich auf Kosten des Herrn X führe. Herr X hatte ferner, um sich ins rechte Licht zu setzen sobald jemand Herrn Y kennenlernte und bemerkte, daß dieser eigentlich ein ganz freundlicher und eher bescheidener Herr sei, der einfach etwas gebrochen wirke, weil er offenbar nicht fassen konnte, wie man ihm zugesetzt hatte, und der darüber irgendwie das Interesse an sehr vielen Tätigkeiten und Menschen verloren hatte, aber immr noch alles, was er anfing, mit leichter Hand und großer Freundlichkeit und einem gewissen unverbissenen Erfolg tat, angefangen zu betonen, daß er selbst große und tiefe Sympathien und auch ein gewisses Mitleid für Herrn Y habe, der leider einfach etwas fehlgeleitet sei, unter der Anleitung des Herrn X aber sicher sehr schnell wieder zu etwas werden könne, was dann ganz wunderbar für alle Welt wäre, er müsse nur seine verstockte Erbitterung und Verbitterung gegenüber dem liebenswerten Herrn X aufgeben, schon wäre alles prima. Und dies tat Y nicht, er tat alles mögliche, aber er wollte partout nichts wissen von den Machenschaften des Herrn X, mit dessen anerkannter Übermacht er sich verachtungsvoll abgefunden hatte, verachtungsvoll gegenüber X selbst und ebenfalls gegenüber allen, die seine Geschichten glaubten. Y kümmerte sich nunmehr um alles, was ihm blieb, achtete, so gut es ging, auf das, was man ihm vom Leben ließ, und hoffte, irgendwann einmal völlig aus dem Wirkungsbereich des Herrn X zu verschwinden. Er war ein Mann, dem die Sympathien der Menschen leicht zuflogen, auch wenn mancher nicht verstand, warum er nicht größer leuchtete, da er doch offenbar große Fähigkeiten hatte. Die Xler hielten ihn zwar unerbittlich für zu stolz und zu arrogant, aber immer wieder kamen Unbefangene und schienen ihn zu mögen und sogar unterstützen zu wollen. Dieser bescheidene, aber unleugbare Erfolg des Y wurmte nun Herrn X, der seiner Ansicht nach alles getan hatte, um zu betonen, wie schlecht bezahlt und undankbar der Job war, den er ergaunert und erraubt hatte und nun über Jahre ausübte, er verwies auf das Luxusleben, das der Herr Y führe und schließlich, als dies alles nicht mehr half, darauf, daß er selbst in Wahrheit sehr liebenswert sei, was alle Welt wisse, nur jener mißgünstige Herr Y erkenne es nicht an. Und er werde nicht ruhen, bis endlich Herr Y zugebe und einräume und durch Gesten der Freundschaft beweise, wie liebenswert in Wahrheit Herr X auch ihm sei. Eben darum benötige er jetzt die Unterstützung der EinSatzLeitung und insbesondere des Kreativbüros. Aus dieser Geschichte also sollte die Kreativabteilung etwas machen, bei dem X endlich so gut dastehe, wie er es verdiene. Mo war, als der Begleiter des Kwaliteitswart diese Dinge entfaltete, grau geworden und hatte sich verzogen. Es schien sie an ihre Gefangenschaft zu erinnern, oder der Herr X an einen Wärter. Die Kreativleitung hatte schließlich mit einem bedauernden Blick auf den Kwaliteitswart die beiden bitten müssen, den Raum zu verlassen, und um Bedenkzeit gebeten, eine Bedenkzeit, in der sie dann erst einmal dem Chef und seiner Gattin ihren Besuch abgestattet hatte. Und nun saß sie also damit an und sollte entscheiden, was mit diesem Auftrag zu machen sei. Sie fühlte sich außerstande, so etwas zu entscheiden, sie wollte auf keinen Fall Mo mit einer Sache überfordern, die ihr Übelkeit bereiten würde, und so stand sie nun vor dem Wandteppich, in den der Auftrag auch nicht passen wollte, ratlos. Was für ein Zwangscharakter dieser X sein muß, dachte sie. Man merkte es ja schon an seinen Bewegungen. Und warum kann er nicht die Finger von Y lassen? Wir werden vielleicht einen Weg finden, ihn zufriedenzustellen, ohne Y weiter zu kompromittieren und zu bedrängen? Aber wie? Wie geben wir ihm das Gefühl, seinen Auftrag bestens zu erfüllen, und wie schaffen wir es, in Erfüllung seines Auftrages doch Y dazu zu verhelfen, daß er endlich aus dem Einflußbereich von X kommt und wieder Freude an den Dingen gewinnt, zu denen er anscheinend befähigt ist?
Und sie legte sich auf ihren Teppich, Füße auf den Drehstuhl, und versank in tiefes Nachdenken.
Sonntag, 1. Juni 2008
353.
Der erzählende Kranich kehrte zurück aus Übersee, es waren für ihn nur einige Flügelschläge gewesen - recht vorstellbar ist uns eigentlich nicht, daß er wirklich den Ozean überquert haben konnte, aber vielleicht war ihm nur etwas wie ein Ozean erschienen, das in Wahrheit und Wirklichkeit oder dem, was wir dafür halten, eher die Ausmaße des Steinhuder Meeres hatte - wir wissen es nicht, wer zählte die Flügelschläge eines erzählenden Kranichs, und wir wissen auch nicht, ob ihm wirklich nahegegangen war, daß in einer knapp zwei Wochen alten Ausgabe des New Yorker unter der Überschrift "Bird-Watch" Bemerkenswertes über Charlie Parker geschrieben worden war, auffallend war nur, daß er, als er sich lässig in den Rahmen der Tür zum "Bistro" lehnte und den soeben etwas düpiert den Raum verlassenden Praktikanten mit einem heftigen "how are you today" grüßte und dann zu der kurz danach ihm entgegen kommenden Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse sagte, "I know you like Jonathan Franzen, you know, I overheard somebody saying like when Jonathan Franzen blabla, and it goes like," wobei der betonten Unentschlossenheit seiner Formulierungen (die Dame erinnerte sich sogleich an ein einmal mitgehörtes: "I was supposed to be in like Paris with my so-called boyfriend, but when he did not seem to be there, I seem to have considered...") eine unentrinnbare Festigkeit entsprach, mit welcher die Augen des Sprechenden auf das durch diesen nämlichen Blick gleichsam verhaftete Gegenüber gerichtet wurden, und es war ferner bemerklich, daß er doch tatsächlich versuchte, dabei so zu grimassieren, wie es zu einer bestimmten Spreche einfach dazuzugehören scheint, ja, er übte sich sogar in einer Stimmführung, die bald tief in der Kehle kollerte, bald sich hysterisch ein wenig zu überkreischen schien, und als er bemerkte, daß die Minderheitlerin ihn ein wenig konsterniert ansah, weil sein Schnabel einfach zum Grimassieren ein wenig zu festgewachsen war in seinem alles in allem doch nicht gerade flächigen Vogelgesicht, da - erinnerte er sich mit leisem Bedauern des erzählenden Kranichs, der er einst gewesen, und machte unter Zuhilfenahme seiner Schwingen einen hoheitsvollen Satz.
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