Montag, 22. Dezember 2008

557.

Ja, das 19. Jahrhundert mit seiner Sucht nach durcherzählten und wissenschaftlich erhärteten Geschichten, fing der Demokratiebeauftragte und stille Theologe den Ball von Heinrich Heine auf, während er das Farbspiel in seiner Schokolade-Tasse beobachtete, in der er langsam rührte, das war ja in meinem Fach hauptsächlich die Geschichte der Leben Jesu Forschung, da haben sie gedacht, es muß doch irgendwo aus diesem armen kurzen Leben ein paar originale Aussprüche geben, wir müssen doch herausfinden können, was es mit diesem Typen auf sich hatte, und mit Paulus usw., und dann haben sie alles umgedreht, klar, eine ganze Welt gebaut auf sieben Briefen, vier reichlich durcherzählten Evangelien und ein paar epigonalen Zusätzen, da kann zu der Zeit keiner mehr mit fertig werden, es muß alles gesagt werden, alles, und zwar systematisch, sonst hat man keine Sicherheit, es muß durchstudiert sein, damit es durcherzählt werden und wissenschaftlich erhärtet abgeschlossen werden kann, es muß klar sein, wer die Guten und wer die Bösen sind, das sowieso, aber auch, was echt ist und was Kopie, und was sie dann angehäuft haben, spätestens im 19. Jahrhundert, sind Berge von Literatur, in denen sie sich um jedes einzelne Komma streiten, und zwar immer, so habe ich damals in den Seminaren gedacht, immer mit der falschen Frage im Kopf, mit dieser seltsamen Sicherheitsfrage der Historiker, wie war es wirklich, und die Chefin schmunzelte, obwohl sie eigentlich angefangen hatte, sich ein bißchen zu langweilen und immer häufiger nebenher die Gesichter der Kommenden und Gehenden zu studieren, während sie das Reden des Demokratiebeauftragten so an ihr Ohr plätschern ließ, nicht unaufmerksam, durchaus nicht, aber bemüht, nicht wieder an Sahne hängen zu bleiben, und sie sagte, ja, was sollen sie denn sonst wissen wollen, Geschichte ist eben ein Prozess, also auch ein Gerichtsprozess, so müssen sie es wohl gedacht haben, und immer wollten sie alles nochmal aufrollen, denn ihre Evangelien erzählen ihnen schließlich, immer wieder, daß sie schuldig sind, das muß doch abgewendet werden, naja, antwortete der Demokratiebeauftragte, Kierkegaard zum Beispiel hat sich auf seine Weise über sie lustig gemacht, hochformal und kühn, indem er ein Büchlein veröffentlichte, in dem lediglich vier Vorworte standen, phantastische Idee, fand ich, die rettet ein ganzes Jahrhundert, dachte ich damals, denn es war ja das 20. Jahrhundert und man wußte, wir haben allenfalls Fragmente, man fing an, das zu ehren, das Fragmentarische, und heute, sagte er dann, indem er den Blicken der Chefin und ehemaligen Demokratiebeauftragten folgte, heute sind die Leute sämtlich komplett fragmentiert, und entsprechend sind überall Rattenfänger, die versprechen, sie komplett und toll wieder zusammenzunähen, und da laufen sie dann hin, und er seufzte und lachte, und die Chefin sagte, ja, die Welt ist schlecht und dumm, und dann gibt es noch überall diese Privatgelehrten, nicht wahr, und der Demokratiebeauftragte sagte, ja, einen von denen haben wir doch auch, was macht eigentlich der klitzekleine Forschungsminister über Weihnachten, wissen Sie das?

12 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ist der blöd, hat er nicht gemerkt, daß sie ihn meinte?

Anonym hat gesagt…

Wenn er es gemerkt hat, hat er doch cool umgelenkt, passend zu seiner Erzählung.

Anonym hat gesagt…

Ich befinde mich sehr wohl.

Anonym hat gesagt…

Letztes Jahr haben wir noch einen Ausflug mit dem Chef gemacht.

Anonym hat gesagt…

O, einen Ausflug, will ich auch!

Anonym hat gesagt…

Aber sie haben auch wirklich etwas herausgefunden!

Anonym hat gesagt…

Bestreitet ja keiner - außer dem jeweiligen Kollegen, der behauptet, etwas ganz anderes herausgefunden zu haben, deswegen sind ja die fragmentierten Texte über das fragmentierte Leben so unerschöpflich und interessant für die Forschung, stellen Sie sich vor, es wäre alles klar!

Anonym hat gesagt…

Es könnte hier mal wieder etwas netter zugehen.

Anonym hat gesagt…

Ja, es fehlt entschieden an Atmosphäre und Güte.

Anonym hat gesagt…

Aber sie lächeln doch ganz mild über die Welt!

Anonym hat gesagt…

Niemandem fiel auf, dass es sich um acht Vorworte handelte, so daß ich resigniert den link zu weiteren Instruktionen nachreiche: google.de zu Kierkegaard vorworte, zweiter eintrag.

Anonym hat gesagt…

Man kann auch auf youtube "Always look at the bright sight of life" ansehen.

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