Dienstag, 16. Dezember 2008

551.B

Darf es in der Moderne Arbeitsteilung geben, in der auch Dichter vorkommen, oder müssen alle eigentlich entweder Techniker, Manager, Administratoren, Banker, Kommunikationstechniker oder Loser sein? Darf es Unterschiede zwischen Männern und Frauen geben, oder müssen auch Männer unbedingt schwanger sein wollen? Dürfen Menschen mit besonderen Begabungen die durch diese verhängten Entscheidungen irgendwann treffen? Darf es die Weisheit der mehr als vernünftigen Selbstbegrenzung der technischen Vernunft geben, die Goethe „Religion“ genannt hat, oder muß der stumpfsinnigste Hirnforschungs-Psychologismus erbarmungslos so lange als die ultima ratio gelten, bis sämtliche Kommunikationen alles Gesellschaftliche, alle Lebensweisheit, alle Diplomatie und noch die schwache Möglichkeit von Liebe als Ereignis zwischen zwei bestimmten Menschen beseitigt haben? So fragte die völlig übermüdete Kreativleitung, die sich mitten in der Nacht mit Mo im Bündel in ihr Büro geschlichen hatte, weil sie hoffte, auf dem Teppich liegend, mit den Füßen auf der Sitzfläche ihres Drehstuhls, besser schlafen zu können als in ihrem öden Bett, das leer war, weil, ja, warum eigentlich, fragte sie ausgerechnet Mo, denn die Anworten aller anderen kannte sie schon, sie interessierten sie schon lange nicht mehr. Mo aber, welche sich damit beschäftigte, auf der Kniescheibe der Kreativleitung Piruetten zu üben und dabei immer wieder herunterfiel, blieb nach dem auf die Fragen der Kreativleitung folgenden Sturz auf dem Teppich, setzte sich im Schneidersitz neben die Kreativleitung und sagte mit großen runden Augen und sehr ernst knisterndem Stimmchen: In dem Buch, das ich mal gelernt habe, stand: das Schlachtfeld, auf dem du einmal verloren hast, sollst du nicht wieder betreten, die Waffe, mit der du verloren hast, sollst du nicht wieder in die Hand nehmen, einen Menschen, der dich langfristig und planmäßig mißhandelt und gedemütigt hat, sollst du nicht wieder anschauen, eine Gemeinschaft, die dich abwertet, um dich zu gebrauchen und zu mißbrauchen, sollst du verlassen, wenn du sie nicht auf andere Wege bringen kannst, und die Pläne anderer Leute sollst du so lange anhören und ernstnehmen und verhandeln, wie diese Leute Respekt zeigen vor den Bereichen, die für sie absolut tabu und unbeeinflußbar und unbetretbar sind. Wenn sie aber erbarmungslos das Spiel „wir machen uns einen Menschen zum Gegenstand“ spielen und alles, was sie wollen, an deinem wachen Bewußtsein vorbei mogeln wollen, weil sie schon wissen, daß du ihnen widersprechen wirst, und weil sie das, was du sagst, aus irgendeinem Grund nicht akzeptieren wollen, denn dann müßten sie dich achten, und das können sie nicht, dann sollst du solange überleben wie du kannst und sie in der Zwischenzeit selbst die Leiter hinabsteigen lassen, die alle hinabsteigen, die ihre Lieblingsobjekte bekriegen und bezwingen und beseitigen. Am Ende haben solche Menschen wie deine Quälgeister ihre Lieblingsobjekte immer kaputt, sie wissen nicht einmal, daß es ihre Lieblingsobjekte geworden sind, aber wenn sie kaputt sind, dann wissen sie es und weinen ihnen nach, wenn die Lieblingsobjekte schon lange keine Tränen mehr haben, weil sie die Schlachtfelder, an denen die Sieger verzweifelt interessiert bleiben, lange aufgegeben haben. Man lasse die Sieger also herabsteigen. Der Abstieg verläuft immer gleich, so steht es in jenem Buch, wenn ich das richtig in Erinnerung habe: Am Anfang steht die wilde Aktivität des Kampfes. Es folgt für die Sieger der Sieg. Er macht sie täglich vulgärer in ihrem Triumphalismus. Wenn nichts passiert, schleicht sich allmählich Beklemmung ein. Sie wird zur Angst vor den Besiegten. Diese wird zum Schuldgefühl. Damit will man fertig werden. (Das ist die Zeit der überfüllten Gefängnisse und sinnlosen Todesurteile). Also sucht man verzweifelt nach den Gründen, aus denen die Besiegten besiegt wurden und nicht wieder auf die Beine kommen. Man findet sie in der Dummheit und Schwäche der Besiegten, ihre Gegenwehr gegen diese überwältigenden Beobachtungen wird zum Argument für die Richtigkeit der Diagnose, egal, ob die richtig oder falsch ist. Der Anblick der so gesehenen Besiegten verursacht weitere Häme der Sieger über die Besiegten. Manche der Besiegten, so fürchten die Sieger, könnten darüber gefährlich werden, manche werden es und ziehen in schmutzige Kriege und erzwingen so weitere Siege, die für beide die Situation noch verschlimmern. Die Besiegten, die da nicht mitziehen, mögen klüger sein als die kriegerischen, gelten aber mit all ihrem Kraftaufwand, den sie gegen diesen Sog stemmen und der sie schwach macht, nun sowohl unter den Besiegten als auch unter den Siegern als noch dümmer. Nur die allerwenigsten und die allerklügsten bleiben in all ihrer zusammengedonnerten und totmanipulierten Rückständigkeit und Besiegtheit einfach auf irgendeine Weise (sogar als Tote) immer noch in der Welt. Sie entwickeln eigene Kraftquellen und andere Formen der Kraftentfaltung. Die werden von den Siegern weder erkannt noch respektiert. Stattdessen belästigen die Sieger die Geplagten mit besserwisserischen Belehrungsversuchen oder Schlimmerem, wodurch gerade die Klügeren der Besiegten noch weiter kaputt gemacht werden. Für die Sieger wird nun bald die letzte Stufe des abgewehrten Schuldgefühls erreicht: Sie besteht, bei unveränderter Deckelung der Besiegten durch die Sieger, welche sich freilich zusehends zerstreiten, im erbarmenden und herabbeugenden Bemühen um das Wohlbefinden der Besiegten. Wenn diese wieder nicht dankbar sind, wenn sie immer noch nicht das tun, was man von ihnen erwartet, dann gibt es nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder den großen Vernichtungsschlag oder endlich das Eingeständnis der Schuldangst und der Schuld auf seiten der Sieger als ihr eigenes und eigentliches Problem mit den Besiegten. Der Versuch der Sieger, die Schuldangst zu vermeiden – dies ist das Geheimnis der Christianisierung Roms, die zu wiederholen säkulare Liebhaber des Westens ernsthaft fürchten sollten – hat den erst nur mentalen, später auch militärischen oder politischen Sieg der ehemals Besiegten zur Folge. Ihm kann man nur zuvorkommen mit Einsicht auf Seiten der Sieger, mit Einsicht, daß der Sieg andere Tugenden und Schwächen hervorbringt als die Niederlage. Erst der auf dem bearbeiteten Schuldgefühl gedeihende (und gegen alle doofen Insinuationen einer gegnerischen Übermacht und der Dolchstöße der Freunde durchzuhaltende) ernsthafte Respekt der friedlichen Sieger vor dem Leiden und den neuen, für Sieger gar nicht erreichbaren Qualitäten der friedlichen Besiegten könnte die Aufhebung der Dynamik von Sieg und Niederlage einleiten. Erst mit diesem Respekt würde der grauenvolle Prozess von Sieg und Niederlage, der in dem alten Satz "victi victoribus leges dederunt" beschrieben ist, aufgehoben werden können. Das ist politisch. Wir würden uns nur dann nicht islamisieren, wenn wir von uns aus diesen Respekt lernen könnten. Ansonsten werden wir uns tatsächlich in unsere eigene Islamisierung hineinsiegen, und ich bin dagegen, sagte Mo, die selbst verwundert war über ihre lange lange Rede. Am Ende hatte sie fast gekräht. Zumindest die intelligenten und gutwilligen Besiegten könnten, wenn wir es anders schaffen, wieder leben, träumte sie nun weiter - mit ihren neuen Kräften (Kräften, die ein ewiger Sieger nicht kennen kann), und endlich frei von dem verlogenen Zwang, so wie die Sieger sein zu sollen, nur billiger, und endlich frei von dem Zwang, die anzuerkennen, zu respektieren und zu bewundern, die ihnen doch nur Leid zugefügt haben. Aber je länger man wartet, wisperte sie, und wurde ängstlich, denn schließlich war ihre Zuflucht vor den wilden Autoritäten ihrer Heimat ja bei den Siegern, da diese milder waren als ihre eigenen Despoten, je länger man wartet, desto größer werden die feindseligen Kräfte auch unter den Besiegten. Dann werden sie Sachen machen, die nicht respektabel sind. Dann werden die ehemals Besiegten im schlimmsten Fall selbst nach langen gräßlichen Kämpfen siegen. Zwar steigen sie dann irgendwann ihrerseits wieder dieselbe Leiter hinab. Aber bis dahin werden wir ja nicht leben, und es kann doch ganz viel kaputt gehen, und was nützt es den ermordeten Iranern, wenn ihre Nachlebenden den Anfang vom Ende des Mullah-Regimes sehen? Man muß ganz stark sein gegen die Harten unter den Besiegten, eiferte sie nun wieder, also gegen die, die nicht einfach nur ihre Sache machen, sondern die jetzt selbst siegen wollen - wie es ihnen doch durch die Sieger immer empfohlen wird. Ach, seufzte sie dann: Es gibt nur ganz wenige Völker in der Welt und ganz wenige Führungen, die es als Sieger und als Besiegte zu einem anderen Verhalten gebracht haben. Mo streckte sich, immer noch verblüfft von ihrer langen Rede, und schaute zum ersten Mal nach ihrer Trance wieder auf die Kreativleitung. Aber die Kreativleitung hörte nicht mehr zu. Sie war endlich eingeschlafen.

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Man muß vor allem mit den Ausbeutern und Unterdrückern unter den Siegern hart sein, das ist das Schwierige.

Anonym hat gesagt…

Mo sagt hier, daß die Christianisierung Roms ein Unglück war, ich bin empört.

Anonym hat gesagt…

Ich habe im Geschichtsunterricht immer gedacht: wie muß sich ein vollentwickelter lasziver und in römischer Hinsicht kompetenter Römer gefühlt haben, als er sah, daß seine Stadt tatsächlich zunehmend christlich und kleinkariert engherzig wurde, leidensbereiten Charismatikern mehr glaubte als den großen Rhetoren etc.?

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