Montag, 8. Dezember 2008

543.B

Das kleine Mo auf dem Schoße der Kreativleitung schnaufte wie üblich leise in seinem Schlaf, und es wurde darin beunruhigt durch die Geräusche der vielen Stimmen am Küchentisch in ihrem sinnloser und sinnloser werdenden Gerede. Wohl war das Wesen mittlerweile recht gut daran gewöhnt, im Büro dann und wann ein Gewirr von Stimmen zu hören, aber zuhause, und dann auch mit einer selbst genervten Kreativleitung, das kannte es so kaum.
Es hielt seine Händchen an die Ohren, als es einnickte, und in seinem Traume saß es wieder im Käfig, umstellt von Menschen, die teils achtlos vorbeigingen, teils in den Käfig schauten und jede einzelne kleine Bewegung Mos kommentierten, während der Wächter klimperte und in sich hinein und aus sich heraus und in die Menge strahlte, weil alles so gut gelungen war. Da saß er nun an seinem Flügel mitten im Walde, im Käfig das Mo, und um den Käfig herum viele Menschen mit vielem und großem Wissen. In verschiedenen Abstufungen der Erregung sprachen sie auf einander ein und bildeten viele Sätze darüber, wie diese und wie jene Bewegung Mos zu verstehen sei. Mo, deren Wunsch sich zurückzuziehen schon seit sie in dem Käfig saß nicht mehr erfüllbar war, konnte fast ebenso lange keine Sätze und nicht einmal den Wunsch mehr bilden, gelegentlich herauszukommen. So überdrehte sie regelmäßig und turnte vor und versuchte, die gaffenden Menschen auf der anderen Seite des Käfigs zu foppen, zu erschrecken und zu verwirren. Sie hoffte, sie dadurch zu verscheuchen, zu überfüttern oder dazu zu bewegen, einen Schlüssel zu finden und sie herauszulassen. Das tat aber keiner, so daß sie solange tobte, bis sie einen schrillen Schrei ausstieß und in sich zusammensank. Sie nannten es eine hysterische Inszenierung und wiesen einander auf die Einzelheiten hin, über die sie dann unter Berücksichtigung einer Fußnote hier und einer anderen Angabe da diskutierten. Dann und wann näherte sich ein Einzelner mit pflegerischem Blick, wurde aber von einem zu mehr Vorsicht und Rücksicht mahnenden anderen wieder zurückgepfiffen, denn so, wurde ihm beschieden, kommt man nicht zum Ziel. Bei Borderlinern sei es ganz wichtig, daß man nicht zu direkt vorgehe, sie könnten sonst leicht die Grenze zur Psychose überschreiten usw., dagegen bei rücksichtsvollem Verhalten der Umgebung, mit ein wenig Beschäftigung usw., ein fast normales Leben führen. Ach so ist das, sagten andere, und wie wollen Sie das garantieren? Wieder große Diskussion, mehrere wissenschaftlich sehr anerkannte Verfahren wurden gegeneinander abgewogen und in Anschlag gebracht, man war nun froh über die Atempause, denn wie hätten sie das so schön weiter diskutieren können, wenn Mo keine Pause in ihrem Toben gemacht hätte. Das Ziel war nicht klar, niemand kannte den Weg, und keiner wußte um die Kraft, die diesem Vorgehen selbst innewohnte, denn niemand wollte es wissen. Mo aber (wie es in eines der Krankheitsbilder passte) nahm ihnen alles ab. Noch die Kenntnis dieser Struktur der Veranstaltung, banal wie sie war, nahm sie ihnen ab. So ging es regelmäßig. Wenn sie dann ein wenig geschlafen hatte, vor Erschöpfung unbekümmert um die auf ihr liegenden Blicke, dann pflegte sie irgendwann zu erwachen, so auch in diesem Traum, sich zu strecken, sich aufzusetzen und ruhig zuzuschauen, wie man ihr zuschaute. Lange konnte sie so sitzen. Man rätselte dann, warum das Lemurenwesen, das schon durch die Augen der Frau schimmerte, sich nicht regte, man fragte sich, wie sie es aushalte und warum man nichts sehen könne, man überprüfte an alten Aufnahmen von ihrem Käfigverhalten, welche man mit den verschiedenen Lehrbüchern der verschiedenen Schulen abglich, die verschiedenen Varianten ihres Verhaltens. Manche erwogen, sie zum Platzen und in einen Zusammenbruch zu bringen, andere fanden, sie sei geplatzt genug, man müsse jetzt eher mal wieder zusammenführen - und Mo saß solange und fragte sich, wie es wohl komme, daß keiner von denen merkte, wie unglaublich vorläufig seine vermeintlichen Erkenntnisse und wie unendlich blöd sein Verhalten war, wie jämmerlich die Ausbeute seiner Voraussetzungen, wie schamlos die Maßnahme, die da getroffen wurde gegen ein Menschenwesen, das sie zu jener Zeit noch war. Nach mehreren Stunden pflegte sie von ihren Beobachtungen genug zu haben und aufzuspringen und wieder irgendetwas vorzutoben. Im Traum wurden daraus Minuten, vielleicht nur Sekunden, aber immer wieder fühlten sie sich an wie Stunden. Als die Gäste der Kreativleitung - nach etlichen mehr oder weniger versöhnlichen Wendungen des Gesprächs - gegangen waren und diese selbst erleichtert aufseufzte, weil es nun wieder still war, erwachte Mo sofort. So verpasste sie für diesmal die Rede eines neu herzugekommenen Arztes, der üblicherweise in jedem Traum wieder sagte, nun, immerhin keine Gefahr für die Umgebung, aber doch ein schwerer Fall von paranoischer Schizophrenie, wird früher oder später in die Dementia praecox führen. Gewiß gewiß, pflegte dann, auch in jedem Traum, eine ältliche Dame zu sagen, der man noch eine ehemalige Stämmigkeit ansah, die mehr in ihrer Seele zu sein schien, gewiß gewiß, sagte diese üblicherweise, bis dahin können wir aber vielleicht auch versuchen, sie zu integrieren. In jedem Traum wieder pflegte Mo an dieser Stelle zu hüpfen und zu schreien und zu rufen, o ja, Integrieren, Integrieren. Im Traum und im Erwachen fiel es Mo nicht schwer, sich an dieser Dame eine gewisse Uniform vorzustellen. Indem sie erwachte, ersparte sie sich für diesmal diese Vorstellung, rollte nur mit den Augen und murmelte einmal kurz "integrieren" - dann war sie wieder in der Wohnung der Kreativleitung.
Sie setzte sich aufrecht hin, ließ sich von der Kreativleitung in die Augen sehen, sah zurück und sagte: Man wird komisch, man will irgendwann allein sein, wie kommt das nur? Lass es dir egal sein, sagte die Kreativleitung, es ist wie es ist, es ist gekommen, wie es gekommen ist, und irgendwann kann es wieder anders kommen, es war ja schon anders. Und sie strich Mo ein wenig über das Köpfchen und herzte sie ein wenig und sagte, man überlebt immer nur bis jetzt, aber immerhin bis jetzt.
Dabei dachte sie an die Steine, die in diesem Augenblick an einem anderen fernen Ort durch die Luft flogen, und wie viele eben immer doch irgendwen trafen, von den Gewehrkugeln und den Messern zu schweigen, was denkst du auch daran, und mit einem kleinen Seufzen legte sie die Hand an die Narbe auf Mos Rücken und holte ein Schwämmchen und wischte Mo den Schweiß von der Stirn. Das ist doch kein Leben, dachte sie, wieso muß ein Mensch mit so etwas leben, und andere triffts noch viel schlimmer. Aber da war Mo selbst schon wieder ganz glücklich, denn am Fingerchen hatte sich noch ein kleiner Rest Honig gefunden, und ein Blick aus dem Fenster ließ in ihr eine winzige Hoffnung auf Schnee aufkommen. Oder haben wir etwa Juni, fragte sie dann. Es wird ja wohl nicht jetzt schon anfangen, dachte die Kreativleitung, ich dachte, ich hätte sie gerade wieder halbwegs hingekriegt.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

http://uk.youtube.com/watch?v=StDLnFrbi78&NR=1

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