Dienstag, 3. Februar 2009

600.

Da sollte sie nun also stattfinden, die lange angekündigte Sitzung bei der Nummer 600. Eine Tagesordnung war zuvor herumgemailt worden, und zur Protokollantin war die Assistentin K bestimmt worden, deren bäuchliche Entwicklung sichtbarlich ein wenig hinter derjenigen der Leitung Öffentlichkeit zurückgeblieben war, aber viel Zeit lag nicht zwischen den beiden angekündigten Geburtsterminen, und man sah schon mit Furcht und Zittern den zu erwartenden Personalengpässen entgegen, die Chefin selbst war aber zuversichtlich, daß alle gemeinsam die Sache meistern würden.

An diesem Morgen Numero 600 aber, als alle noch unschlüssig und mit Kaffee oder Tee in der Hand im Bistro herumstanden, fingen die beiden ehemaligen Assistentinnen doch an, wieder freundlicher miteinander zu plaudern, wenn es auch - nach Ansicht der meisten Beobachter - nicht wirklich wieder ein unbefangenes Verhältnis werden würde, und die Kreativleitung, die dem Treiben zusah, machte sich so ihre skeptischen Gedanken, aber sie mischte sich nicht ein und erwiderte dem Demokratiebeauftragten, welcher sich an der neuen Harmonie entzückte, nicht, sondern lächelte wohlgefällig, als sie (den Blick ihres Gesprächspartners gleichsam mitziehend) das gemeinsame Lachen der jungen Damen beobachtete, welches durch eine Erzählung des Oberassistenten ausgelöst wurde. Dieser berichtete nämlich über einen ihm bisher nicht bekannten Pestvogel mit stark seitlich gekrümmtem Schnabel, welcher Gelegenheit erhalten hatte, an prominentem Fernsehplatz den alten Hut des Theorems von der self-fulfilling prophecy reichlich tief in die doch auch nicht unterkomplexe Stirn der Gesamtwirtschaft zu drücken, und das ganz schamlos, prustete der Oberassistent, vor laufenden Kameras!

Während alle noch freundlich schmunzelten, rief eine geradezu freudig erregt wirkende Dame Ö zur Sitzung, und diese Sitzung wurde, da sie an so einer hübschen Zahl stattfand, mit einem kleinen Umtrunk begonnen. Der Buchhalter hatte irgendwoher eine kleine Laszivität genommen und dem Ansinnen der Chefin stattgegeben, als sie gesagt hatte, ja, heute wollen wir doch auch ein wenig feiern, 600 Tage jeden Tag ein EinSatz, das ist doch keine Kleinigkeit, und obwohl der Buchhalter daran erinnert hatte, daß die EinSätze mit der 22 begonnen hatten, und obwohl die Kreativleitung daran erinnert hatte, daß der eigentliche Beginn doch bei 200 anzusetzen sei, waren sich alle schnell einig geworden, daß die 600 eine angenehm rundliche Zahl sei, die nun auch einmal eines Glases gewürdigt werden dürfe. Aus diesem Anlaß waren übrigens alle EinSatzKräfte gekommen, keine Ausnahme, obwohl eine Grippewelle an vielen noch in Spuren zu erkennen war, Dame Ö selbst war ganz heiser, und auch der Buchhalter putzte sich beständig die Nase, der Minderheitler mit den grünen Borsten trug einen dicken bunten Wollschal, den er während der ganzen Sitzung nicht ablegte, und die Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse hatte über dieser blauen Bluse etwas wie einen sehr dicken Kapuzenpullover an, nicht sehr kleidsam, aber warm, wie es schien, und außer den ewig rotgeränderten Augen war ihr auch die Nase rot. Jedoch: alle waren da, selbst der Kwaliteitswart, endlich wieder auf festem Land in der Hauptstadt, war erschienen, hatte sich aber sehr zurückhaltend zunächst in die hinterste Ecke des Raumes verzogen, um alles zum Wiederangewöhnen erst einmal in Ruhe in Augenschein zu nehmen. Zum Umtrunk waren sogar der ehemalige Chef und seine Gattin gekommen, indes nicht ohne anzukündigen, daß sie die Räumlichkeiten nach der Rede der Chefin und mit Beginn der offiziellen Sitzung zu verlassen gedächten. "Wir haben wirklich volles Vertrauen in die Chefin und wollen ihre Arbeit nicht beeinträchtigen," sagte der ehemalige Chef, "wir waren natürlich das beste Führungsteam, wir waren die Gründerväter usw., wir freuen uns aber, daß der Laden auch ohne uns weiter läuft, so daß wir hier und heute mit feiern können," und auf der Suche nach jemandem, der seine merkwürdige Pluralbildung "hinterfragen" und ihm noch einmal eines seiner geliebten alten Wortgefechte liefern könnte, blickte er durchaus auch ein wenig gerührt in die Runde, in der ihm jedes einzelne Gesicht vertraut war.
Aber weder die Kreativleitung, die früher jeden Wunsch des Chefs sofort gewittert hatte, fragte, noch die Chefin, die als Demokratiebeauftragte für solche Fragen zuständig gewesen wäre, und auch Karomütze, mit dem der ehemalige Chef sich stets und gern jovial gestritten hatte, dachte nur bei sich, "wir, wir, wieviele ist er denn heute, er sieht doch ganz normal aus..." - und so blieb die kleine Provokation des armen Mannes unverstanden, seine Stimmung aber gleichwohl ungetrübt heiter, in seinem Alter verstand er sich auf Resignationen und ihre Bekämpfung oder Bewältigung.

Ohne weitere Zwischenfälle prosteten die EinSatzKräfte einander zu, auch Mo war an diesem Tage zunächst nicht im Bündel versteckt, sondern schien es zu genießen, vor der Kreativleitung in ihrem blauen Mäntelchen und tatsächlich auf einem kleinen türkisfarbenen Kissen auf dem Tisch zu sitzen und dem fast verspätet den Raum als letzter betretenden Sicherheitsbeauftragten freundlicher zuzunicken als dies erwartbar gewesen wäre.

Die Chefin eröffnete die Sitzung mit einer kleinen feierlichen Ansprache und dem Hinweis darauf, daß der letzte Tagesordnungspunkt ohne Protokoll besprochen werden müsse, handele es sich dabei doch um eine Verschlußsache, die nirgends dokumentiert sein dürfe, weil man die Gewebe der Kreativabteilung nicht verletzen dürfe und dennoch die Abwehrmaßnahmen gegen reichlich skrupellose Gegner, über die Karomütze einige Neuigkeiten gebracht habe, wenigstens intern zu besprechen habe. Bei dieser Ankündigung erhob sich Mo leise, warf unter einer kleinen Anstrengung das Kissen in den Schoß der Kreativleitung, sprang selbst dorthin und wurde während der ganzen weiteren Sitzung weder gesehen noch gehört; nur die Kreativleitung spürte dann und wann ihr Zittern in ihrer Hand, welche sie zur Beruhigung des kleinen Wesens die ganze Zeit über nicht von dessen winzigen Rückgrat entfernte.

Nach ihrer Eröffnungsrede kam die Chefin schnell zur Tagesordnung und stellte die drei Punkte vor, die da waren

TOP 1: Externe Anfrage aus den hohen Lüften wegen Bereitstellung eines allgemeinen Verteidigers (Chefin).
TOP 2: Externe Anfrage aus den Ebenen der minderen Sprachen wegen Bereitstellung eines Normalitätswartes (Demokratiebeauftragter).
TOP 3: Verschiedenes.
TOP 4: Karomützens Bericht über Verschiebungen in der Ordnung von Verbündeten und Gegnern und die Neuordnung der nach außen gerichteten produktiven Tätigkeiten sowie der Abwehr- und Präventionsmaßnahmen.


TOP 1

Die Chefin berichtet über eine Anfrage, welche sie aus den hohen Lüften erreicht habe, man möge doch einen allgemeinsten Verteidiger in der EinSatzLeitung installieren, welcher immer, wenn einer aus dem Personal oder von den lose Assoziierten angegriffen oder in absentia verleumdet werde, diesen verteidige. Da sich wegen dieses seltsamen Ansinnens ein allgemeines Gemurmel erhebt, holt sie etwas aus zu einer längeren Erklärung über die verschiedenen Abstufungen, in denen in arbeitsteiligen Gesellschaften der Umgang mit Vernunft und Gefühlen und Durchsetzungsvermögen üblicherweise geregelt sei, und spricht:
"Wer als Krieger exzellent sein will, muß einen 'Feind' ausmachen und sich emotional befeuern, um gegen diesen zu kämpfen. So muß er ihn schlechtreden und sich selbst stark, sonst kann er nicht kämpfen. Wer als Politiker exzellent sein will, muß (wenn auch weniger als der gewöhnliche Schmittianer glaubt) ebenfalls ein bißchen zwischen Freund und Feind unterscheiden und die Feinde in die Waden beißen und die eigene und die Loyalität der Freunde scharf bewachen. Aber er muß auch den Überblick behalten und imstande sein, die eigene Position dann und wann ein wenig zu revidieren und zu korrigieren, evtl. sogar zu relativieren. Wer als Diplomat exzellent sein will, muß von dem Feuer der Parteilichkeit etwas fühlen, aber nur gerade genug, um Diplomat für eine Seite zu sein, im übrigen muß er unglaublich geschmeidig sein, um alle zu verstehen, dies aber jeweils zu einem definierten Zweck. Und wer als Wissenschaftler exzellent sein will, der muß alles, wirklich alles sehen und verstehen wollen, aber er wird das gerade am besten können, wenn er überhaupt kein Durchsetzungsinteresse mehr verfolgt, sondern nur noch die Suche nach dem präzisesten Bild. Das ist," fügt sie mit einem freundlichen Blick auf den klitzekleinen Forschungsminister, welcher begeisterte Zustimmung nickt, "geradezu widersinnig, und dem versuchte die alte Hochschulordnung Rechnung zu tragen. Es gelang natürlich überhaupt nicht, denn zu lecker ist das Durchsetzen, wenn es durch Wissen erfolgt. Aber: Man versuchte es und gab dem Wissenschaftler Sicherheit, damit er von Durchsetzungsnotwendigkeiten entlastet arbeiten konnte. Das tut man nicht mehr, und welche Folgen das haben wird, das werden wir erst langfristig sehen. Zwischen und über und unter und jenseits von allen diesen ist der Künstler, der ausdrücklich die Gefühle in eigener Form wieder hereinholt in das vom Wissenschaftler leergefegte und mit Petitessen befüllte Bild. Er eifert auch manchmal, hat aber idealiter nichts weiter im Sinne als die Darstellung der Welt wie sie einmal ist, und den Wunsch, hier und da eine kleine Korrektur anzubringen, wo dies geboten und auch mit milden Mitteln möglich ist. Ein solcher ist unser Freund, der erzählende Kranich, und er möchte nun also eine Verbesserung bei uns anbringen, weil er meint, es brauche hier also in unserer EinSatzLeitung einen, der die allgemeinste Verteidigung übernehme, was halten Sie davon?
Der Buchhalter erhebt zuerst seinen Einwand und sagt, dafür stehen nun wirklich keine Mittel zur Verfügung, der Kranich in seinen Lüften sei ohnehin überwiegend unterwegs und verstehe nicht wirklich etwas von den Gegebenheiten auf der Erde.
Es wird eine lange Diskussion geführt, an deren Ende ein Vorschlag der Kreativleitung mit knapper Mehrheit angenommen wird. Diese hatte bekundet, daß sie im Grunde nicht unbedingt mehr eine Assistentin brauche, Assistentin K sei bei ihr schon des längeren unterfordert, während Mo sich allmählich (sofern nur ihre Sicherheitsinteressen gewahrt würden) zu etwas wie einer kleinen Kollegin entwickele. Neben der kreativen Arbeit habe ihre ehemalige Assistentin aber große rhetorische Kompetenzen ausgebildet und so glaube sie, die Dame sei sehr geeignet, dem Sicherheitsbeauftragten, dem Demokratiebeauftragten und dem Diskurswart, welche mit formalen Verteidigungen ja durchaus schon befasst seien, eine andere Art der Verteidigung zur Seite zu stellen. In Zukunft soll also die bisherige Assistentin K "Verteidigung K" heißen - Strafe durch schlimme Namen trifft hier gleichermaßen alle, bemerkt dazu der Kwaliteitswart, aber die Mehrheit liebt scheußliche Namen, und so wird es gemacht.

TOP 2
Die Installation eines Normalitätswarts wird nach Weigerung des Oberassistentin, diesen Posten zu übernehmen (er sei gerne Oberassistent, nölte der Mann), und nach Feststellung des Buchhalters, daß dafür die Mittel nicht ausreichten, und nach Anmerkung des klitzekleinen Forschungsministers, daß Normalitätsfragen keiner wissenschaftlichen Prüfung standhalten, und nach energischen Protestnoten der beiden namentlich bekannten Minderheitler, die ebenso wie Mo von einem solchen Wart als erste gekündigt werden müßten, mit großer Mehrheit abgelehnt.

TOP 3
Unter Verschiedenes trägt niemand ein Anliegen vor.

TOP 4
Dieser Tagesordnungspunkt wurde außerhalb des Protokolls und aus Sicherheitsgründen nur noch im engsten Kreis der EinSatzLeitung, bestehend aus Karomütze, Chefin, Demokratiebeauftragtem, Buchhalter und Kreativleitung diskutiert.

Darüber, daß auch so etwas mal möglich sein muß, herrschte Einigkeit, die übrigen EinSatzKräfte gingen ins "Bistro," wo die Verteidigung K als erstes ankündigte, sie werde sich einen bunten Rock zulegen und hoffe, früher oder später nach diesem benannt zu werden.

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