Donnerstag, 21. Oktober 2010

1221.B

Das Gutachten des Mr. Precuneus:

Gutachten über den Fall Mo. Erstellt von Mr. Precuneus, Abgesandter der Polizeihochschule Accra.
Recherchezeit: Knapp zwei Jahre.
Methode: Teilnehmende Beobachtung. Nachdenken.

Die Geschichte des kleinen Wesens, welches ich zunächst für eines jener Monstren mit besonderen Fähigkeiten hielt, denen man in unseren Breiten furchtsame Verehrung entgegenbringt, weil sie über eigentümliche, mit rationalen Methoden nicht erklärbare Weisheiten verfügen, entpuppte sich als ein relativ normales weibliches Wesen, welches in einer Zeit der gesellschaftlichen Veränderungen die Möglichkeiten, die sich einer Frau dadurch eröffneten, auf tragische Weise überschätzt hatte und deswegen in Schwierigkeiten geraten war, welche zu Gefangenschaft und Schrumpfung führten, aus der es sodann in der EinSatzLeitung mit viel Mühe wieder herausgepäppelt worden war zu einer leidlich erträglichen und zuweilen sogar vergnügten Existenz.

Mo hatte in einem früheren Werke in jener weit weit zurückliegenen Zeit ihres Lebens, in der sie eine große kluge Frau gewesen war, sehr tiefsinnige Überlegungen über einige elementare und universale Institutionen der Welt angestellt, nämlich über: Religion, Familie und Prostitution. Die kommen alle zu allen Zeiten überall vor, hatte sie gedacht, und es war ihr irgendwie seltsam erschienen, wie Familien und Religionen einander unterstützten, während sie in der dritten Institution Menschen zu etwas zwischen Genussmitteln und Abfall und zu Trägern alles Bösen machten. In der Zeit ihrer Studien schien die Welt offen und frei zu sein, und auf hunderten von Buchseiten hatte sie gelesen, wie die Männerwelt die Frauenwelt spalte in Huren und Heilige und wie dabei außer in Schweden immer die Blamage bei den Frauen, die ihr Geld auf dem sogenannten Strich verdienten, blieb, während die Freier, die ihre heimlichen Gelüste auf offener Straße an, soweit Mo sehen konnte, eher armselige Frauenkinder abschoben, sich woanders noch brüsteten, wie viel besser sie selbst seien als ihre verdammten Huren, worin sie natürlich von ihren eher braven Frauen zuhause unterstützt wurden. In der Zeit, in der Mo studierte, standen nicht nur die Kirchen und die Familien zur Diskussion, sondern theoretisch war alles offen und man durfte alles und man durfte es auch neu definieren. Mo, die immer gern geschrieben hatte, dachte daran, einmal nicht im Stile der wissenschaftlichen Genderforschung darüber zu schreiben, sondern anders. Irgendwie so, dass die Spaltung zwischen der dummen Hure und der intelligenten Frau, die man heiratet, damit die Kinder gebildet aufwachsen, zwischen der vermeintlich bindungslosen Hetäre und dem verblödeten Familienweibchen, zwischen der harten Karrierefrau ohne Geschlecht und der Geschlechtsfrau ohne Verstand und Karriere mal nicht gewannen. Wo man die hässlichen systematischen Unterseiten der erhabenen Theologie bloßlegte und die vermeintlichen Mysterien offen diskutierte, wo man die Familien oder einzelne ihrer Mitglieder scharenweise zu Therapien trieb, wo man Sexualaufklärung über die Fernseher laufen ließ, um langweilige und unbefriedigende Ehen zu reparieren, und über die Legalisierung der Sexarbeiter sprach, wo Frauen bei Friseuren nicht nur über die Seitensprünge ihrer Gatten klagten, sondern sich auch zunehmend stylen ließen, als hätten auch sie mit den Accessoirs der Verruchtheit schon Verfügung über die Verführmacht jener ukrainischen Zwangsprostituierten, welche den braven Ehemännern Erholung boten von ihren anstrengenden Lebensweisen, da, hatte Mo gedacht, wäre es doch Zeit für ein kleines Büchlein, in dem man die Theorien der Großphilosophen mal bearbeitete, als ob man sie von unten und aus den Hinterzimmern ihrer heimlich aufgesuchten Welten beschreiben könnte - aber in einer Sprache, die es mit der jener hochmögenden Freier, wie sie sie sich vorstellte, aufnahm und möglichst viele Illusionen zerstörte.
Das Werk zu schreiben hatte ihr Spaß gemacht, und sie hatte es sogar mit netten kleinen Bildern versehen, in denen sie „sich“ tatsächlich einem einzigen Geliebten so anzubieten schien, wie dieser sich eine besonders aufregende Frau vorstellen mochte. Das Büchlein hatte aber die Eifersucht des Geliebten erregt, und so hatte sie zwar – da sie ihn liebte und seine Gefühle berücksichtigen wollte - nicht sich selbst verschleiert, aber immerhin das kleine opusculum nicht weiter publik gemacht. Irgendwie jedoch, und da sie vor dieser Entscheidung leichtsinnigerweise schon einmal mit einem ihr bekannten Verleger über Veröffentlichungsmöglichkeiten gesprochen hatte, da sie ferner das zurückgewiesene Geschenk noch bei sich verwahrte, ohne es besonders zu schützen, wenn sie ihre Wohnung bei längerem Auslandsaufenthalte Gästen überließ, war es in falsche Hände gelangt, ohne dass sie noch hätte sagen können, in welche. Und nun war eine Lawine von Ereignissen über sie hereingebrochen, die sie anfangs vor allem zum Lachen brachte: Immer wieder wurde sie mit dem Verdacht konfrontiert, sie sei selbst einmal Prostituierte gewesen oder betätige sich gar noch auf diesem Gebiete. Zuerst hatte sie wie gesagt gelacht und gesagt, und wenn, dann würde ich es nicht verheimlichen. Denn sündiger als der Freier im Frack, der sein Freizeitvergnügen geheim halte, könne die Frau, die ihn in diesen Fragen bediene, ja wohl kaum sein. Aber es liegt mir nicht so, verstehen Sie, ich würde aus ökonomischen Gründen nicht einmal heiraten, geschweige denn schnelle Nummern geben. Mich interessiert einfach nur die Struktur der Veranstaltung. Nun, das hatte man ihr nicht verziehen. Man brachte das Büchlein und noch viel mehr Texte an sich, man machte damit Profit und hetzte sie nach dem üblichen Mechanismus autopoietischer Systeme, in denen alle alles wissen bis auf die Person, über die gesprochen wird und die "abgezogen" wird. Man tat das, bis sie sich zu jemandem flüchtete, der sie dann prompt gefangen nahm, denn, das hatte man ja gehört, sie sei nun einmal ihrer Natur nach verworfen, bindungslos und eine Hure, er wolle sie aber für sich haben und zum Heil führen. Damit er dazu auch Gelegenheit bekomme, erzählte er, wo immer sie vorstellig wurde, um ihre nicht unterentwickelten geistigen Fähigkeiten in ein ökonomisches Rückgrat zu verwandeln, dass sie in Wahrheit eine Hure, gefährlich für jeden verheirateten Mann und von unrettbar verworfenem Charakter, im übrigen auch keineswegs teamfähig sei, er aber in seiner großen Güte und Geduld werde sie retten und wieder hinführen in ein Gehäuse, das mit guten Gründen geplatzt war, sie nannte es ein stählernes, nun saß sie in einem Käfig, in dem sie zugerichtet werden sollte für den richtigen Gebrauch durch den richtigen Besitzer, den man für den rechtmäßigen hielt. Man bewunderte den tapferen und tüchtigen Herren, welcher sich so großmütig bereit erklärt hatte zu ihrer Zurichtung und sich, ohne irgendeinen Gebrauch von ihr zu machen, vor ihrem Käfig an einen großen Flügel setzte und ihr Musik vorspielte, damit sie doch ein Gefühl bekäme für das, was wirklich gut und erhaben sei, und ein Bewusstsein ihrer Sündigkeit. Wenn den Mann – welcher nach allem, was wir darüber wissen, von sadistischen Neigungen nicht ganz frei war – ein Bedürfnis überkam, ging er zu Prostituierten, sich davon zu entlasten. Irgendwann war er so geachtet, dass er gar nicht mehr zahlen musste – jedes junge Ding wollte ihn einmal erleben, und er war dann auch durchaus großzügig. Umso wütender pflegte er zu sein, wenn er sich nach seiner Rückkehr dann wieder an seinen Flügel setzte und im Käfig nichts als ein verstocktes Mogesicht sah, und umso heftiger schimpfte er auf die Verworfenheit zügelloser Weiber, die Ungläubigkeit und mangelnde Dankbarkeit in der Welt usw. Mo hörte irgendwann auf, zu reden oder ein verstocktes Gesicht zu machen oder zu fragen. Sie saß im Käfig und schrumpfte und schrumpfte. Irgendwann wurde sie sich selbst nur noch ein Es. Die Geschichte ihrer Befreiung und ihrer schließlichen Aufnahme in die Kreativabteilung der EinSatzLeitung ist bekannt. Eher putzige Details wurden durch die anschließenden Befragungen des "rechtmäßigen Besitzers," des Flügellanten und weiterer früherer Bekannter zu einem Dessert verrührt. Mit der Mo, die ich in der EinSatzLeitung kennenlernte, hatte das alles gar nichts zu tun - und ich durfte mir einbilden, dass die Gespräche, welche ich mit dem Wesen im Laufe der zwei Jahre führte, einiges zur Verbesserung seines Befindens beitrugen, denn vieles von dem, was sie aufschrieb, schien bestenfalls von der Kreativleitung verstanden zu werden, und erstaunlicherweise muss der ehemalige Chef sie immer in Schutz genommen haben, solange in der EinSatzLeitung ihre Zugehörigkeit noch nicht anerkannt war. Ungeachtet zwischenzeitlich auftretender Querelen innerhalb der EinSatzLeitung, die sogar den ehemaligen Chef, die neue Chefin und die Kreativleitung zeitweilig in verschiedene Lager aufspaltete, blieb Mos Mitarbeit konstant, gemeinsam mit einem ebenfalls frei assoziierten Kranich leistete sie einiges, um die Vorherrschaft ehemals ziemlich penetranter Vögel erheblich einzudämmen - und mir war sie stets eine freundliche Gastgeberin. Die Geschichte, die nach und nach aus verschiedenen Quellen zutage kam, war mir unter anderem deswegen so erstaunlich, weil zunächst einfach nichts zusammen zu passen schien. Wir Ghanaer sind aber gehalten, von den Europäern zu lernen. Von unseren Studien soll immer ein Vorteil mit in die Heimat genommen werden, so wie wir auch den uns heimsuchenden Ethnologen nur empfehlen können, aus unseren Fehlern ebenso zu lernen wie von unseren oft unterschätzten Errungenschaften.

Wir dürfen, [schloss Precuneus seinen Bericht für die Polizeihochschule in Ghana], aus diesem Fall, der vielen Leuten viel Kopfzerbrechen bereitet hat und den zu seiner Klärung eingesetzten Kräften keinerlei Ansätze zur Lösung mehr geboten hatte, dreierlei lernen:

1. Es ist auch in der westlichen und nördlichen Welt nicht alles Gold, was glänzt, und die sogenannte Freiheit und die sogenannte Gleichberechtigung von Mann und Frau endet an den Frauen, die Geist und Leib selbstbewusst beieinander haben.
2. Wenn wir auf eine Gleichberechtigung von Männern und Frauen aus sind, sollten wir von vornherein die Verschiedenheit der beiden im Auge behalten und dann für beide Geschlechter rigoros darauf achten, dass man niemandem aus irgendeiner vermeintlichen sexuellen Orientierung irgendeinen gesellschaftlichen Strick drehen darf – es sollte vielmehr so sein, dass jeder, der über das Privatleben der anderen richtet, obwohl nichts daran gegen die Gesetze verstößt und niemand zu Schaden kommt, selbst mehr Schaden erleidet als der, über den da geredet wird.
3. Freiheitsberaubungen und Ehrabschneidungen müssen mit schärferen Tabus umstellt werden als die freie Rede, und für Nachforschungen in bestimmten Problemfällen sollte die Methode der EinSatzLeitung vorbildlich sein: immer jemanden aus einer vollkommen fremden Kultur dazu holen, der unbefangen von allen innerhalb einer Kultur unbefragt gültigen Werturteilen einfach alles in Zweifel zieht und alles für möglich hält und sich im elementar Menschlichen nicht leicht täuschen lässt: denn diese meine Qualifikationen habe ich keiner anderen Fakultät als meiner fast hundertprozentigen Fremdheit zu verdanken.

Ich würde nun die EinSatzLeitung nach Erfüllung meines Auftrages gern wieder verlassen und in meine Heimat zurückkehren, aber es hat sich in der Zwischenzeit ein neues Problem eingestellt, das ich sehr gern noch klären möchte. Ich bitte darum die Kollegen noch um etwas mehr Zeit zum Abschluss auch dieser Arbeiten. Mo hat Interesse geäußert, auch einmal mit nach Accra zu kommen. Solange ich dachte, sie hätte übermenschliche Fähigkeiten, war ich sicher, man würde sie dort feiern und anschließend eher nicht leben lassen. Nun scheint aber ihre Entwicklung einen sehr anderen Verlauf zu nehmen, ich bin mir ihrer übernatürlichen Fähigkeiten nicht mehr so sicher, glaube aber dafür, dass sie von einer Reise sehr profitieren könnte. Weniger sicher bin ich mir, dass man von ihren Fähigkeiten bei uns Gebrauch machen könnte. Aber eine vierte Lehre aus meinem hiesigen Aufenthalt lautet: Wir wissen nie, wie eine Konstellation von Mensch und Ort oder Ort und Mensch und Mensch und Mensch ausgehen wird, bevor wir es nicht probiert haben.

Den Kolleginnen und Kollegen danke ich wie immer für die großzügige Unterstützung und große Geduld mit meiner Arbeit - und ich hoffe natürlich, mit der Aufklärung des Falles den Erwartungen zu entsprechen. Für Rückfragen stehe ich wie stets zur Verfügung. Ich sehne mich wohl nach meiner Heimat - aber inzwischen bin ich fast schon ein Berliner geworden.

Passt gut auf unser Land auf, solange ich nicht da bin, und seid herzlich gegrüßt von eurem

Mr. Precuneus

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