Samstag, 16. Mai 2009

703.B.

Mo hatte schon wieder eine B-Ebene produziert. Das geht aber fix heute, sagte die Kreativleitung. Ja, lachte Mo, ich hatte den Eindruck, du könntest eine Aufheiterung gebrauchen. Heute gibt es eine Geschichte in einer Geschichte, darf ich auf deinen Schoß krabbeln, um sie dir vorzulesen, es ist dann gemütlicher, und da ich einmal so klein sein muß, möchte ich auch etwas davon haben. Die Kreativleitung hob das kleine Wesen zu sich hoch und setzte es dahin, wo es sich wohlfühlte.

Kinderlärm drang vom Hof her an ihre Ohren, aber Mos Stimme ließ sich davon nicht stören:

Ich beginne in der Mitte, sagte Mo. Das ist manchmal das Beste.

"Der Mann war alt geworden. Er hatte es sich in seinem Leben gut gehen lassen. Sein Sohn war mit einer klaren Diagnose in den Selbstmord gerannt, früh, sehr früh im Leben. Der Mann, untröstlich, versuchte immer, seine untröstliche Frau zu trösten. Die beiden waren ein reifes Paar. Sie wurden damit fertig und blieben zusammen. Sie muteten einander viel zu. Sie ließen einander auch Freiheiten. Sie waren ein weises Paar.

Einmal lernte der Mann eine Frau kennen, deren Augen ihn an einen See in einem fernen Land erinnerten. Er wußte, daß das ein kitschiger Spruch war. Er sagte ihn trotzdem. Die Frau, die etwas von Selbstmorden verstand, weil sie in ihrer Jugend einige gesehen hatte, überhörte das mit dem See und fragte ihn nach seinem Sohn. Der Mann las ihr eine seltsame Geschichte vor, die seine Frau nach dem Tod des Sohnes, welcher Künstler hatte werden wollen, geschrieben hatte:

'The Golden Road Book

Es gibt Geflechte von Irrtümern, die aufklären zu wollen absolut sinnlos ist. Das habe ich von meinem toten Sohn gelernt.

Wir haben versucht, für den Sohn zu tun, was wir konnten. Er aber hat alles abgelehnt und uns nur noch Zettel zugesteckt:

Lasst mich in Ruhe mit euren Behandlungen, schrieb er da. Sie wollen mir ja das Malen austreiben.
Man zieht sich darüber eine tiefe Resignation zu, nicht mehr zu heilen, schon gar nicht da, wo Bescheidwisser unterwegs sind, die unter Kacheln, Platten und in Kellern nach Objekten suchen und wo andererseits Einheimische das Baden fremder Schönheiten beobachten wollen, aber selbst die See fürchten.
Nicht da, wo man sich für berechtigt hält, der Welt Geschenke zu erpressen von Leuten, die man zum Lohn in Müllsäcke stopft.

Sie müssen den Müllsack loben lernen, dann werden Sie es zu großer Kunst bringen, sagen die einen.
Sie müssen den Müll entsorgen, der erscheint uns sehr gefährlich, sagen die anderen.
Und wenn Sie nicht bereit sind zu behaupten, sie hätten in der dunklen Kammer die nicht vorhandene schwarze Katze, die Sie mit verbundenen Augen gesucht haben, gefunden, dann wird Ihnen Ihr Kiefer auseinanderfallen, was nicht zu verantworten ist, sagen die wieder nächsten.

So hatte man einst auch zu Undine gesprochen, erinnerte ich mich, wenn ich wieder einmal so einen wirr-verzweifelten Zettel von meinem Sohn bekam, aus dem deutlich wurde, welche Erwartungslasten er zu fühlen schien. Ich fragte mich, wie die Geschichte mit Undine nach dem großen Monolog weitergehen könnte. Und ich dachte es mir so:

An dieser Stelle drehte sich Undine um und ging. Die Hausfrau eines Ungeheuers mit Namen Hans hatte in ihrem Haus die Erfüllung eines Traums gefunden. Ihr Mann hatte ihr gesagt: hier, dieses Haus, es ist klein, aber es gehört uns ganz. Es ist ganz dein eigen. Irgendwann hatte sie den Eindruck, vor allem sie gehöre ihm ganz. Er wolle sie verspeisen und das als Liebe ansehen, nicht ohne, wenn er hinterher das Verdaungsprodukt ansah, sich vor diesem recht kräftig zu ekeln. Als sie, abspülend, durch das Fenster sah, wie Undine ging, ließ sie das Geschirr stehen, lief ihr nach und rief, warte, ich will mit dir gehen. Undine wartete und nahm die Hausfrau mit. Die beiden machten keine große Sause. Sie liefen manchmal Hand in Hand, irgendwo verdienten sie sich das Geld für ein Auto. Damit fuhren sie weiter von Ort zu Ort und lebten von der Hand in den Mund. Sie lachten gemeinsam darüber, daß es wie in einem Film und doch ganz anders war. An manchen Tankstellen saßen sie stundenlang auf Barhockern, tranken Kaffee und schauten den Voyeuren bei der Arbeit zu. Es waren Lastwagenfahrer, die in ihren vorschriftsmäßigen Pausen auf Bildschirme guckten, aus denen weibliche Ware sich anpries. Die Fernfahrer kauften selten. Wenn, dann verließen sie den Tankstellenpavillon, in dem die beiden reisenden, auf allen Strecken schon fast bekannten zwei Frauen saßen. Die Fernfahrer gingen dann wohl in die Fahrer-Kabinen ihrer Lastwagen, und aus anderen Autos, die auf die Raststätten kamen, stiegen Waren in ihre Kabinen. Das sahen Undine und die Hausfrau manchmal durch ihre Fenster, wenn sie in den Motelteil der Raststätte gingen, um ein paar Stunden zu schlafen, bis die Reise weiter ging. Sie fragten sich gegenseitig, wie sich die Waren wohl fühlten.

Manchmal hörten sie, gemeinsam oder getrennt in Hotelzimmern liegend, dem Gurren der Tauben, dem Gesang der Amseln und dem abscheulichen Krächzen der häßlichen diebischen Elstern zu. Immer das Rauschen der Autobahn im Hintergrund, ab und zu den Ruf eines Zimmernachbarn und das Klappen der Türen auf dem Parkplatz. Manchmal verreckte draußen eine Maus mit einem lauten Schrei, wenn eine Katze sie erwischt hatte. Kurzes Gruseln? Man gewöhnt sich auch daran.

Manchmal - seltener - hörten sie eine Nachtigall. Dann wieder vernahmen sie aus dem Regen eine Erinnerung an einen Tränenfluß.
Das Leben regnete auf sie herab - und sie zogen durch die Welt, die ihnen keinen festen Ort mehr bot, an welchem nicht schon wer mit der Giftspritze der Künstlerideologie, der Raison verschiedener Staaten, der Raison der verschiedenen Musen oder ein Selbstkünstler mit einem gewaltigen Verdauungsapparat auf sie wartete.

Manchmal dachte die eine an Mozart, die andere an Bachmann, manchmal die andere an einen anderen Dichter und die eine an Politik. Manchmal unterhielten sie sich, sie zankten wohl auch. Immer waren es blöde Arbeiten, durch die sie das Geld für die nächste Übernachtung, die nächste Tankfüllung, das nächste Essen verdienten. Reinigungsarbeiten, Bierausschank, einmal blieben sie ein paar Wochen an einem Ort, an dem beide eine Anstellung in einer Eisdiele fanden.

Sie kamen niemals mehr an. Es war, als hätten sie sich das Ankommen ein für alle mal abgewöhnt. Es tat nicht mehr weh.

Als der Mann die Geschichte zuende gelesen hatte, fragte er nach dem Urteil der Frau. Sie sagte, Ihre Frau ist aber doch angekommen, Sie leben doch zusammen, und Sie sagen mir, Sie leben glücklich zusammen, beide in hochqualifizierten Beschäftigungen.

Ja, sagte der Mann, wir sind zufrieden. Irgendwann ist man auch aus dem Alter heraus, in dem man noch so leben möchte, hat sie mir immer gesagt. Wir haben übrigens kein Haus, aber unsere Mietwohnung ist auch schön. Ich danke Ihnen für dieses außerordentliche Gespräch.

Mir hat es auch gefallen, sagte die Frau. Ihre Frau muß eine beeindruckende Persönlichkeit sein. Ihr Sohn war bestimmt ein ganz bezaubernder Mensch. Was hätte bloß geschehen müssen, um ihn an dieser Tat zu hindern? Sie hörten nicht wieder voneinander. Sie sind sehr freundlich.

Ein Jahr später mußte die Frau ihn anrufen, um ihm zu sagen: Ich bin nicht Ihr Sohn. Ihr Sohn lebt nicht mehr, und seine Krankheit ist nicht meine. Falls Sie ihm etwas angetan haben, können Sie das nicht gut machen, indem Sie mich in seine Rolle drängen. Und vermutlich haben Sie ihm nichts angetan, was zurechenbar wäre. Ich habe aber mit dieser Geschichte nicht mehr zu tun als dieses, daß ich sie mir angehört habe und versucht habe, Sie und Ihre Frau zu verstehen. Ich dachte, das wüßten Sie.

Übrigens halte ich nichts davon, über Rollen zu reden. Ich wünsche Ihnen wirklich von Herzen alles Gute. Und grüßen Sie bitte Ihre Frau von mir. Sie muß eine beeindruckende Persönlichkeit sein."

Na, wie findest du das, fragte Mo, aus allen Fältchen ihres Gesichtes strahlend.

Gut finde ich das, sagte die Kreativleitung. Auch daß das Golden Road Book nun endlich dabei ist. Aber der Kwaliteitswart, die Leitung Öffentlichkeit und Karomütze werden sich ärgern. Über die Chefin weiß ich es nicht.

1 Kommentar:

Chefin hat gesagt…

Ich ärgere mich nicht, denn die Sonne scheint doch.

Über mich