Freitag, 8. Mai 2009

695.B

In jenen Tagen war es im geteilten Deutschland Mode geworden, das je eigene Staatengebilde stets beim vollen Namen zu nennen (Deutsche Demokratische Republik, Bundesrepublik Deutschland) und das je andere mit dem zuständigen Kürzel (DDR, BRD). Nur diejenigen, die sich notorisch zwischen alle Stühle zu setzen pflegen, wechselten ad libitum zwischen allen Varianten hin und her und sagten bald Deutsche DR oder B-Republik-D und was dergleichen wirkungslose und kaum entlastende Späße mehr waren. In einer kleinen Stadt im südlichsten Winkel der DDR lebte in jenen Jahren ein Pastor, ein kauziger Mann, gutmütig durchaus und ohne bösen Willen gegen irgendwen. Wegen seines Mangels an bösem Willen wurde er von den Sicherheitsorganen des Landes observiert. Das verstand er nicht recht, schon wegen Brecht nicht, der doch alles dazu gesagt hatte, sogar in Gedichtform. Der gute Hirte von bestenfalls drei halben Schafen fühlte sich zuerst einfach nur gefoppt. Dann dachte er, foppen wir doch ein wenig zurück, und er brachte über der Tür seines Arbeitszimmers ein Schild an mit der Aufschrift: Lieber übermüdet als überwacht. Denn er war ein Mann, der den Humor liebte, manchmal glücklich, manchmal unglücklich.
Sein schönes Schild genügte aber, wie er bald bemerken mußte, keineswegs, um die Bewacher abzuschrecken. Sie antworteten natürlich nicht darauf. Zu gern hätte er ihnen einmal zugesehen, wie sie reagierten, wenn sie es lasen. Denn wer heimlich neugierig ist auf die Bewegungen seines möglichen Feindes, weckt manchmal auch die Neugierde dessen, den er observiert. Der gute Hirte, in Ermangelung von Schafen, verwendete bald viel geistige Mühe auf seine Bewacher. Ja, er freundete sich in abstracto regelrecht mit ihnen an. Immer wieder unternahm er es, sich vorzustellen, was sie vielleicht denken mochten. Wir müssten doch endlich einmal miteinander reden, dachte er, und er sagte dies auch des öfteren zu seiner Frau. Die Frau aber sagte immer nur: du wirst dir doch nur die Finger verbrennen. Hüte deine Zunge. Denn sie sorgte sich um ihn, weil er anfing, immer öfter in seinem verwanzten Arbeitszimmer auf die Wände einzupredigen. Manchmal versuchte sie, ihn in mit einem warnenden Finger auf den Lippen von seinem törichten Hobby abzubringen, denn sie fürchtete, daß es außer seiner Stellung im Lande, an der nicht mehr viel zu verderben war, auch seiner geistigen Gesundheit gefährlich werden könne. Wenn das nicht half, sagte sie es ihm in guten Augenblicken. Er aber, völlig gelassen bleibend und nur nachts manchmal vor sich hin wütend, im Halbschlaf, pflegte zu antworten: Man muß immer in einem Dialog stehen, wenn nicht direkt, dann eben indirekt. Sogar mit denen, die sich zum Feind machen, indem sie einen für einen Feind halten. So stand er bald Tag für Tag mit den Wanzen, die er in seinen Wänden wußte, in offenem Monolog, und wenigstens jeden zweiten Tag sagte er seiner Frau in ihr offenes und besorgtes Gesicht, daß es wichtig sei, mit dem, der sich für einen Feind halte, im Dialog zu stehen. Sie sagte stets, nun gut, wenn du es so für richtig hältst, mir wäre lieber, du würdest schweigen, vielleicht würden sie sich irgendwann langweilen, aber wie du weißt, stehe ich in allem zu dir. Und dann beteten sie gemeinsam. Die Menschen, die der kleine Pastor hinter den Wanzen wußte, antworteten ihm nie. Als er einmal ein paar Tage nicht zu ihnen sprach, schienen sie aber auch nicht zu verschwinden.
Nun gut, dachte er dann, ihr habt es so gewollt. Wenn ihr durch euren Überwachungswahn andere daran hindert, mir in der Kirche zuzuhören, so werdet ihr euch eben selbst anhören, was ich euch zu sagen habe. Dennoch war er neugierig. Es muß doch zu erfahren sein, ob sie irgendetwas über mich denken, dachte er. Und er begann, sich aus allen Nachrichten, die er irgendwo bekommen konnte, herauszupicken, was sich auf ihn beziehen konnte.
Seine Frau stellte ihre Besorgnis irgendwann ein. Die Lage war hoffnungslos. Sie ging bald gar nicht mehr in sein Arbeitszimmer. Manchmal fragte sie ihn, ob er immer noch mit den Wanzen spreche. Ja, pflegte er dann freimütig zu sagen, ich spreche mit ihnen, täglich. Wenn sie irgendwann genervt abschalten, werde ich es vielleicht nicht mitbekommen, fügte er hinzu, aber für den Fall, daß sie nie abschalten, habe ich ihnen dann jedenfalls durchgängig gesagt, was ich von ihnen halte. Und gutmütig, wie er zu bleiben gedachte, gab er ihnen auch stets und immer wieder bekannt, was sie zu tun hätten, wenn sie ihn als einen Freund gewinnen wollten: einfach die Wanzen abstellen und selbst vorbeischauen und offen darüber sprechen, was sie wollten. Das geschah natürlich nie. Irgendwann starb der Mann. Das muß im Dezember 1988 gewesen sein. Er hatte nie etwas gegen die DDR unternommen. Er hatte nie jemandem geschadet. In den Archiven der Behörde lagerten viele Bänder mit Aufzeichnungen seiner Reden. In diesen war seine Stimme, die mittlerweile ohne Leib war, noch da: bald wild, bald süß, bald humorig, bald verbittert. Vieles wiederholte sich, aber immer mal wieder kam auch etwas Neues. Eines Tages wird jemand diese Reden redigieren und herausgeben, dachte seine Witwe, als sie einige Jahre nach Öffnung der Grenze Einsicht in die Akten nahm und in die Bänder horchte. Seine Stimme war ihr vertraut wie eh und je, und es erschreckte sie nicht, sie zu hören. Man sollte es aufschreiben, dachte sie. Dann dachte sie: vielleicht auch nicht. Es war ein grauer Tag im Mai, dicke Wolken hingen über der kleinen Stadt, die nun ziemlich in der Mitte des Landes lag, das einstmals geteilt gewesen war. Und sie ging in einen Laden, kaufte, der Jahreszeit entsprechend, ein Blaukissen, nahm es zum Friedhof und pflanzte es auf das Grab ihres Mannes. Schade nur, sagte sie mit freundlichem Schmunzeln zu seinem Andenken, schade nur, daß du nicht mehr erlebt hast, wie aus DDR und BRD erst Bunzreplik Deutschland und dann etwas wie ein ganz normales Land wurde.
Wie normal dieses Land oder Gebilde, wie normal dieser Staat nun wirklich ist, das will ich lieber nicht entscheiden, sagte sie, als sie später auf dem Weg vom Grab zur Pforte des Friedhofes wie so oft noch leise vor sich hin murmelte. Sie wollte über das neue alte Land wirklich nicht entscheiden, denn wie ihr verstorbener Mann war auch sie sehr gutmütig und wünschte niemandem etwas Böses. Aber daß jene Tage vorbei sind, in denen man observiert werden konnte, weil man einfach keinen ernsten bösen Willen aufbrachte, das ist doch gut, sagte sie laut in die Luft.
Und sie schloß die Pforte des Friedhofes hinter sich, sah erfreut, wie die Wolken sich verzogen, lauschte auf den Dämmerungsgesang der Singvögel, und ging festen Schrittes in ihr kleines Witwendomizil, wo sie die Nachrichten vom Tage sehen wollte. Man muß doch wissen, was in der Welt passiert, dachte sie, nunmehr leise auf dem Bürgersteig wandelnd, worüber soll man denn sonst mit den netten Nachbarn reden.

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