Samstag, 6. September 2008

450.B

Ein eifriger ehrgeiziger Mann war der Herr Projektentwickler, immer hurtig. Das Ziel ist klar, wir kennen den Weg, und wir wissen um unsere Kraft. Daß er das aufgeschnappt hatte von einem DDR-Straßenschild, konnte er lachend und immer wieder gern erzählen. Während seiner Studienzeit hatte er des öfteren die Transitstrecke zwischen Berlin West und Deutschland West befahren. Eine andere Nebenwirkung der Wahl seines Studienortes, deretwegen er wie damals viele seiner ursprünglich westdeutschen Altersgenossen zu einem erheblichen Männerüberschuß in der Frontstadt beigetragen hatte, war ihm nicht ganz so angenehm. Immerhin war der Armeedienst seit einiger Zeit wieder in Mode gekommen und insbesondere dem Sohn ans Herz zu legen. Hier verging ihm der Humor ohnehin regelmäßig, wenn sein (häufig ausgesprochen zottelig wirkender jüngster) Nachwuchs höhnte: Jaja, ihr seid die Richtigen in eurer „Wertegemeinschaft,“ erst die DDR abschaffen und beschimpfen, und hinterher durch die kalte Küche alles unter dem Vorzeichen des Kapitalismus einführen, was ihr selber mal verunglimpft habt: Parolen brüllen, Materialisten sein, Familien knacken, Bürger kontrollieren usw. Ja, zu so übertriebenen Ansichten neigte, trotz oder wegen der vortrefflichen Mühen des Hausvaters um sein Geschöpf, der Herr Nachwuchs, und das vor allem in der Zeit nach der frischen Trennung des Elternpaares, von der der Projektleiter kaum noch wußte, worauf er sie zurückführte. Vernachlässigung seiner Person durch die Gattin, daraus folgend – natürlich daraus folgend, das ist keineswegs eine Artkonstante, es liegt immer auch an der Gattin, das wollen doch wohl beide hoffen, sonst verliert man ja jeden Mut zur Ehe in diesen Zeiten - ein bißchen Testosterinverbreitung seinerseits, welche von ihr in ihrer Verwöhntheit zu schwer genommen worden war: das war gegenwärtig die Hypothese, die am meisten Widerhall in seinem „Umfeld“ fand. Aber auch vorher schon war der Sohn immer forsch gewesen. Natürlich hatte der Herr des Hauses sich sehr und immer strebend bemüht – und nebenbei die pädagogisch wertvollsten seiner Jugenderinnerungen erzählt. Solange es noch einen Hausfrieden in einem ehemals Ö-lichen Haushalt gegeben hatte (ja, auch das hat es dereinst gegeben, und war es nun nicht schön gewesen, dachte der Projektentwickler) hatte dann die damalige Gattin des jetzigen Projektleiters und Mutter desselben Geschöpfs regelmäßig „Papperlapapp“ gesagt - und dabei durchaus offen gelassen, ob dieses schöne Wort sich nun auf den nachwüchslichen Protest beziehe oder doch eher auf die energische und alles bezwingende Schildwache mit Ziel und Weg und Kraft, welche es so herrlich weit gebracht hatte, mühelos vom knurrend oder höhnisch zur Kenntnis genommenen Propaganda-Slogan „des Regimes“ zum wie selbstverständlich über alle Unternehmerlippen perlenden Vademecum avanciert, Donnerwetter! Ein Fall, das schon, für die Braue der Dame Ö.
Ja, da saß er nun in seinem Gemeinschaftsbüro mit seiner Beeiferung – und dachte, es fehle ihm zum Glück recht eigentlich nur die Gemeinschaft mit der ehemaligen Gattin, denn etwas an ihr erschien ihm, seit sie sich von manchen Schlägen erholt zu haben schien, doch unersetzlich und unentbehrlich oder jedenfalls attraktiv genug, um ihren Verbleib in seinen Besitztümern zu einem erstrebenswerten Ziel zu machen, mochte sie auch eine gräßliche Krampfhenne und gelegentlich von klirrender Kälte sein, wenn er sie in den Fluren der Einsatzleitung sah, ja, gerade dies stachelte seinen Ehrgeiz recht eigentlich am meisten an – und er dachte, sie meine es so und lege es darauf an, in gewissen Stunden glaubte er sogar, ja, endlich hat sies kapiert, sie muß sich nur rar machen, dann liebt man sie auch, und jawohl, genau das wollen wir nun auch wieder, ein bißchen jedenfalls, und damit sie mal auf den Teppich kommt.
Wenn er in einer solchen Laune war, dann mochte er wohl die jeweilige Bekannte durchaus noch genießen, aber es mißfiel ihm gar sehr, daß die Seinige – als die er sie selbstverständlich weiter ansah – womöglich in fremde Hände geraten könne, und unausdenkbar erschien ihm, daß sie wirklich und wahrhaftig kein Interesse mehr an ihm haben solle, selbst wenn sie unberührt von fremden Händen blieb und sich wie es schien auch um nichts derartiges mehr mühte.
So setzte er sich in seinen Kopf, es doch noch einmal zu wagen, diesmal aber richtig und energisch, von langer Hand vorbereitet und so, daß es einfach gut gehen mußte. Und er schickte den einen oder anderen Jockel aus, diese vom Haber gestochene Person heimzuholen, er schickte auch wohl mal eine Jockelin, denn das Mißtrauen seiner Gattin, wie er sie noch nannte (und während er an ihr Mißtrauen dachte, wurde sie ihm bei der bloßen Vorstellung gleich wieder fast behaglich lästig, es breitete sich Wut in ihm aus, wenn er dieser ihrer nervtötenden und schließlich doch auch ungesunden Eigenschaft gedachte, und Erleichterung, von diesem befreit zu sein und in das vertrauensvolle Gesicht der neuen Bekannten zu schauen - aber seis drum, da müssen wir jetzt durch, dachte er, wir haben uns ein Ziel gesetzt, das ist klar, wir kennen den Weg, und wir wissen um unsere Kraft), erstreckte sich, wie er sicher zu wissen glaubte, im Grunde auf alle Männer, so daß man es folglich geschickter anstellen müsse.
Die Dame Ö hörte auf alle Weisen von seinem Vorhaben (man war ja auch geschickt, man ließ es ihr in den Ohren klingeln und gab keine Gelegenheit zu Widerspruch, indem man es etwa direkt vorgebracht hätte) – und mußte sich erst einmal wieder erholen. Als sie sich aber erholt hatte, wurde schnell klar, was zu tun sei: Frosten. Klar sein. Munter bei der eigenen Sache bleiben. Solche sind unheilbar. Und müssen doch geheilt werden, denn es soll ihnen doch gut gehen, wir müssen mit ihnen auskommen, ohne Heimholung. Also muß ihr Ehrgeiz auf andere Objekte gelenkt werden, sie müssen eben in dem bleiben, was für sie Liebe ist: mit anderen. Die Erfahrung der Liebe, wie wir sie kennen (unklar blieb, ob sie mit "wir" die Frauen meinte, wohl kaum, oder hätte sie etwa Leitung Ö einbezogen? Umgekehrt kannte sie Männer, die nach allem, was sie darüber wußte, doch so ähnlich erfuhren wie sie es kannte, sie dachte dabei sogar an den Gatten ihrer Freundin und erinnerte sich einer Verbindung, an der ihr mal sehr gelegen gewesen war) machen sie nie – und drum glauben sie, ihnen stünde alles zu, ihnen müsse alles gelingen, am meisten aber die Eroberung eines Weibstücks, seis durch Demütigung und Maltraitement, wie bei Shakespeare (aber darauf wird dieser ja wohl nicht verfallen, dachte sie, nachdem ich noch während unserer frühen Zeit klargemacht habe, was ich davon halte), seis durch Belobigung und Verlockung, seis durch Einsatz aller Künste und Tricks aus den zeitgenössischen Plastik-Bausätzen der psycholgischen Kriegführung. Sie halten das sowohl für Liebe als auch für etwas, das sich erwerben ließe wie andere Güter. Dagegen helfen weder Argumente noch Aufklärung, und was hülfe, das hat man hiesigenorts nicht zu bieten, der Himmel schicke ihm eine Bekannte, die es ihn lehrt, damit er nicht noch wirklich gefährlich wird.
Unterdessen wurde geschickt und unter rücksichtsloser Indienstnahme des Nachwuchses alles mögliche unternommen, man agierte und agitierte, jeder auf seine Weise, es war nicht zum Ansehen und nicht zum Aushalten.
Der Nachwuchs fand all dieses Theater so bizarr, daß er sich ernsthaft mit Projekten von Ruhe und Ordnung beschäftigte und die Reden des einen wie der anderen nicht verstand, er begann, sich zurückzuziehen und Teilnahme an ernsten Kriegen, freiwilliges Einrücken zur Armee, in Erwägung zu ziehen.
Ach wie traurig, dachte die Dame Ö in ihrer Einsamkeit. Dem geht es ja noch viel schlimmer als mir, dem Kind. Und vermutlich geht es sogar dem Mann schlechter als mir: Ich vermisse ihn nicht, ich habe ihn wirklich verabschiedet. Und er vermisst mich in Wahrheit auch nicht, aber er hat sich etwas in den Kopf gesetzt. Das wird dann womöglich doch noch gefährlich. Wie entsetzlich.
Sie lud die Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse ein. Sie erhoffte sich irgendetwas vom Anblick ihrer ewig geröteten Augen. Was genau? Sie hätte es nicht zu sagen gewußt, aber als die Minderheitlerin in der neuen Wohnung der Dame Ö tatsächlich erschien, war diese gleich sehr froh, für den Moment: ein Mensch, der vielleicht ähnliche Erfahrungen hat wie ich, dachte sie. Sie holte den vorbereiteten Tee, das sehr süße Gebäck aus der neuen Nachbarschaft, das Shortbread, Milch und Zucker, entzückte sich am schönen Service auf dem kleinen Tischchen, das sie sich zugelegt hatte, und dann saßen sich die beiden gegenüber und sprachen in aller Freundlichkeit über das Wetter, die Mode, und auch ein wenig über die Politik. Die Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse hatte „Kassandra“ gelesen und fragte sich, ob eigentlich immer die Klügeren die Doofen sein müssen, in der Politik und im Leben, und die Dame Ö sagte, lass das nicht den leidenschaftlichen Heuchler hören, er wird dich sofort mit Demutssachen bepredigen, denn so gibst du zu, daß du dich selbst für klug hältst, und die Minderheitlerin sagte, das wird er tun, solange ich in der Minderheit bleibe, es ist schon egal, ob ich es noch selbst provoziere, ich habe es ernsthaft und lange anders versucht, es hat nicht geholfen - irgendwie macht das dann am Ende auch ein wenig frei, schüchtern lächelte sie ein wenig. Und die Dame Ö sagte, ja vielleicht, vielleicht ist es eben einfach so, daß die Kuh am Zaun, nachdem sie verstanden hat, daß man sie nie freilassen wird, sich täglich sagt, nun gut, solange ich hier also stehen und ertragen muß, daß man mit mir dasselbe macht wie mit den gefangenen Tigern, oder Schlimmeres (dieses Melken, und daß man auch noch danach brüllen muß, kann einem Tier eigentlich etwas Schlimmeres angetan werden als eine derartige Perversion seiner eigenen Wünsche), was kann ich tun, sagt sich die Kuh vielleicht, ich lache sie aus, heißt nicht ein Käse so, die Kühe lachen die Bauern aus in ihrem Siegenmüssen, erzählen Sie das mal dem Herrn X., aber meinen Sie denn, daß das wirklich hilft? Gibt es etwas anderes, das einer Kuh bliebe, fragte die Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse, verdrossen über das bescheuerte Bild. Gattin Ö sagte daraufhin, plötzlich strahlend (dieses Opfergetue der Minderheitlerin, dachte sie, es geht mir doch auf die Nerven, sie soll mal was machen jetzt, nicht nur jammern), und laut sagte sie, wie herrlich, daß wir WEGGEHEN können, nicht wahr! Ach, könnten wirs, sagte die Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse, und die Minderheit in ihrem Rücken erschien plötzlich gewaltig groß, aber wo sollten wir wohl hin.

Dame Ö, trotz ihres Temperaments, konnte auch schweigen.

Sie goß ihrer Besucherin noch etwas Tee ein.
Später sprachen sie wieder ein wenig über Fragen der Mode. Und über Fragen der Politik. Über die Gefangenschaften in den harten Ländern. Und über die Gefangenschaften in den nicht ganz so harten Ländern. Als die Minderheitlerin sich verabschiedete, bedankte sich die Dame Ö sehr herzlich für ihren Besuch. Ungewöhnlich herzlich. Auch die Minderheitlerin fühlte sich auf eigentümliche Weise beschenkt.

Am anderen Tag sagte die Leitung Öffentlichkeit wie nebenbei zur Dame Ö: Warum sind Sie eigentlich immer so streng, und die Dame Ö hob die Braue, ja bin ich das denn? Wo bin ich denn streng? Na so unversöhnlich sind Sie manchmal, sagte Leitung Ö. Aber haben wir uns denn gestritten, fragte Dame Ö. Das nicht, sagte Leitung Ö, aber ich habe oft den Eindruck, daß Sie mit anderen sehr streng und unversöhnlich sind. Und die Dame Ö sagte – das tut mir sehr leid, daß Sie das so empfinden, und wandte sich wieder ihren Papieren zu, mit denen sie sich um eine neue (eine wirklich neue, ihre neuentdeckten Qualitäten berücksichtigende, was die sich einbildete!) Position in der EinSatzLeitung bemühen wollte. Nebenbei fragte sie sich, was sie wohl so beschenkt habe in dem Gespräch mit der Minderheitlerin. Und sie sagte sich, vielleicht dieses: Sie weiß noch besser als ich, daß die anderen wirklich auch da sind, und wie es einem gehen kann, wenn man das ernsthaft in Betracht zieht (denn das Buch, über das sie gesprochen hatten, das hatte die Dame Ö auch mal gelesen). Man müßte das irgendwie weitersagen, dachte sie, dann wird die Welt vielleicht ein bißchen weniger gefährlich, und manche ärgern sich nicht mehr gar so sehr, dann werden sie ein wenig umgänglicher, und man muß ihnen wenigstens nicht mehr aus dem Weg gehen, das wäre doch mal was, und mehr als man sich denken könne, also gerade genug.
Aber schon ihr Herr Nachwuchs würde wahrscheinlich - vor allem mal gegen diese unsägliche Benennung protestieren, würde ich vorschlagen, und sie schüttelte den Kopf: Was man sich so angewöhnt!

Die Papiere raschelten, als sie sie sorgfältig aufeinanderlegte, und wie immer wunderte sie sich, wie scharf der Rand eines einzigen Bogens ist, wenn man ihn im falschen Winkel berührt.

16 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Es heißt Testosteron.

Anonym hat gesagt…

Andere Sorgen habt ihr nicht, oder was, ich finde, es ist ein Skandal, wie hier mit dem Nachwuchs umgegangen wird.

Anonym hat gesagt…

Das kann man wohl sagen!

Anonym hat gesagt…

Andere Kinder haben es auch schwer, und ich möchte auch mal einen anderen Namen haben, das geht so wirklich nicht weiter.

Anonym hat gesagt…

Das ist eine echte Herausforderung, aber wir kümmern uns drum.

Anonym hat gesagt…

Nicht schon wieder SO ein Auftrag!

Anonym hat gesagt…

An anderen Fragen wurde auch weiter gearbeitet: In der seriösen ornithologischen Literatur gibt es definitiv keinen Wespenfresser, es gibt aber Menschen, die von sich behaupten, sie äßen gern Wespen, und sie nennen es dann sogar "fressen."

Anonym hat gesagt…

Ich bin wirklich empört, wie man mich hier darstellt!

Anonym hat gesagt…

Und ich erst!

Anonym hat gesagt…

Und was soll ich bitte sagen?

Anonym hat gesagt…

Ich bin eigentlich ganz zufrieden.

Anonym hat gesagt…

Bis man dich schlachtet!

Anonym hat gesagt…

Rindfleisch ist doch ganz ungesund, wird allgemein überschätzt.

Anonym hat gesagt…

Jetzt ists aber mal gut hier.

Anonym hat gesagt…

Ich möchte doch mal wissen, wer hier ungezogener war, Mo, die ihre Archive ausgeräumt hat, oder die Assistentin, die das alles so boshaft verarbeitet hat.

Anonym hat gesagt…

Es wird alles nur schlimmer, und "ungezogen" ist nun wirklich kein ernstzunehmendes Urteil.

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