Die EinSatzLeitung schreibt mit Gästen ein Buch. Pro Tag darf jede Person einen Satz einsetzen, die EinSätze werden fortlaufend numeriert. Auf der B-Ebene gibt es längere narrative Stücke. Die EinSatzKräfte und ihre Texte sind sämtlich rein fiktiv und frei erfunden. Alle Rechte bei der Autorin.
Dienstag, 30. September 2008
474.
Karomütze hatte Sorgen und dominierte damit die gesamte EinSatzLeitung, denn er meinte, draußen im Lande fühle sich immer wieder mal jemand bedroht und neige dann zu hysterischen Überreaktionen, man müsse dagegen Maßnahmen treffen, und zwar Maßnahmen der Entdifferenzierung: in eine Partei eintreten, sich einer Oberfirma unterstellen, sich als Diener von irgendwas ausweisen, er betone, irgendwas, es könne auch eine der "Szenen" sein, die Journalistenszene, die Schwulenszene, die Streetworker-Szene, die Musiker-Szene, die "Drehbuchschreibeszene," fast schon egal was, nur irgendeine Szene, die erkennbar sei und in der man sich auf Linie verhalte, auf irgendeiner erkennbaren Linie, aber der Demokratiebeauftragte sagte, gerade nicht, mein Lieber, gerade nicht, vermutlich würde, wenn wir uns etwa der FDP anschlössen (wozu ich neuerdings am ehesten geneigt bin), diese selbst noch ins Visier der neueifrigen Verfassungsschützer geraten, und das kann man den armen Leuten nicht zumuten, nicht wirklich, bleiben wir lieber auf unserem ungemütlichen Posten, auf dem wir die beobachten, die uns beobachten, wenn das deiner Sicht der Welt entspricht, und gucken wir, was sie weiter tun, aber hier erhob der Oberassistent Einspruch, denn er meinte, man müsse sich irgendwann doch wirksam wehren und die Verhältnisse so weit umkehren, daß man endlich mitsprechen könne auf der Seite derer, die berechtigt sind, Beobachtungen zu machen, aber der Demokratiebeauftragte sagte, sicher wäre das sinnvoll, nur kann der friedlichste Mensch das nicht erreichen, wenn die anderen es nicht wollen, und die Chefin sagte, Geduld, meine Damen und Herren, es gibt doch Demokraten im Lande, die wissen, daß man die Freiheit nur verteidigen kann, wenn man sie auch in Anspruch nimmt, und es sollte doch Menschen geben, denen klar ist, daß manche Produktionen den Eigensinn und die Kreativität von Sonderlingen erfordern, glaubt das denn hier keiner mehr?
Montag, 29. September 2008
473.
Ohne weitere Katastrophen hatten sich die EinSatzKräfte am verabredeten S-Bahnhof zusammengefunden, selbst die Kreativleitung hatte während des gemeinsamen Spaziergangs deutlich bessere Laune bekommen, die Assistentin hatte sich anschließend über die Blumen und den Besuch gefreut, und der kleine Streit zwischen der Kreativleitung und dem Projektentwickler über die Frage, ob dieser nun seine B-Ebene gehabt habe oder nicht, war einstweilen harmlos geblieben, heftig ging es hingegen am Abend zu, als der klitzekleine Forschungsminister Besuch vom naseweisen Sinologen erhielt, welcher ihm wieder einmal davon vorschwärmte, wie in China die Kinder für die Olympiaden gedrillt werden, und wie er selbst von dort neue Rezepte zur Wiedervergrößerung des Klitzekleinen mit gebracht habe, die sich womöglich kombinieren ließen mit Erkenntnissen der Psychoanalyse westlichen Gepräges, und auf den Einwand des Klitzekleinen, daß diese segensreiche Erfindung im Fernen Osten so gut wie gar nicht zur Anwendung komme oder auch nur verstanden werde, was in sich eigentlich ein interessante Thema sei, insistierte der naseweise Sinologe und sagte seinem winzigen Freunde, er sei doch nur deswegen so klein, weil er wirklich beratungsresistent und den einfachsten Einsichten gegenüber unzugänglich sei, und der klitzekleine Forschungsminister, der solche Gesprächsdynamiken schon immer vortrefflich hatte analysieren, aber darum nur umso weniger zu seinen eigenen Gunsten hatte überwinden können, sagte an diesem Abend zu seinem alten Freund, wie schade, daß du schon gehen mußt, ich hätte mir sonst gern die Zeit genommen, ausführlich zu erklären, wie sehr ich an dir schon immer gemocht habe, daß du so sehr gut weißt, was für andere gut ist, und ich habe mich nur immer gefragt, warum dir das eigentlich so gut tut, und als der naseweise Sinologe unter Hinweis auf seine eigene Analyse protestierte, sagte der klitzekleine Forschungsminister, es ist leider in deiner Analyse etwas schief gegangen, mein Freund, du hast sie dazu verwendet, nur umso geschickter zu lernen, anderen deinen Machtwillen aufzunötigen, indem du den ihren mit den Mitteln der Analyse geißelst und bloßlegst und sie so für deine Zwecke passend zu machen suchst, das mag ja auch bei vielen funktionieren, und ich freue mich, daß dir diese zur Gesellschaft im Grunde vollkommen genügen, auf Wiedersehen, mein Lieber, und er geleitete den nunmehr Wütenden mit überraschend starken Worten zur Tür, eine Szene, der jegliche Komik schnellstens entfiel, denn der klitzekleine Forschungsminister wußte sehr wohl, was er inkünftig vom naseweisen Sinologen zu erwarten hatte.
Sonntag, 28. September 2008
472.B
Der Ausflug in den Wald wurde schwierig. Erst einmal drängelten sich alle im Fahrzeug, der klitzekleine Forschungsminister, der auch mit wollte, und Mo brauchten Kindersitze. Zwischen diese quetschte sich der Minderheitler mit den grünen Borsten. Auf dem Beifahrersitz nahm der Projektentwickler auf seine Weise enorm viel Raum ein. Und die Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse beschloß, gemeinsam mit dem Oberassistenten mit der S-Bahn zu fahren und sich an irgendeinem verabredeten Punkt zu treffen. Du lieber Himmel, so etwas geht doch immer schief, sagte der Projektentwickler, und fortan dominierte dieses Thema die Fahrt, jedenfalls für die zwei Personen vorne. Auf der Rückbank klang es anders, aber dieses ist ja die B-Ebene des Projektentwicklers. Ach sehen Sie denn nicht, daß das so nichts wird, sagte die Kreativleitung, was verlangen Sie denn hier von mir. Ich will nur meine B-Ebene haben, sagte der Projektentwickler, nun schon ziemlich quengelig, und die Kreativleitung sagte, was habe ich bloß an mir, können Sie mir das verraten, daß jeder, der eine halbe Stunde neben mir sitzt, zum Infanten wird! Eine halbe Stunde war übertrieben, "jeder" sowieso, und ob das mit dem Infanten stimmte, war auch nicht gewiß, für jede traf es ganz gewiß nicht zu, da hätte die Assistentin K erheblich protestiert, aber auch Mo, und - ja, was soll man machen, es ging wieder anders weiter. Während der Projektentwickler durch intensives Starren auf den Stadtplan und den vereinbarten Treffpunkt und langes Reden über die Katastrophen, die dazwischen kommen könnten, wenn man sich irgendwo verabredete, allmählich wieder zu sich fand, wirbelte Mo auf dem Rücksitz alle ihr bekannten Blumennamen durcheinander, und die Kreativleitung murmelte, ich wußte gar nicht, daß die Assistentin ihr so viel bedeutet. Immer noch war nichts, einfach nichts über den Projektleiter zu vermelden oder zu sagen, denn man konnte ja nun schlecht in die Details der Katastrophenvoraussagen gehen. Seine neue Arbeit war noch in den Kinderschuhen, und er wollte anscheinend nicht darüber erzählen, und auch nicht über seine Schweizreisen und was dergleichen mehr war. Über seine ehemalige Gattin wiederum wollte sie von ihm nichts hören, und alle Versuche, über Politik und übers Wetter zu reden, scheiterten. Da gab die Kreativleitung es auf und fing an, ihrerseits dem Projektentwickler vorzustellen, was für geringfügige Zufälle im Grunde vonnöten wären, wenn man aus Versehen im Wald den Kwaliteitswart treffen würde, zufällig ausgestattet mit einem Körbchen, begeistert vertieft in ein Pilzbuch, aus dem er die absurdesten Namen genüßlich rezitieren würde, und wie entzückend es doch sein müßte, wenn man dann gemeinsam weiter suchen würde, nicht wahr, und der Projektentwickler kam zu dem Schluß, daß er diese Dame entschieden nicht verstand. Am Ende las er alles, was die Kreativleitung geschrieben hatte, und sagte: Ich will meine eigene B-Ebene haben.
472.
Es befanden sich außer dem Minderheitler mit den grünen Borsten noch andere EinSatzKräfte in der Laune für einen Ausflug in die septembersonnigen Wälder der Umgebung, und die Kreativleitung erhoffte sich Gelegenheit zu einem ausführlichen Gespräch mit dem Projektentwickler, um seine B-Ebene dann auch entsprechend gestalten zu können, denn etwas an diesem Kollegen erschien ihr so fundamental unverständlich, daß sie gar nicht wußte, wie sie in irgendeiner Weise seine Rede zu führen hätte, eine Aufgabe, die aber zwangsläufig an ihr hängenbleiben würde, weil die Assistentin, der sie es gern zugeschoben hätte, leider nicht zugegen war, erkrankt, wo gibts denn sowas, bei so einem Wetter, aber das mußte wohl auch gemacht oder geduldet werden, und auf Mos Anregung hin wurde beschlossen, ihr auf dem Rückweg irgendein Herbststräußchen vorbeizubringen, um die Genesung durch gute Laune ein wenig zu beschleunigen.
Samstag, 27. September 2008
471.
Ein Wochenende noch, dann müssen wir uns mit der Angelegenheit des leidenschaftlichen Heuchlers ernsthaft beschäftigen, sagte die Kreativleitung zu einem äußerst müde wirkenden Mo, welches in der üblichen völligen Verantwortungslosigkeit, die es sich zugelegt hatte, seinem Interesse an Apfel und Honig nachging, und die Kreativleitung zupfte nervös an den Vorhängen, an ihren eigenen Ärmeln, an Mos Schal, an diesem oder jenem Stück vom Wandteppich, ging ruhelos auf und ab, schaltete das Radio an, um Nachrichten zu hören, und sagte schließlich, wir müssen etwas machen, ich muß mich ablenken, sonst bekomme ich doch noch Angst vor diesen Leuten, lass uns in irgendeinen Wald fahren und Pilze suchen, sagte sie plötzlich, vielleicht hilft das, und Mo mümmelte noch ein wenig, hatte dann aber nichts dagegen, wollte nur gern, daß der Minderheitler mit den grünen Borsten vielleicht mitkommen sollte, und sie fand, man könne ... da hörten beide ein zaghaftes Klopfen an der Tür, und herein kam der Herr Projektentwickler, reichlich unforsch für seinen Typus und eher nachlässig angezogen, entschuldigte sich sogar für die Störung am Samstag und sagte, er möchte daran erinnern, daß man ihm schon fürs vergangene Wochenende eine eigene B-Ebene versprochen habe, er wolle nun sehr gern mitwirken, ob das vielleicht die Sache beschleunigen könne, Mos Gesicht fiel ein wenig zusammen, aber die Kreativleitung sagte, es spricht doch nichts dagegen, daß wir alle zusammen in den Wald fahren, Sie, ein paar Minderheitler, Mo und ich, und daß wir unterwegs darüber reden, oder wie sieht das aus, und der Projektentwickler stimmte fast erleichtert zu, denn auf irgendeinen Bildschirm starren konnte er ja noch die ganze Woche.
Freitag, 26. September 2008
470.
Das Kind der Chefin, das von klein auf die Pädagogenregel, nach der ein Kind keinen Sinn für Ironie haben dürfe, rücksichtslos mißachtet hatte, las in den einschlägigen Organen sehr gern Martensteins Kolumnen, weshalb der Mutter öfter mal, wenn sie nachhause kam, eine solche Kolumne Wort für Wort vorgelesen wurde, von kleinen Prüsterchen unterbrochen, und als das am Donnerstag wieder so war, lachte die Chefin mit ihrem Kind über das, was der angebliche Freund des angeblichen Martenstein zu seinem angeblichen Recht auf asexuelles Altern geschrieben hatte (wenngleich sie sich fragte, wie dieses Thema nun gerade ihr Kind beschäftigen konnte) und sagte dann, während sie die Einkäufe auspackte, er wird der nächste sein, der sich unsterblich in eine 18-Jährige oder, noch schlimmer, in eine 80-jährige, oder, am allerschlimmsten, in eine ungefähr Gleichaltrige verliebt und einfach nicht mehr herausfindet, es ist doch, nach allem, was ich aus langjähriger Beobachtung an Freunden und Bekannten und an mir selbst (immer alles in den Abschattungen des Lebens, natürlich) darüber weiß, immer so, daß die, die am lautesten schreien, wie sehr sie einfach nur in ihren Ehen bleiben wollen, zuerst auf (oft ja sehr produktive und am Ende für alle bessere) Abwege geraten, und die, die den ganzen Tag davon faseln, wie viele schöne Frauen sie noch haben wollen, die sind manchmal ganz treu, weil zufällig die Ihrige einfach mal die Schönste und Netteste ist, oder warum auch immer, und die, die aus irgendeinem unerbittlichen Prinzip heraus auf ihrer Freiheit bestehen, die sind, wenn sie ausnahmsweise mal Glück haben, oft noch treuer - aber das verstehen die meisten Leute in unseren Breiten nicht, sie verstehen es einfach nicht, da kannst du nichts machen, aber überhaupt ist das doch alles wirklich noch kein Thema für dich, Kindchen, und sie strich dem Kind, das spöttisch „klar, Mama“ sagte, die Haare aus dem Gesicht, bevor sie mit der Vorbereitung des Essens begann, und fragte, was ihm der Tag außer dieser Kolumne noch gegeben habe.
Donnerstag, 25. September 2008
469.
Die Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse und den ewig rot geränderten Augen war die erste, die der täglich frischer wirkenden Dame Ö zu ihrer neuen Position gratulierte, sie hatte auch Grund, erleichtert zu sein, denn der Empfangsdienst hatte ihr nicht so besonders gefallen, hingegen war es ihr ein Vergnügen gewesen zu beobachten, wie Dame Ö dergleichen handhabte, wenn sie es tat, und sie selbst hatte ja auch dringend anderes zu tun, nämlich Bullethin nach Bullethin nach Bullethin schreiben, was soll das überhaupt sein, fragte Dame Ö, warum höre ich das Wort heute zum ersten Mal, ja, war ich denn nicht in der Welt bis jetzt, oder hatte ich nur nie etwas mit Bullethins zu tun?
Mittwoch, 24. September 2008
468.
Als er am Morgen das Büro der Leitung Öffentlichkeit betrat, wunderte sich der Minderheitler mit den grünen Borsten sehr, denn die Leiterin dieses Büros, welche als erste EinSatzKraft im Büro zu sein und in tadelloser Gepflegtheit stets unerbittliches Standing zu behaupten pflegte, war offenbar nervös damit beschäftigt, sich mithilfe von Make-up wieder herzurichten und eine ungewöhnliche Blässe zu korrigieren, und als sie sich, durch das Klopfgeräusch an der halb offen stehenden Türe aufgeschreckt, zu seiner Begrüßung erhob, da schien es, als werde ihr schwindelig, so daß sie sich lieber gleich wieder setzte, weshalb der Minderheitler mit den grünen Borsten, der sich eigentlich hatte beschweren wollen (was sonst, wird man fragen, aber dieser Minderheitler hat durchaus andere Qualitäten), nun stattdessen besorgt nachfragte, ob ihr nicht gut sei, aber sie sagte nur, nein, danke, es geht schon, und strahlte plötzlich über das ganze Gesicht - da lachte der Minderheitler schnell mit und schaute auf ihren Bauch, aber dort war natürlich nichts zu sehen, er lachte noch einmal, ja natürlich, sagte er, das haben Sie sich doch so lange gewünscht, und dann erwischte er sich bei einer anderen seltsamen kleinen Sorge, die er eigentlich nicht so korrekt fand, politisch gesehen und überhaupt.
Dienstag, 23. September 2008
467.
Der Regelfrömmigkeit des Buchhalters verdankte der Demokratiebeauftragte seinen Einblick in ein Büchlein, welches der Buchhalter just in Händen gehalten und mit seltsam verzogener Miene als "corpus delicti" identifiziert hatte, als der beunruhigte Zuständige für Vermittlung und gute Stimmung "darüber zu kam," um in den Räumlichkeiten von Buchhaltung und Projektentwicklung nach dem Rechten zu sehen: eine hervorragende Minute, dachte der Demokratiebeauftragte, geradezu ein Kairos, nahm so etwas wie "Haltung" an (worin ihm der Buchhalter spontan folgte), sprach schneidiger als er es gewohnt war von "Konfiszieren" (diesem Ton konnte eben der Buchhalter nicht widerstehen, mochte sich auch der Projektentwickler ein wenig winden und grimassieren wie ein bei einem blöden Streich ertappter Schulbube) und mit einem Blick überzeugte er sich davon, daß es sich um eines der frühen literarischen Experimente der Dame Ö handele, schwankend durchaus zwischen eingewurzelter Bravheit und dem Entschluß, sich manchen Tatsachen dessen, was der klitzekleine Forschungsminister als "Lebenswelt" bezeichnet haben würde (in sich ein Grund, aus allem derartigen auszusteigen, dachte der ehemalige Theologe, denn bis man sich durch diesen Brei argumentiert hat, ist man ja tausendmal unterbrochen worden) mit sprachlichem Fürwitz ins Auge zu sehen, und er sagte, aus diesem von der Dame offenbar mit Recht aus schlichten Qualiätserwägungen zurückgehaltenen Experiment (wie soll eine Verehrerin der Höchstliteratur mit sich zufrieden sein, wenn ein Werk einfach nicht ausgereift ist) können ja wohl nur verklemmte Krampfknoten ernsthaft irgendeine anzügliche, gar verfängliche, gar die berufliche Laufbahn der Dame in irgendeiner (biographistischen oder sonstwie durchschauerischen) Weise betreffende Sache machen - und mit einem Lächeln, das breiter war als man es bei ihm üblicherweise kannte und entschieden ins Grinsen spielte (jaja, auch im Demokratiebeauftragten schlummerte eine kleine Bosheit), sagte er zum sich immer düpierter windenden Projektentwickler, ich verstehe sehr gut, daß Sie stolz darauf sind, mit so einer Dame verheiratet gewesen zu sein, und daß Sie noch nicht ganz verstehen, wie sehr Sie alle Ihre Rechte an den Produktionen und weiteren Leistungen der Dame verwirkt haben, aber ich meine, es gibt doch würdige Abschiede, ich verehre Ihre ehemalige Frau und Sie selbst für alle Bemühungen, die Sie in dieser Sache schon gezeigt haben, ich verehre auch jeden, der Sie darin unterstützt, und habe kein Verständnis für dümmliche Personen, die auf einen Streit "draufsatteln" noch auch für Versöhnungskitschler, die zusammenpressen wollen, was getrennt viel besser lebt und webt, und Sie und wir alle könnten noch viel stolzer sein, wenn wir der Dame ihr Eigentum zurückgäben, von weiterer Stimmungsmache Abstand nähmen und uns wieder unserer Arbeit zuwendeten, wie fänden Sie das, meine Herren, wie fänden Sie das, wäre damit nicht uns allen am meisten gedient, und obwohl von völlig unmilitärischer Gestalt, Frisur und Kleidung, vom Gesicht zu schweigen, versuchte er im Umdrehen und Abgehen etwas wie die Andeutung eines Hackenknallens und begab sich sodann ruhigen und gemessenen Schrittes an seinen Schreibtisch, zufrieden durchaus.
Montag, 22. September 2008
466.
Sitzung der EinSatzLeitung
Sitzungsleitung: Chefin
Protokoll: Demokratiebeauftragter
Tagesordnung:
1. Einstellung von Dame Ö als Chefsekretärin
2. Debatte über die Frage, ob der Auftrag des leidenschaftlichen Heuchlers angenommen werden soll.
3. Verschiedenes
Große Aufregung beherrscht die Stimmung vor der Sitzung, denn es ist schon vor dem Verteilen der Tagesordnung durchgesickert, daß Dame Ö als Chefsekretärin eine offizielle Funktion erhalten soll, ihr ehemaliger Gatte tuschelt allen mahnend zu, daß das nie gut gehen werde, erstens weil sie entsetzlich ehrgeizig und dominant sei und innerst kürzester Zeit den Chefposten selbst avisieren würde, und zweitens sei sie in Wahrheit völlig disziplinlos und werde, sobald sie erst einmal die Führungsposition (von der in Wirklichkeit noch lange nicht die Rede war, aber wie schnell bauen sich nicht Gespenster auf!) habe, alles verkommen lassen, wenn das nicht genüge, so habe er da noch ein Büchlein mit verfänglichem Material, das im Grunde, da von ihr selbst geführt, allen vor Augen führen werde, um was für eine nicht nur haltlose, sondern sogar gefährliche Person es sich bei ihr handele, um welche er sich, von allen verkannt und von ihr mit nichts als Kälte bedacht, über viele Jahre unter großen Opfern in Wahrheit und Wirklichkeit vergeblich gemüht habe. Die meisten EinSatzKräfte (über die weniger erfreulichen wenigen, die sofort einsteigen, wollen wir hier einstweilen schweigen) weisen zwar das Reden des ehemaligen Gatten indigniert zurück, sind innerlich aber doch beunruhigt (zumal ihnen diese Gouvernante schon immer unverständlich war in ihrer Mischung aus Vorwitz und Witz und seltsamsten Resignationen), und die einzige, die von alledem nichts ahnt, sondern fröhlich trällernd im "Bistro" erscheint, ist die Dame Ö selbst, die sogar dem Projektentwickler einen zwar nicht versöhnlichen, aber doch zivilisierten knappen Gruß hinwirft (denn sie glaubt, er habe nunmehr Ruhe gegeben und sich abgefunden wie sie selbst und sich auf eine konstruktive Linie bewegt wie sie selbst, und was immer sie als Zeichen des Gegenteils im wohlbekannten aber lange auch sehr fremd gewordenen Gesicht lesen könnte, will sie lieber gar nicht sehen, um sich nicht hineinziehen zu lassen, darum ist sie bewußt extrem knapp), bevor sie sich daran macht, einen Teller mit Apfelstückchen und Ahornsirup fürs Mo zuzubereiten, damit die während der Sitzung doch etwas zu schlecken habe. Der Protokollant beobachtet alles dieses, das ja in sein ureigenstes Gebiet fällt, mit großer Sorge, ruft aber zur Eröffnung der Sitzung.
Die Chefin eröffnet gewohnt sachlich, sehr erholt sieht sie nicht aus, aber es geht.
TOP 1:
Die Chefin teilt der EinSatzLeitung mit, daß sie, um verschiedenen Mißständen abzuhelfen und unter Nutzung einer zurückliegenden relativ guten Auftragslage nunmehr vorschlage, die Dame Ö als Chefsekretärin einzusetzen, dieser Schritt werde ihr viele Arbeiten abnehmen, den Oberassistenten, der in letzter Zeit zwischen drei Büros hin und her gesprungen sei - ermöglicht wurde dies dadurch, daß der Projektentwickler noch nicht soo viel zu entwickeln hatte, aber das soll sich ja gerade ändern, nicht wahr - entlasten, und im übrigen dem allgemeinen Auftritt der EinSatzLeitung in der Öffentlichkeit förderlich sein, da die Dame Ö über Umgangsformen, Allgemeinbildung und ein außerordentlich gesundes Urteil verfüge, wodurch auch kompliziertere Fälle, wie sie immer wieder ins Haus zu stehen scheinen, in Angriff genommen werden könnten.
Mit knapper Mehrheit stimmen die EinSatzKräfte zu, eine Diskussion wird vermieden, da die Chefin, der Demokratiebeauftragte und die Kreativabteilung geschlossen hinter der Entscheidung stehen, es bleibt aber um Buchhalter und Projektentwickler ein gewisses Unbehagen, der umherschweifende Sicherheitsbeauftragte als Zünglein an der Waage könnte durch merkwürdige Allüren (über die noch zu sprechen sein wird) ein Risikofaktor sein, und die Leitung Öffentlichkeit, die erstmal zugestimmt hat, weil sie auf diese Weise hofft, den permanenten Scharfblick der zwar funktionslosen, aber bei einigen Kräften in der Leitung sehr beliebten Dame Ö aus ihrer Abteilung besser heraushalten zu können, könnte unter sich ändernden Umständen durchaus anfällig sein für die Propaganda des Projektentwicklers, insbesondere dann, wenn dieser womöglich Romeo-Qualitäten entwickelt und sich ihrer Singularität annimmt.
TOP 2:
Die Kreativleitung nimmt das Wort und teilt mit, daß tatsächlich der leidenschaftliche Heuchler um die Erstellung eines Angebots ersucht habe. Sie erbitte sich eine Woche Zeit, um zu prüfen, ob die Bedingungen von Freiheit und Sicherheit es hergeben, seinen Auftrag zu bearbeiten. Bei dem hinter dem leidenschaftlichen Heuchler stehenden Gebilde sei bekannt, daß falsche Äußerungen noch schlimmere Folgen haben könnten als beim Milchzaren, denn, wie der klitzekleine Forschungsminister überzeugend dargetan habe, handele es sich bei den Heuchlern um ein Problem, das man immer in Fällen von kognitiver Dissonanz antreffe: je weniger sich eine Gruppe ihre sogenannten Wahrheiten glaube, desto wichtiger sei ihr zum Zusammenhalt, daß sie andere von der Geltung der Wahrheit überzeuge, und auf diese Weise könne man, wenn aus den eigenen Äußerungen erhelle, wie wenig man selbst die (zum gekonnten Heucheln ja unerläßliche) Wahrheitsbasis des Gebildes glaube, sehr leicht in die Schußlinie von heftigen Attacken geraten, und da habe man dann nichts mehr in der Hand, um sich zu schützen, denn die wirklich fanatischen Anhänger der in diesem Gebilde postulierten Wahrheiten seien ja nicht einmal durch menschliche Gesten und irgendeinen Charme verführbar, während man dem Milchzaren doch immerhin ein wenig habe schmeicheln und auf diese Weise etwas wie Menschlichkeit in ihm habe anrühren können, was bei überwiegend machtzentriert agierenden Menschen ja nicht selbstverständlich sei (und sie schüttelte sich, als sie alles dieses sagte, denn sobald man es sagt und ausspricht, scheint man ja schon mittendrin zu sein, ob man will oder nicht). Insofern bitte sie Karomütze (der, wie erst jetzt festgestellt wird, abwesend ist, eine Gelegenheit für eine Ermahnung des Buchalters, endlich wieder vollständige Anwesenheitslisten an den Beginn der Protokolle zu setzen) inständig, wieder auf den Teppich zu kommen und seine pseudomessianisch-pseudosatanischen Phantasien im Alfa zu lassen und eine ernste und vernünftige Lageprüfung vorzunehmen, damit sie den Auftrag, den die EinSatzLeitung - hier stimme sie dem Kollegen Buchhalter völlig zu - gut brauchen könne, nun auch in Arbeit nehmen könne.
TOP 3:
Unter Verschiedenes meldet sich zunächst der Projektentwickler, der sich bitter darüber beklagt, daß er seine B-Ebene an diesem Wochenende nicht bekommen habe, und er unterstreicht gestisch seine Vermutung, daß dahinter wieder einmal seine ehemalige Gattin stecke. Die Kreativabteilung trägt nichts zu ihrer Rechtfertigung vor. Die Chefin beendet die Sitzung und verabschiedet sich für den Tag, da sie ihr krankes Kind versorgen müsse.
Der Protokollant bleibt noch ein wenig mit den anderen EinSatzKräften sitzen, er beglückwünscht die Dame Ö zu ihrer neuen Aufgabe und beschwichtigt den Projektentwickler, den er zwanglos mit Assistentin K ins Gespräch bringt, die dann auch bald ein paar Ideen für eine eigene B-Ebene des Projektentwicklers probiert, und schließlich begleitet er den Buchhalter und den Oberassistenten in das buchhalterische Büro, um auch dort etwas zu glätten, was als Wogen nicht zu stark beschrieben wäre.
Sitzungsleitung: Chefin
Protokoll: Demokratiebeauftragter
Tagesordnung:
1. Einstellung von Dame Ö als Chefsekretärin
2. Debatte über die Frage, ob der Auftrag des leidenschaftlichen Heuchlers angenommen werden soll.
3. Verschiedenes
Große Aufregung beherrscht die Stimmung vor der Sitzung, denn es ist schon vor dem Verteilen der Tagesordnung durchgesickert, daß Dame Ö als Chefsekretärin eine offizielle Funktion erhalten soll, ihr ehemaliger Gatte tuschelt allen mahnend zu, daß das nie gut gehen werde, erstens weil sie entsetzlich ehrgeizig und dominant sei und innerst kürzester Zeit den Chefposten selbst avisieren würde, und zweitens sei sie in Wahrheit völlig disziplinlos und werde, sobald sie erst einmal die Führungsposition (von der in Wirklichkeit noch lange nicht die Rede war, aber wie schnell bauen sich nicht Gespenster auf!) habe, alles verkommen lassen, wenn das nicht genüge, so habe er da noch ein Büchlein mit verfänglichem Material, das im Grunde, da von ihr selbst geführt, allen vor Augen führen werde, um was für eine nicht nur haltlose, sondern sogar gefährliche Person es sich bei ihr handele, um welche er sich, von allen verkannt und von ihr mit nichts als Kälte bedacht, über viele Jahre unter großen Opfern in Wahrheit und Wirklichkeit vergeblich gemüht habe. Die meisten EinSatzKräfte (über die weniger erfreulichen wenigen, die sofort einsteigen, wollen wir hier einstweilen schweigen) weisen zwar das Reden des ehemaligen Gatten indigniert zurück, sind innerlich aber doch beunruhigt (zumal ihnen diese Gouvernante schon immer unverständlich war in ihrer Mischung aus Vorwitz und Witz und seltsamsten Resignationen), und die einzige, die von alledem nichts ahnt, sondern fröhlich trällernd im "Bistro" erscheint, ist die Dame Ö selbst, die sogar dem Projektentwickler einen zwar nicht versöhnlichen, aber doch zivilisierten knappen Gruß hinwirft (denn sie glaubt, er habe nunmehr Ruhe gegeben und sich abgefunden wie sie selbst und sich auf eine konstruktive Linie bewegt wie sie selbst, und was immer sie als Zeichen des Gegenteils im wohlbekannten aber lange auch sehr fremd gewordenen Gesicht lesen könnte, will sie lieber gar nicht sehen, um sich nicht hineinziehen zu lassen, darum ist sie bewußt extrem knapp), bevor sie sich daran macht, einen Teller mit Apfelstückchen und Ahornsirup fürs Mo zuzubereiten, damit die während der Sitzung doch etwas zu schlecken habe. Der Protokollant beobachtet alles dieses, das ja in sein ureigenstes Gebiet fällt, mit großer Sorge, ruft aber zur Eröffnung der Sitzung.
Die Chefin eröffnet gewohnt sachlich, sehr erholt sieht sie nicht aus, aber es geht.
TOP 1:
Die Chefin teilt der EinSatzLeitung mit, daß sie, um verschiedenen Mißständen abzuhelfen und unter Nutzung einer zurückliegenden relativ guten Auftragslage nunmehr vorschlage, die Dame Ö als Chefsekretärin einzusetzen, dieser Schritt werde ihr viele Arbeiten abnehmen, den Oberassistenten, der in letzter Zeit zwischen drei Büros hin und her gesprungen sei - ermöglicht wurde dies dadurch, daß der Projektentwickler noch nicht soo viel zu entwickeln hatte, aber das soll sich ja gerade ändern, nicht wahr - entlasten, und im übrigen dem allgemeinen Auftritt der EinSatzLeitung in der Öffentlichkeit förderlich sein, da die Dame Ö über Umgangsformen, Allgemeinbildung und ein außerordentlich gesundes Urteil verfüge, wodurch auch kompliziertere Fälle, wie sie immer wieder ins Haus zu stehen scheinen, in Angriff genommen werden könnten.
Mit knapper Mehrheit stimmen die EinSatzKräfte zu, eine Diskussion wird vermieden, da die Chefin, der Demokratiebeauftragte und die Kreativabteilung geschlossen hinter der Entscheidung stehen, es bleibt aber um Buchhalter und Projektentwickler ein gewisses Unbehagen, der umherschweifende Sicherheitsbeauftragte als Zünglein an der Waage könnte durch merkwürdige Allüren (über die noch zu sprechen sein wird) ein Risikofaktor sein, und die Leitung Öffentlichkeit, die erstmal zugestimmt hat, weil sie auf diese Weise hofft, den permanenten Scharfblick der zwar funktionslosen, aber bei einigen Kräften in der Leitung sehr beliebten Dame Ö aus ihrer Abteilung besser heraushalten zu können, könnte unter sich ändernden Umständen durchaus anfällig sein für die Propaganda des Projektentwicklers, insbesondere dann, wenn dieser womöglich Romeo-Qualitäten entwickelt und sich ihrer Singularität annimmt.
TOP 2:
Die Kreativleitung nimmt das Wort und teilt mit, daß tatsächlich der leidenschaftliche Heuchler um die Erstellung eines Angebots ersucht habe. Sie erbitte sich eine Woche Zeit, um zu prüfen, ob die Bedingungen von Freiheit und Sicherheit es hergeben, seinen Auftrag zu bearbeiten. Bei dem hinter dem leidenschaftlichen Heuchler stehenden Gebilde sei bekannt, daß falsche Äußerungen noch schlimmere Folgen haben könnten als beim Milchzaren, denn, wie der klitzekleine Forschungsminister überzeugend dargetan habe, handele es sich bei den Heuchlern um ein Problem, das man immer in Fällen von kognitiver Dissonanz antreffe: je weniger sich eine Gruppe ihre sogenannten Wahrheiten glaube, desto wichtiger sei ihr zum Zusammenhalt, daß sie andere von der Geltung der Wahrheit überzeuge, und auf diese Weise könne man, wenn aus den eigenen Äußerungen erhelle, wie wenig man selbst die (zum gekonnten Heucheln ja unerläßliche) Wahrheitsbasis des Gebildes glaube, sehr leicht in die Schußlinie von heftigen Attacken geraten, und da habe man dann nichts mehr in der Hand, um sich zu schützen, denn die wirklich fanatischen Anhänger der in diesem Gebilde postulierten Wahrheiten seien ja nicht einmal durch menschliche Gesten und irgendeinen Charme verführbar, während man dem Milchzaren doch immerhin ein wenig habe schmeicheln und auf diese Weise etwas wie Menschlichkeit in ihm habe anrühren können, was bei überwiegend machtzentriert agierenden Menschen ja nicht selbstverständlich sei (und sie schüttelte sich, als sie alles dieses sagte, denn sobald man es sagt und ausspricht, scheint man ja schon mittendrin zu sein, ob man will oder nicht). Insofern bitte sie Karomütze (der, wie erst jetzt festgestellt wird, abwesend ist, eine Gelegenheit für eine Ermahnung des Buchalters, endlich wieder vollständige Anwesenheitslisten an den Beginn der Protokolle zu setzen) inständig, wieder auf den Teppich zu kommen und seine pseudomessianisch-pseudosatanischen Phantasien im Alfa zu lassen und eine ernste und vernünftige Lageprüfung vorzunehmen, damit sie den Auftrag, den die EinSatzLeitung - hier stimme sie dem Kollegen Buchhalter völlig zu - gut brauchen könne, nun auch in Arbeit nehmen könne.
TOP 3:
Unter Verschiedenes meldet sich zunächst der Projektentwickler, der sich bitter darüber beklagt, daß er seine B-Ebene an diesem Wochenende nicht bekommen habe, und er unterstreicht gestisch seine Vermutung, daß dahinter wieder einmal seine ehemalige Gattin stecke. Die Kreativabteilung trägt nichts zu ihrer Rechtfertigung vor. Die Chefin beendet die Sitzung und verabschiedet sich für den Tag, da sie ihr krankes Kind versorgen müsse.
Der Protokollant bleibt noch ein wenig mit den anderen EinSatzKräften sitzen, er beglückwünscht die Dame Ö zu ihrer neuen Aufgabe und beschwichtigt den Projektentwickler, den er zwanglos mit Assistentin K ins Gespräch bringt, die dann auch bald ein paar Ideen für eine eigene B-Ebene des Projektentwicklers probiert, und schließlich begleitet er den Buchhalter und den Oberassistenten in das buchhalterische Büro, um auch dort etwas zu glätten, was als Wogen nicht zu stark beschrieben wäre.
Sonntag, 21. September 2008
465.
Unterdessen hatte Karomütze sein Umherschweifen wieder aufgenommen, das immerhin seine Aufgabe war, denn wo immer eine Persona aus der EinSatzLeitung ihren Fuß hinsetzte, da sollte zuvor die Lage erkundet, die Luft bereinigt und der Boden bereitet sein, welches zu besorgen Karomützens Pflicht war, eine Pflicht im übrigen, die zugleich Kür war, denn er liebte diese Tätigkeit und insbesondere das Schweifende daran, nicht nur, wenn er mit seinem schwarzen Dienstfahrzeug "richtig auf die Tube drücken" und dabei alle Arten von Musik hören oder per Funk das eine oder interessante Gespräch führen konnte, nein, es war ihm auch immer wieder ein Vergnügen, mit den Menschen draußen im Lande - und manchmal auch regelrecht auf dem Lande, öfter in der Stadt und seltener zu Wasser (die Luft überließ er eher den Vögeln) - zu verkehren, sie in ihren Gewohnheiten zu beobachten und ihnen das eine oder andere abzulauschen, das sie so vielleicht gar nicht gesagt haben wollten, um sie schließlich in seine Pläne der Bodenbereitung einzubinden, wie er es in seinem semiprofessionellen Jargon gern auszudrücken beliebte, und so hatte er nach seinem letzten Schweifen eine hocherstaunliche Geschichte von einem menschlichen Gegenstück zu dem in der EinSatzLeitung überaus beliebten erzählenden Kranich mit dem bis weit über die Breite der Schwungfedern reichenden Lächeln dabei, welche wir hier demnächst berichten werden, freilich nur, um unseren gefiederten Freund ausdrücklich als das blanke Gegenteil zum durch die Geschichte charakterisierten Menschenwesen in ein besonders freundliches Licht zu rücken.
Samstag, 20. September 2008
464.
In den Höhen hallte das erhabene Gelächter des höchsten Brachvogels noch nach, die Wesire beeilten sich, es als einen risus purus zu bezeichnen und zu beräuchern und auch hierüber wieder dicke Bücher zu schreiben, deren Lektüre sie allen frischgetupften und geschlüpften Jungbrachvögeln zur ehernen Pflicht zu machen gedachten, während in den hochsprachlich bewohnten Tiefebenen der Hanse die Gattin des ehemaligen Chefs mit der Dame Ö in der Hollywoodschaukel saß, der Kälte wegen in Wolldecken gewickelt, dampfenden Tee gelegentlich an die Lippen führend, und die beiden lachten auf äußerst irdische Weise vor sich hin, denn die Dame Ö in ihrer neuen Einsamkeit machte durchaus gesellige Erfahrungen, über welche sie amüsiert und amüsant zu berichten wußte, insbesondere aber amüsierte sie, was ihr Sohn über die Welt der jungen Damen berichte, hier weniger, was er berichte, und mehr, wie er es berichte, denn es scheine sich in ihm eine neue Besorgnis herauszukristallisieren, in der er, also der Sohn, fürchte, als Seele nicht ernstgenommen zu werden, und darüber müsse sie als langjährige stille Beobachterin aller seiner Abenteuer, in denen es ihm nicht gar so sehr auf die Seele der Damen angekommen zu sein scheine, dann doch ein wenig lachen, aber die Gattin des Chefs sagte, das sei doch eine ernste Sache, wie sie sich da so belustigen könne, und Dame Ö hob die Braue und sagte, daß sie so besorgt sind, sie hätten keine, das ist das eigentlich komische an der Sache, und daß sie nach allem, kaum daß eine junge Frau einmal auch das sogenannt Körperliche in den Vordergrund rückt, sofort um ihre Seelen fürchten und daß sie vernachlässigt werden könnten, das ist das Seltsame, aber hübsch an meinem Söhnchen finde ich doch, daß er das nicht - wie wir es an sich gewohnt wären in unserer Generation - gleich wieder umlügt in eine Besorgnis um die Seele der betroffenen Frau, das sollten wir doch als einen kleinen Fortschritt preisen, und da die Gattin des ehemaligen Chefs dieses alles so gar nicht in Verbindung zu bringen wußte mit ihrer Erfahrung, staunte sie sich die Augen rund und begann, über ihren eigenen Sohn nachzudenken und ob er wohl auch so leiden müsse, aber am Telefon erreichte sie ihn nicht, du wirst dich hüten, ihn jetzt noch derartig zu bemuttern, sagte Dame Ö, und die Gattin des ehemaligen Chefs sagte, ich bin doch nur neugierig geworden (was natürlich im selben Maße wahr war, wie es auch gelogen war).
Donnerstag, 18. September 2008
463.B.
Die Chefin hatte natürlich recht. Und dennoch war das allerletzte Ziel der EinSatzLeitung eben doch ein wahrhaftiges Schreiben in vielen Stimmen. Die Stimmen des erzählenden Kranichs und der Brachvögel gehörten dazu. So erbarmte sich schließlich der oberste aller Brachvögel, welcher dies alles aus seinen Höhen beäugte, der ausgebremsten Kreatviabteilung ebenso wie seiner eigenen nun doch geweckten Neugierde und ermannte sich und dachte sich, es muß doch auch unser Verhalten eine Art haben. Und er erwog, sich das Manuskript zu erbitten, zunächst nur zu eigener Ansicht, und für diese nahm er sich vor, seine vermutlich erst einmal aufkochende Wut zu überwinden und erst dann zu reagieren, wenn mehrere Stunden über der Lektüre vergangen wären, und er tat ein übriges und fragte eine Dame, die in seinen Höhen Dienst an ihm tat, um Rat. Diese riet auch dazu, in der EinSatzLeitung anzurufen und um das Manuskript zu ersuchen. Seine Großwesire hatten anders geraten, nämlich: einfach außerhalb der Geschäftszeiten in die EinSatzLeitung einbrechen und Manuskripte klauen, immerhin ist Gefahr im Verzug, und man hatte doch Übung in solchen Aktionen. Er aber, der höchste aller Brachvögel, hatte gefragt, welche Gefahr denn? Daß Leute lachen? Ja, wollen wir das denn nicht? Und die Großwesire hatten bedenklich ihre grauen Häupter hin und her bewegt. Natürlich wollen wir nicht, das gefährdet uns doch. Und der höchste aller Brachvögel, der in Glaubensangelegenheiten sehr streng zu sein pflegte, hatte gedonnert: Das glaube ich nicht.
Und so geschah es, daß ihm folgendes Manuskript vorgelegt wurde, unter Furcht und Zittern der EinSatzLeitung, insbesondere der Chefin, die aber doch eine solche Gelegenheit nicht ungenutzt vorüberziehen lassen konnte - denn diese konnte möglicherweise die Schnecke Befreiung wieder einige Zentimeter voranbringen:
"Es ging auf das Wochenende zu, an dem eigentlich der Herr Projektentwickler seine eigene B-Ebene bekommen sollte. Doch der erzählende Kranich und Karomütze hatten die Kreativabteilung davon überzeugt, daß einmal ein wenig über die Brachvögel gesprochen werden müsse, denn diese rührten sich sehr im Schilfe der niederen Sprachen und hatten nach der fortgeschrittenen Marginalisierung des Pestvogels sogar Abgesandte in die Gebirge der höheren Sprachen und auch in die Büroetage der EinSatzLeitung geschickt, um hier recht gründlich nach dem Rechten zu sehen und eine brachvogelige Vorstellung von dem, was das Rechte sei, zu verbreiten.
Die Brachvögel sind eine strikt hierarchisch organisierte Species, die ausschließlich aus Männchen besteht. In Umkehrung der Gewohnheiten der Kuckuckoioi, deren Weibchen bekanntlich ihre Eier in fremden Nestern ablegen, um sich der Brutpflege zu entziehen (mit dem drolligen Effekt, daß der Mensch von manchen seinesgleichen als von Kuckuckseiern spricht), haben sich die ausschließlich männlichen Brachvögel darauf spezialisiert, anderen verwandten Vogelarten die Eier aus den Nestern zu stehlen und in eigens für diesen Zweck eingerichteten Nestern auf ihre Weise zu bearbeiten. Dabei färben sie in winzigen Schritten bereits während der Bebrütung unablässig alles graubraun ein, was sich in ovo an Gefieder bildet. Da dieses von ihnen selbst verhängte Graubraun dann sehr eintönig und farb- und freudlos aussieht, haben sie die Gewohnheit, einige kleine helle Tupfer von ganz außen zu applizieren, wodurch ihre kostbare Beute, der das Innere an Lebenskraft im Augenblick des Nestraubs genommen wurde, immerhin äußerlich aussieht, als gäbe es doch eine Art Restfröhlichkeit, und durch die Beine und den Schnabel wirkt der überwiegend mittelgroße und mittelinteressante Vogel dann nicht immer völlig unschön, was immerhinque zugestanden werden muß. Ihren Namen tragen die Brachvögel, weil sie die Zweigeschlechtlichkeit der Welt überhaupt ablehnen und ausdrücklich deren generelle Brachlegung allgemein empfehlen. Auf der Grundlage dieser Ablehnung der Zweigeschlechtlichkeit, von der sie die Homosexualität keineswegs ausnehmen, die sie im Gegenteil und ungeachtet beachtlicher literarischer Werke zu diesem Thema (aus denen sie sich übrigens auch gern bedienen, wenn es darum geht, ihre Forderungen und ihren Kitsch und das, was darin immer auch ein bißchen weise ist, zu verbreiten) noch schroffer ablehnen als die zweigeschlechtliche sexuelle Betätigung, flöten sie dann aber sehr gern und durchaus eindringlich von Liebe und übrigens auch der Bestimmung zur Fortpflanzung (wofür sie sich wohl durch ihre bemerkenswerte Weise der Partizipation am Brutpflegegeschäft für berechtigt halten). Das eigentlich Überraschende an dieser Merkwürdigkeit ist nun aber, daß ausgerechnet diesen Vögeln und ihrem hohlen Gepfeife über etwas, das Liebe zu nennen sie sich niemals schämen, sehr viele andere, durchaus nicht an Brachlegung ihrer Triebe interessierte Vögel nicht nur zuhören und nachpfeifen, sondern daß sie ausgerechent diesen – und zwar obwohl die Gefahren der brachvogeligen Aufzuchtgewohnheiten bekannt sind, und zwar seit langem!– Brachvögeln immer wieder gern ihren Nachwuchs anvertrauen. Wir überliefern hier ein sehr seltsames Konzert, nicht von Kuckuck und Esel, aber von Kuckuck und Brachvogel."
Und so geschah es, daß ihm folgendes Manuskript vorgelegt wurde, unter Furcht und Zittern der EinSatzLeitung, insbesondere der Chefin, die aber doch eine solche Gelegenheit nicht ungenutzt vorüberziehen lassen konnte - denn diese konnte möglicherweise die Schnecke Befreiung wieder einige Zentimeter voranbringen:
"Es ging auf das Wochenende zu, an dem eigentlich der Herr Projektentwickler seine eigene B-Ebene bekommen sollte. Doch der erzählende Kranich und Karomütze hatten die Kreativabteilung davon überzeugt, daß einmal ein wenig über die Brachvögel gesprochen werden müsse, denn diese rührten sich sehr im Schilfe der niederen Sprachen und hatten nach der fortgeschrittenen Marginalisierung des Pestvogels sogar Abgesandte in die Gebirge der höheren Sprachen und auch in die Büroetage der EinSatzLeitung geschickt, um hier recht gründlich nach dem Rechten zu sehen und eine brachvogelige Vorstellung von dem, was das Rechte sei, zu verbreiten.
Die Brachvögel sind eine strikt hierarchisch organisierte Species, die ausschließlich aus Männchen besteht. In Umkehrung der Gewohnheiten der Kuckuckoioi, deren Weibchen bekanntlich ihre Eier in fremden Nestern ablegen, um sich der Brutpflege zu entziehen (mit dem drolligen Effekt, daß der Mensch von manchen seinesgleichen als von Kuckuckseiern spricht), haben sich die ausschließlich männlichen Brachvögel darauf spezialisiert, anderen verwandten Vogelarten die Eier aus den Nestern zu stehlen und in eigens für diesen Zweck eingerichteten Nestern auf ihre Weise zu bearbeiten. Dabei färben sie in winzigen Schritten bereits während der Bebrütung unablässig alles graubraun ein, was sich in ovo an Gefieder bildet. Da dieses von ihnen selbst verhängte Graubraun dann sehr eintönig und farb- und freudlos aussieht, haben sie die Gewohnheit, einige kleine helle Tupfer von ganz außen zu applizieren, wodurch ihre kostbare Beute, der das Innere an Lebenskraft im Augenblick des Nestraubs genommen wurde, immerhin äußerlich aussieht, als gäbe es doch eine Art Restfröhlichkeit, und durch die Beine und den Schnabel wirkt der überwiegend mittelgroße und mittelinteressante Vogel dann nicht immer völlig unschön, was immerhinque zugestanden werden muß. Ihren Namen tragen die Brachvögel, weil sie die Zweigeschlechtlichkeit der Welt überhaupt ablehnen und ausdrücklich deren generelle Brachlegung allgemein empfehlen. Auf der Grundlage dieser Ablehnung der Zweigeschlechtlichkeit, von der sie die Homosexualität keineswegs ausnehmen, die sie im Gegenteil und ungeachtet beachtlicher literarischer Werke zu diesem Thema (aus denen sie sich übrigens auch gern bedienen, wenn es darum geht, ihre Forderungen und ihren Kitsch und das, was darin immer auch ein bißchen weise ist, zu verbreiten) noch schroffer ablehnen als die zweigeschlechtliche sexuelle Betätigung, flöten sie dann aber sehr gern und durchaus eindringlich von Liebe und übrigens auch der Bestimmung zur Fortpflanzung (wofür sie sich wohl durch ihre bemerkenswerte Weise der Partizipation am Brutpflegegeschäft für berechtigt halten). Das eigentlich Überraschende an dieser Merkwürdigkeit ist nun aber, daß ausgerechnet diesen Vögeln und ihrem hohlen Gepfeife über etwas, das Liebe zu nennen sie sich niemals schämen, sehr viele andere, durchaus nicht an Brachlegung ihrer Triebe interessierte Vögel nicht nur zuhören und nachpfeifen, sondern daß sie ausgerechent diesen – und zwar obwohl die Gefahren der brachvogeligen Aufzuchtgewohnheiten bekannt sind, und zwar seit langem!– Brachvögeln immer wieder gern ihren Nachwuchs anvertrauen. Wir überliefern hier ein sehr seltsames Konzert, nicht von Kuckuck und Esel, aber von Kuckuck und Brachvogel."
463.
Der Ernst im Gesicht der Chefin erklärte sich daraus, daß die Assistentin K einen B-Ebenen-Text über das Brachvogelwesen, wie der erzählende Kranich es sah, falsch platziert und zu unpassender Zeit nach vorne gebracht hatte, so daß diesmal die Chefin selbst seinen Rückzug angeordnet hatte – und zwar nicht, weil der Text wirklich schlecht oder falsch oder in seinem Inhalt anderen gegenüber verantwortungslos gewesen wäre, sondern weil er durch sein Hier-und-Jetzt-Herausgebrachtwerden etwas wie eine Provokation gewesen wäre, die man sich besser nicht leisten sollte, wenn man die Ziele der EinSatzLeitung im Auge hatte und das Wohl aller befreundeten Personen mit bedachte – es war aber sehr bedauerlich gewesen, dies im Kreativbüro mitzuteilen, die Damen hatten lange gemurrt und der Chefin gesagt, wir wissen nicht, wie du das Mo klarmachen willst, gerade hat sie sich noch so gefreut, und darum hatte sich die Chefin im Korridor ein paar Worte zurechtgelegt, mit deren Hilfe sie Mo die Sache erklären wollte, indem sie sagen wollte: niemand von Charakter kann aufhören, für seine Freiheit zu kämpfen, niemand, der lange inKetten gelegen hat, kann, wenn er sie ein wenig gelockert fühlt, verstehen, daß die Ketten, die uns der Zorn insbesondere der nur wenig bessergestellten Mitgefangenen anlegt, trotzdem noch da und eine sehr ernste Sache sind, und dann machen solche Wesen, die einmal für länger gefangen waren, oft gerade im ersten Augenblick, in dem sich Befreiung abzeichnet, die dümmsten Sachen, durch die sie dann wieder in Gefangenschaft geraten, ich habe das verhindern wollen, sagte sie, und dann trug sie selbst das kleine Mobündel wieder zurück in die Kreativleitung und ging nicht ohne eine gewisse Gräue in ihrem eigenen Gesicht mitzunehmen, in ihr eigenes Büro zurück, nicht ohne trotz allem der Kreativabteilung aufmunternd zuzunicken.
462.
Niemand bezweifelte ernsthaft, daß der klitzekleine Forschungsminister der Star des gestrigen Einsatzes war, denn er hatte in einem nicht einmal vom Buchhalter monierten beispiellosen Regelbruch die entscheidenden systematischen Grundlagen geliefert, um letztlich auch Wesen wie Mo einiges vom üblichen Beurteilungsschrott vom Halse zu halten (natürlich, wie es sich für einen Forschungsminister welcher Größenordnung auch immer gehört, indem er auf seine Weise die großen Arbeiten großer Kollegen aus allen Jahrhunderten zitierte oder interpretierte, dies freilich eigenwillig durchaus), weshalb Mo spontan die Kreativabteilung, kaum daß sie wieder in der EinSatzLeitung angekommen war, verließ und über den Flur trippelte, um sich beim Klitzekleinen persönlich für den spektakulären Satz zu bedanken (dabei fand sie ihn in der Regel nicht so toll, den Geschrumpften, Gekränkten, Humorfernen, aber über den Satz hatte sie sich eben gefreut) und sogleich überrascht zu bemerken, daß dieser antwortete, indem er sich bei ihr bedankte, und zwar für den Anlaß, den sie ihm dafür geboten hatte, seinen Satz zu formulieren (solches tat er in der Regel wirklich nur noch in dringenden Fällen, was interessierte ihn schließlich das allgemeine Hickhack der Forschung - daß er sich dann aber bei ihr für die Bereitstellung eines solchen Notfalls bedankte, dies nahm sie sehr für ihn ein, darin erschien er ihr dann doch ein bißchen weise) und als der Minderheitler mit den grünen Borsten, den die Nachricht von ihren Beängstigungen erreicht hatte, Mo zu einem kleinen Imbiß mit Äpfeln, Honig und Walnüssen einlud, da nahm sie den klitzekleinen Forschungsminister kurzer Hand mit ins "Bistro" und hätte nicht übel Lust gehabt, auch noch mit anderen ein wenig zu feiern, aber es ereignete sich, daß die Chefin hereinkam und ein, nun ja, ziemlich ernstes Gesicht über ihrem Halse trug.
Mittwoch, 17. September 2008
461.
Die in den letzten EinSätzen beschriebenen Szenen spielten sich alle an jenem Tage ab, als (443) der Herr X. in die Kreativabteilung und wieder aus ihr heraus stürzte, Mo hatte an jenem Tage den Gesamtauftritt und -abtritt ohrenliderlos unter ihrem Schal liegend mit angehört und war unmittelbar danach mit der Assistentin K in jene Arbeitswohnung geschickt worden, denn die Kreativleitung hatte gefürchtet, sie ohne eine solche Verschickung gar nicht mehr wiederbeleben zu können, so furchtbar war ihr Zustand, wobei es interessanterweise nicht so sehr die (freilich durch nichts zu verharmlosende) Walze selbst gewesen war, sondern der letzte Schlag war gewesen, daß der Kwaliteitswart, den sie bisher stets voller Freude begrüßt hatte (schon weil die Kreativleitung ihn so bezaubernd zu finden schien) sich in seinem im Schreck ernötigten Selbsthandeln nun tatsächlich als einer von jenen Versöhnungskitschlern zu erweisen schien, die wirklich glauben, mit einer gewissen klempnerischen Pseudoarchitektur alle mit allen zusammensperren und an so einem Experiment sich und der Welt die Nützlichkeit ihrer Arbeit und ihrer guten Absichten beweisen zu können, und es hatte Mo, die doch ein einfaches Gemütchen war, im Nachgang dann maßlos überfordert, nun ausgerechnet mit der von ihr nicht sonderlich geliebten Abteilung Öffentlichkeit in einem Boot zu sitzen, da allein diese immerhin nicht völlig eingenommen zu sein schien von der wohl- und selbstgefälligen Auflösung der Szene; es war der Assistentin, die sich nach mehr als einer Woche Exil doch in das Kreativbüro und zu den anderen EinSatzKräften zurückwünschte, dann erst nach längeren Gesprächen rings um den Abdruck von 450.B gelungen, Mo davon zu überzeugen, daß sie im Kreativbüro künftig wieder in Sicherheit sei, daß man ihr notfalls sogar eine pro-forma-Ehe verschaffen würde, falls sie das beruhige, und offenkundig konnte nur das sie beruhigen, hatte sie sich doch mit gespenstischer Sicherheit und Elaboriertheit in den Gedanken verbissen, daß auch im Westen nur dann ein entlaufenes Weibstück nicht zurückgegeben werden müsse, wenn es als Eigentum eines neuen Besitzers kenntlich sei, andernfalls würden von manchen Kräften, die sich völlig zu unrecht als Erfinder und Retter des Guten im Abendlande aufspielten, gnadenlos weitere weibliche Personen an zahllose Experimente verfüttert, es würde von ihnen gnadenlos weiter mit Isolation, Verarmung und manipulativen Beschallungen auf die entlaufenen Weibspersonen eingedroschen, bis eine Restitution früherer Besitzverhältnisse, nun freilich unter dem Vorzeichen der "Versöhnung," mit allen unlauteren Mitteln durchgesetzt sei, denn der Besitz des Mannes am Weibe ist unantastbar, so hatte sie es mit Schrecken und Entsetzen gelernt, und nur Kloster oder Ersatzehe konnten schützen, die versprochene Freiheit der Frauen, alles Lüge, hatte sie gekräht, Freiheit lassen, das sollen wir, aber uns gewährt man keine Freiheit, nicht einmal die blöde komplementäre, die uns nichts nützt, geschweige denn die, die wir selbst erfinden könnten, das ist das Abendland, und es kostete Chefin, Kreativleitung, Demokratiebeauftragten und Karomütze viel Mühe, sie davon zu überzeugen, daß sie wirklich nicht mehr behelligt werden würde, daß man ihr wirklich die Freiheit zu allen Verbindungen, die sie wünsche, lasse und ihr alle Verantwortlichkeit zutraue, daß man sich wirklich freue, sie wieder da zu haben, da ohne sie die Texte gar zu scheußlich würden, und daß man ihr wünsche, sich mit denen zusammenzutun, mit denen sie es gern habe, daß man diese ihre Freiheit selbstverständlich vor allen äußeren Einbrüchen und idiotischen "Reklamationen" schützen werde und daß sicherlich auch der Kwaliteitswart mißverstanden sei, wenn man seine Kunst, den Herrn X. ruhig zu stellen, verwechsele mit einem Versuch, diesem nun weitere Menschen oder ähnliche Wesen als Nutztiere zuzuführen, nein, man führe ihm gar nichts zu, und niemanden, schon gar nicht Mo, man sei nur froh, daß er sich zufrieden gebe, man arbeite in der Tat an einem Kontrakt zwischen X und Y, aber natürlich sei das eine Arbeit, die mit ihren Tätigkeiten rein gar nichts zu tun haben müsse, und allmählich entgraute Mo und besänftigte sich und nahm den Platz auf dem Fell wieder ein, aber dies zu erreichen hatte die EinSatzKräfte nicht weniger Mühe gekostet als die etwas turbulentere und lustigere Beruhigung des oberniedersächsischen Milchzaren.
Dienstag, 16. September 2008
460.
Karomütze hatte sich zwar gefügt und an der seltsamen Bodenrunde teilgenommen, aber als er mit dem Buchhalter und dem an jenem Tage ausgesprochen spitznasig wirkenden Projektentwickler sowie dem Oberassistenten und der nicht mehr ganz so neuen Leitung Öffentlichkeit gemeinsam im Büro Öffentlichkeit saß, um die Sache nachzubereiten, war er entschieden der Wortführer und sagte zunächst einmal mit mäkeliger Stimme, daß der Kwaliteitswart ein selbstgefälliger und undurchsichtiger Bursche ist, dessen Kredit in der Kreativabteilung und bei den Chefs mir nie so richtig eingeleuchtet hat, war ja klar, aber daß er neuerdings agiert wie nach dem Drehbuch der Versöhnungskitschler, hätte ich nun nicht gedacht (es war klar, daß niemand in der Runde Karomütze einen solchen Einschätzungsfehler ernsthaft verzeihen würde, aber einstweilen schwieg man noch dazu), mir scheint, wir müssen ihm mal ein wenig auf die Finger klopfen, denn der Milchzar, soviel dürfte doch klar sein, wird zwar uns jetzt vielleicht in Ruhe lassen, allein schon um nicht weitere Hemden zu bekleckern, aber er wird doch weiter wüten und die Lehren der Nutztierhaltung auf alles, was ihm über den Weg läuft, übertragen, und so geht es mal nicht, so geht es einfach nicht.
Montag, 15. September 2008
459.B.
Der Kwaliteitswart wäre gern ganz in seiner Funktion aufgegangen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Eben noch stolz, die Tür mit dem Fuße öffnen zu können, mußte er sich nun als Teil eines ridiculem Arrangements sehen, den erst schnaubenden, dann fluchenden, dann verstummenden Milchzaren bekleckert zu seinen Füßen, die erschrockenen Augen diverser Kolleginnen und Kollgen auf sich gerichtet, konnte er nun nicht mehr die Handlungen anderer überprüfen und dabei stets recht elegant zurückgelehnt bleiben, sondern er, er ganz allein, hatte etwas zu tun, und, nachdem ihm dieses verschrikkelijk klar geworden war, tat ers: Er setzte sanft die ohnehin nicht einmal mehr halbvollen Becher neben seine Füße und neben die Hände des Obersachsen oder Niedersachsen auf den Boden. Sodann, weiter hockend, fummelte er ein Taschentuch aus seiner Tasche und fragte hilfsbereit, ob er wischend irgendwie tätig werden könne. Der Zar nahm das Angebot dankbar an, die beiden hockten auf der Türschwelle, der Kwaliteitswart wischte am Nutztierhalter herum und, als er fertig war, sah er auf, sah in die Runde und sagte, ja, manchmal kommen die Dinge anders als man denkt, es ist noch nicht so lange her, da züchteten wir uns mit den wildesten Spekulationen Eins-zu-Einsler heran, die wir dann erbittert bekriegen konnten, nun haben wir Besuch von einem Auftraggeber, der unzufrieden tobt und uns dann liebevoll in die Arme fällt, welche freilich so eine Fracht nicht halten können, und er schüttelte seinen Kopf. Karomütze echauffierte sich und wollte richtig stellen, das sei nun wirklich kein liebevolles Fallen gewesen usw., aber die Kreativleitung packte ihn am Arm und sagte, lass nur, setzen wir uns einfach alle und beraten weiter. Komischerweise setzten sich wirklich alle, immer noch glotzend, wohin auch immer. Plötzlich fühlte sich der Milchzar ungeheuer leicht und wohl und lachte lauthals los. Dabei war gar nichts Lustiges passiert. Die gesamte EinSatzLeitung kam herzu, alle saßen so um die Tür zur Kreativabteilung herum und fühlten sich plötzlich glücklich. Dame Ö war sich nicht zu schade, ein großes Tablett mit Kaffee für alle zu holen, die nasse Jacke des Milchzaren wurde aufgehängt, das fleckige Hemd schien ihm zu gefallen, und sie plauderten mehr als eine Stunde lang. Sie lernten viel, nicht nur über Kühe. Irgendwann gab es eines dieser Telefongeräusche, der Zar nahm auf, murmelte ein wenig, man hörte energische Töne am anderen Ende: den Zaren zog es zu seiner Dame. Er sagte schnell, eigentlich sei die Eloge ganz gut, er werde demnächst zahlen, und vielleicht sollte er sich einfach mal mit Herrn Y. treffen, das sei vielleicht doch die bessere Idee, man müsse dem schließlich mal beibringen, wie das gehe, was er immer und immer zu ihm gesagt habe, kämpfen, kämpfen, kämpfen...und in diesem Worte sich einsingend erhob er sich mühsam (wobei ihm seine Stattlichkeit nicht zustatten kam) und ließ sich nunmehr freundlich plaudernd mit bekleckertem Hemde von der unangefochten reinlichen Dame Ö zur Einganstür geleiten. So endet die Geschichte vom Milchzaren aus Nieder- und Obersachsen und seinem Besuch in der EinSatzLeitung.
459.
Fast wäre er ja schon über Gebrüll und Gewalze gestolpert, der Milchzar, aber daß er nun real mit einem honigverklebten Tellerchen in Berührung kam, das hielt seinem ersten Stolpern ein zweites gleichsam balancierend entgegen, weshalb er also eigentlich in ein neues Gleichgewicht hätte geraten können, aber aus ungeklärter Ursache fiel Herr X. nun gerade und in Höchstgeschwindigkeit (welcher seine Stattlichkeit sehr zustatten kam) gleichsam in die Tür, und er hätte sich gar übel verletzen können, wäre die Türe nicht just in diesem Augenblick allerdings von außen geöffnet worden - durch keinen anderen als den Kwaliteitswart, welcher, in jeder Hand einen Kaffeebecher haltend, zum Öffnen der Türe von einem seiner nicht zu kurzen Beine Gebrauch gemacht hatte und nun umstehend Teil eines Gesamtkunstwerks wurde, bestehend aus einem ihm in die haltlosen Arme fallenden Herrn X., zwei ihren Inhalt über diesen ergießenden Kaffeebechern und eben dem Kwaliteitswart höchstselbst, der immer nur "verschrikkelijk, verschrikkelijk" rief und in die Gesichter der Kolleginnen und Kollegen glotzte, deren Verlegenheit in dieser Sekunde keineswegs geringer geworden war.
Sonntag, 14. September 2008
458.
Mit einer Walze aus Gebrüll und Zorn hatte der niedersächsische Milchzar jeden Deeskalierungsversuch der Kreativleitung niedergewalzt, so daß, wie man sich erinnern wird, mehrere andere EinSatzKräfte herzugerufen werden mußten, um ihn durch die stille Demonstration ihrer momentanen und in den Räumen der EinSatzLeitung unangefochtenen Übermacht zu einem Verhalten zu motivieren, das man als halbwegs gesittet einzustufen habe, die Kreativleitung hatte in der solcherart hergestellten Atmosphäre unter dem Schutze von Demokratiebeauftragtem, Sicherheitsbeauftragtem und der Chefin selbst ihm erläutert, daß ihr keines seiner Argumente für ein besonderes Verdienst seiner Person um Herrn Y ernsthaft einleuchte, er müsse sich ihrer Ansicht nach mit einer Ehrung seiner Verdienste um die Nutztierhaltung bescheiden und könne im übrigen nach diesem Auftritt froh und dankbar sein, daß man überhaupt den Namen der EinSatzLeitung hergebe für eine Art Würdigung seiner Person, es sei fernerhin schon dieses ungewöhnliche Entgegenkommen außer einem zu keiner Diskussion freigegebenen Streben nach einem möglichst vollständigen und möglichst allen Menschen Recht erweisenden Gesamtbild von der Welt auch einer kleinen, im Laufe der Arbeit entstandenen persönlichen Sympathie zu verdanken, von der sie ihm freundlichst nahelege, sie nicht zu verspielen - es war natürlich sichtbar, daß der Herr X bei dieser Ermahnung sich sofort wieder empörte, denn sie schien ihm die realen Machtverhältnisse auf haarsträubende Weise zu verkehren, er hatte schließlich nicht um Sympathie für seine Person gebeten, sondern lediglich um pünktliche Ausführung eines Auftrags nachgesucht, stattdessen Belehrungen aller Art über die Natur der Sprache und der Wahrhaftigkeit in der Darstellung der Welt empfangen und eine unerwünschte nachgerade weltpolitische Meinung der Kreativleitung gehört, diese auch noch verpackt in eine Sympathieerklärung, die zugleich eine Mahnung zur Kenntnisnahme der Verlierbarkeit einer Sympathie enthielt, also dergleichen war wirklich zu nichts zu gebrauchen, und er wollte sich schon umdrehen und knapp grüßend diesen Räumen den Rücken kehren, als er über etwas stolperte, das sich als ein honigverklebter, von Mo zurückgelassener Teller erwies ... mit der durch dieses Stolpern verursachten allseitigen Verlegenheit in der Kreativabteilung am Tage der Beschwerde des Herrn X lassen wir die geehrte Leserschaft für heute allein.
Samstag, 13. September 2008
457.
Wie du heute wieder aussiehst, sagte die Kreativleitung zum Mo, als dieses unter dem karierten Schal hervorkroch, graugesichtig und mißmutig, sichtlich unausgeschlafen, die kleinen Gliedmaßen schleudernd und schüttelnd, mit großen Augen quengelnd und sehr auf Apfelstücke und Honig bedacht, aber sie hob es schon auf, setzte es auf die Hüfte und ging mit ihm ins "Bistro," Mo brummelte etwas von einem erschreckenden Traum vor sich hin und stützte dabei das Köpfchen an die Rippen der Kreativleitung, diese hielt das Kleine mit einer Hand, suchte mit der anderen die nötigen Dinge zusammen, hörte mit einem Ohr der Traumerzählung zu und ließ sie sich ablagern in jenen Schichten des Gehirns, aus denen dann irgendwann die Texte zu quellen pflegen, dachte mit wieder einem anderen Teil des Hirns darüber nach, wie sie die Sache mit Herrn X und Herrn Y schriftlich klären könne, und hatte darum irgendwie keine Aufmerksamkeit mehr übrig für das grimmige Gesicht des Projektleiters, welcher an einem anderen Tische sitzend emsig in seine Tastatur hackte, um den auszuhandelnden Deal zwischen X und Y projektförmig zu gestalten, denn ein eigenes Projekt fiel ihm eigentlich nicht ein.
Freitag, 12. September 2008
456.
Mit großer Spannung saßen der klitzekleine Forschungsminister und der Demokratiebeauftragte zwischen den unzähligen Globen des Sicherheitsbeauftragten und erwarteten die hochmögende Rede eines Menschen, der als bedeutender als ein Mensch galt, zum Thema Religion und Kultur, also über ein Thema, das den klitzekleinen Forschungsminister selbst einmal sehr beschäftigt hatte, bis man - wie er es sah - ihm alles abgegraben hatte, und nun, da er sich in diesen Fragen bis zum Verstummen wehrlos wußte, während andere - wie er es sah - in seinen Kleidern spazierten, sagte er nur noch ganz leise zu seinen Kollegen: Die Beschäftigung mit den großen Philosophen des Dialogs kann wissenschaftlich kaum noch funktionieren, denn es ist alles gesagt, neue Erkenntnisse (die doch das Kernanliegen von Wissenschaft sind) sind nicht grundsätzlich möglich, die Anwendung aber ist nicht mehr Wissenschaft.
Mittwoch, 10. September 2008
455.
Die Chefin hatte keineswegs den Aufruf gebraucht, um sich einmal wieder zu zeigen, sie brauchte auch nicht daran zu erinnern, daß der ehemalige Chef sehr häufig durch Abwesenheit geglänzt hatte (das wäre so das Wadenbeißerniveau gewesen, auf dem man sie gern sah, sie sich aber nicht), sie war nur einfach pausenlos im EinSatz, mochte der auch nicht so aussehen, wie man sich das unter Fußballspielern und anderen Kickern so vorstellte - o nein, es ging zum Beispiel darum, diese unheimliche Freude an der Aggression als solcher, die immer mehr in Mode kam, aus den Kulturzonen ein wenig herauszunehmen,mindestens unter den wenigen Menschen, die dergleichen noch verstehen konnten, gerade zum heutigen Datum, aber auch überhaupt, tatsächlich ließen sich noch die feinsten Sender neuerdings wegen der allseits angeblich erforderten Kampf- und Wettbewerbsfähigkeit zu vulgärstem Weibischkeits- und Weinerlichkeitsbashing hinreißen, natürlich mit ihrem Durchschauen: da hatte eine einen Kummer, der einen Menschen gerührt hatte, schon war sie hinterlistig und ausbeuterisch diesem Menschen gegenüber, da hatte einer einen wohlhabenden Onkel, war selbst arm und hatte selbst Probleme, seine Existenz zu sichern, schon war er ein verkappter Reicher, der gründlich durchschaut gehörte, da hatte eine gesagt, sie lasse sich nicht gern belügen und verstehe auch, warum manche Leute nicht alle Verlogenheiten des modernen Liberalismus und homo-faberischen Macher- und Siegertums akzeptieren könnten, schon war sie selbst eine potentielle Fundamentalistin, da hatte einer gesagt, wir müssen uns natürlich gegen jede Form von Terrorismus wehren und dürfen nirgends die Unterschiede zwischen dem Mord an Unschuldigen und einer Selbstverteidigung verwischen, aber zugleich müssen wir auch das Wissen um unsere Verwundbarkeit in ein Verständnis für die Verwundungsangst der anderen übersetzen und mit ihnen auf dieser Basis verhandeln, schon war er ein Überläufer und Verräter usw, ja da war doch überall zu schlichten, du lieber Himmel, was hatte man nicht allein zu tun, wenn man etwa mit Angehörigen von Führungsakademien sprechen wollte, die aus den wunderbaren Idealen der Bürgerarmee mit allzu viel Geschmack am Hartsein blitzschnell wieder die ganz alte Schule der Schurigelei machen wollten, was hatte man auf der anderen Seite nicht mit diesen jungdynamischen zackigen Brechern zu arbeiten, die sich für modern hielten, weil sie den Anschluß an die neuesten Entwicklungen der Philosophie ebenso entschlossen verpasst hatten, wie sie den respektablen Fortschritt der Technik nicht nur gesucht hatten (dagegen konnte ja niemand was haben) sondern auch gleich mit einer Lizenz zur Verblödung in philosophischen Angelegenheiten verwechselten (wogegen eben sehr viel gesagt werden mußte), kurzum, die Chefin hatte zu tun, und sie tat, und sie hielt sich dabei so gut es ihr möglich war an den Wahlspruch eines besonders verehrten ehemaligen Bundespräsidenten, der da lautete: tun, was man sagt, und sagen, was man tut, was freilich, wenn man hauptberuflich mit der Erstellung von Fiktion beauftragt ist, nicht ganz so einfach zu machen ist wie wenn man sichtbareren Arbeiten nachgeht, und als sie am Morgen dann auch noch ein Filmchen mit angeblich anzüglichen Bildern einer hochverehrten First Lady in ihrem Posteingang fand, mußte sie schon wieder antworten, und sie tat es wie folgt: Geehrter Herr, mit bestem Dank nehme ich den Film mit den Bildern der Verehrten entgegen, Sie schicken ihn mir sicher, um meine aufrichtige Meinung dazu zu hören, und ich will sie Ihnen nicht vorenthalten, denn in der Tat bewundere und respektiere ich jeden, der für seine Wünsche und für die Schönheit der Welt, die auch einmal ihn selbst betreffen kann, Verantwortung übernimmt, ich habe das immer höher geachtet als alle Verlogenheiten von einem "das tut man nicht," jedenfalls da, wo niemandem geschadet wird, ich bin, wie Sie vielleicht nicht gewußt haben, noch stets der Ansicht gewesen, daß unsere Freiheit so viel wert ist wie der Gebrauch, den wir von ihr machen, ohne unsere Nächsten zu verletzen (oder wenn wir es tun, die Verantwortung hierfür voll übernehmen) und ich bin fest davon überzeugt, daß die Bedürftigkeit der Menschen da in den besten Händen ist, wo sie nicht geleugnet und nicht verachtet wird und wo ihr andererseits ein angemessener Stolz auch auf das, was die Kraft unserer Wünsche ganz ohne Zwang bewirken kann, zur Seite steht, und mit alledem sowie mit Dank für die Übersendung der (meinem persönlichen Geschmack freilich nicht ganz entsprechenden) Bilder und allergrößter Hochachtung für die auf ihnen dargestellte Person und ihren Herrn Gemahl (in der ich mich vermutlich mit Ihnen einig wissen darf) bin ich Ihre DDD, EinSatzLeitung, Geschäftsführung.
454.
Auf der Straßenseite des Hauses siehst du nie Kinder, siehst sie allenfalls mal in einer großen Gruppe, immer zu Paaren, Hand in Hand, einer Erzieherin oder Lehrerin hinterherlaufen, auf der anderen Seite des Hauses hörst du sie in Nachbars Gärten manchmal spielen und manchmal gar fürchterlich kreischen und schreien, und dein Kind ist wo, fragte sich der ehemalige Chef, der seine Kräfte schwinden fühlte und immer öfter einfach in einen Sessel fiel, dessen Kopf immer öfter einfach leer war, der die Welt nicht mehr verstand, wenn er ehrlich zu sich war, und nicht mehr wußte, woher andere Menschen ihre Dynamik und ihr Wollen beziehen, er fühlte noch, wie die Welt ihm entglitt, er versuchte sie zu fassen und zu halten, indem er nach einer Erklärung suchte, war es Alzheimer oder hatte er sich auf dunklen Wegen bei Herrn Y. angesteckt, jedenfalls erschien es ihm immer hohler, wenn er sprach, selbst zu seiner Frau, er war sich vielleicht selbst unter zu langer zu großer Anspannung entglitten, und draußen schwatzten und plapperten und kämpften sie vermutlich munter weiter, aber es rührte ihn nicht mehr, warum rührt es andere meines Alters und Ältere unverdrossen weiter, was haben sie, das ich nicht habe - es ist mir immer weniger begreiflich, sagte er zu seiner Frau, wozu sie das alles tun, natürlich hätte ich noch etwas zu sagen, aber sie fragen mich ja nicht mehr, und was soll ich da noch, na, vielleicht wäre es jetzt schon zu spät, vielleicht würde ich jetzt auf Nachfragen nicht einmal mehr gescheit antworten können, und er setzte sich am schönen Septembermorgen in den großen hölzernen Stuhl, von dem aus er in die Rosen schauen konnte, rückte eine karierte Wolldecke auf seinen stets fröstelnden Beinen zurecht und las endlich endlich die Gänse von Bützow, das tat ihm wohl, und seine Gattin brachte ihm eine Tasse Tee, nahm sich selbst eine, rührte die bräunlichen Zuckerklumpen noch stehend ein, setzte sich dann in ihren Stuhl und las auch ein wenig, sie aber die Zeitung, denn etwas interessierte sie durchaus, und wenn ihr Blick auf die Rosenbüsche und die Georginenstauden fiel, dann sah sie sogleich, daß hier schon bald wieder etwas getan werden müsse.
Dienstag, 9. September 2008
453.
Die Vogelwelt werde vernachlässigt, was für eine lächerliche Behauptung, dachte der erzählende Kranich, der aber überhaupt (aus Gründen, für die man mehr als einen Satz brauchen müßte) nicht sehr dazu neigte, sich als Teil der Vogelwelt zu begreifen (was hatte er denn bitte zu schaffen mit Brachvogel oder gar den kreischenden, kakelnden, krähenden, gackernden, zwitschernden, tirilierenden, pfeifenden, nachplappernden, schrasternden, quinkilierenden Vogelarten), er stand auf einem Beine und schaute um sich, und was er sah, bestätigte ihm, daß er jedenfalls nicht vernachlässigt werde (obwohl er keine Adresse hatte, war ihm auf seltsamen Wegen doch Mos Einladung zu gegangen, um nur einmal ein Beispiel zu nennen), und mit sehr langsamen Bewegungen nahm er Anlauf, entfaltete seine Schwingen und flog auf, durchaus noch ohne zu wissen, in welche Richtung er sich nun von den Lüften würde tragen lassen, denn anders als seine Artgenossen, die seit Tagen in den Himmeln zusammenkamen, um sich unter großem Lärm auf den Südflug einzustimmen, dachte er, er könne ebenso gut mit den Bartenwalen ziehen, etwas an diesen ihm stets unerreichbar bleibenden Tieren in ihren tiefen Gewässern zog ihn so sehr an, daß er dieser Anziehung wegen öfter als einmal den Anschluß an den Flug der großen Schwärme verpaßt hatte und einfach im Norden geblieben war, und wie er das überlebt hatte, konnte er auf Nachfrage nie erklären, so wenig, daß er beim bloßen Blick in die von besorgtem Zweifel erfüllten Gesichter der zurückkehrenden anderen Kraniche im Frühjahr des öfteren in Gefahr geriet, selbst an seiner Existenz zu zweifeln - bis ihn dann der Hunger wieder unzweifelhaft an ihre Wirklichkeit erinnerte, und nach der Sättigung die Fluglust, und nach dem Fluge das Landenmüssen, und nach dem Landen...stieß ihn manchmal seine tief eingewurzelte Unfähigkeit, ernsthaft und konsequent zuzuhacken und das Zuhacken zu einer Eigenschaft zu machen, mit der zu rechnen wäre, wieder in den Zirkel zurück, und er fragte sich, wie lange er noch als verkannter Bartenwal (eine Anmutung, deren Lächerlichkeit ihm durchaus genauso bewußt war wie seinen kranichenen Freunden) im falschen Element leben müsse, bis er dann irgendwann in seinem bald lustigen, bald unerträglichen Kreiseln in die anscheinend immer falsche Richtung wieder da angekommen war, wo er sich in aller Ruhe damit abfand, nun einmal ein erzählender Kranich zu sein, der unter den anderen Kranichen ein ganz klein wenig auffiel, aber außer bei einigen Kranichfreunden auch bei so seltsamen Wesen wie Mo und anderen „Artfremden“ stets gern gesehen war.
Montag, 8. September 2008
452.
Nachdem im für die EinSatzKräfte stets halb-privaten halb-öffentlichen Kommentarraum wieder einmal zwischen Projektentwickler und Oberassistenten einiges Gift verspritzt worden war - die Sache hatte sich fortgesetzt, freilich hinter den Kulissen, und der Projektentwickler fühlte sich nunmehr auf allen Ebenen "bös degradiert", wie er gesagt hätte, wenn er Schleswig-Holsteiner gewesen wäre, aber die Welt besteht, zischelte er, bekanntermaßen nur noch aus Niedersachsen und allenfalls noch Ostwestfalen, da hat man als sagen wir Obersachse oder Pommerländer oder, na was gibts denn noch, Brandenburger, nichts zu beschicken, und er selbst war nun einmal Thüringer (oder?) und einer, der anfing, sich damit abzufinden, daß die Welt sich wieder mehr nach Landsmannschaften zu gliedern schien - nachdem also an diesen Stellen der EinSatzLeitung die Konflikte sich gar nicht mehr leugnen ließen, meinte die Chefin, sie müsse einmal den Demokratiebeauftragten losschicken, um nach dem Rechten zu sehen, dieser aber wollte lieber erst einmal den Buchhalter nach seiner Ansicht fragen, und der Buchhalter wollte sich lieber bedeckt halten, denn dem Demokratiebeauftragten traute er nicht, der war immerhin mal als stiller Theologe der Schoßhund (so nannte er das, jaja) der damaligen Demokratiebeauftragten gewesen, hatte sich mit dem klitzekleinen Forschungsminister amüsiert und gelegentlich über die diversen Renovierungsmaßnahmen, derer sich der Buchhalter mittlerweile eher wieder schämte, belustigt, und überhaupt, was soll ich denn dazu sagen, ich bin froh, wenn der Oberassistent noch anderweitig beschäftigt ist, dann kann ich mich hier mit meinen Zahlen befassen, und in meiner Freizeit gefällt mir sowieso der Sicherheitsbeauftragte mit seinem Alfa am besten, was habe ich mit euch Schwätzern zu schaffen!
Sonntag, 7. September 2008
451.
Die Kreativleitung hatte sich zu einem spontanen Besuch bei Herrn Y. an eine ferne Küste begeben und, nachdem sie von intensiven Unterredungen wieder in ihr Hotel zurückgekehrt war, las sie dort, was ihre Assistentin in die Welt gestellt hatte, worauf sie sogleich eine kurze Nachricht an die EinSatzLeitung schickte, um sich für die Förderung der Assistentin und die Geduld mit ihrer (bei Schreibern immer wieder anzutreffenden) Rücksichtslosigkeit zu bedanken.
Samstag, 6. September 2008
450.B
Ein eifriger ehrgeiziger Mann war der Herr Projektentwickler, immer hurtig. Das Ziel ist klar, wir kennen den Weg, und wir wissen um unsere Kraft. Daß er das aufgeschnappt hatte von einem DDR-Straßenschild, konnte er lachend und immer wieder gern erzählen. Während seiner Studienzeit hatte er des öfteren die Transitstrecke zwischen Berlin West und Deutschland West befahren. Eine andere Nebenwirkung der Wahl seines Studienortes, deretwegen er wie damals viele seiner ursprünglich westdeutschen Altersgenossen zu einem erheblichen Männerüberschuß in der Frontstadt beigetragen hatte, war ihm nicht ganz so angenehm. Immerhin war der Armeedienst seit einiger Zeit wieder in Mode gekommen und insbesondere dem Sohn ans Herz zu legen. Hier verging ihm der Humor ohnehin regelmäßig, wenn sein (häufig ausgesprochen zottelig wirkender jüngster) Nachwuchs höhnte: Jaja, ihr seid die Richtigen in eurer „Wertegemeinschaft,“ erst die DDR abschaffen und beschimpfen, und hinterher durch die kalte Küche alles unter dem Vorzeichen des Kapitalismus einführen, was ihr selber mal verunglimpft habt: Parolen brüllen, Materialisten sein, Familien knacken, Bürger kontrollieren usw. Ja, zu so übertriebenen Ansichten neigte, trotz oder wegen der vortrefflichen Mühen des Hausvaters um sein Geschöpf, der Herr Nachwuchs, und das vor allem in der Zeit nach der frischen Trennung des Elternpaares, von der der Projektleiter kaum noch wußte, worauf er sie zurückführte. Vernachlässigung seiner Person durch die Gattin, daraus folgend – natürlich daraus folgend, das ist keineswegs eine Artkonstante, es liegt immer auch an der Gattin, das wollen doch wohl beide hoffen, sonst verliert man ja jeden Mut zur Ehe in diesen Zeiten - ein bißchen Testosterinverbreitung seinerseits, welche von ihr in ihrer Verwöhntheit zu schwer genommen worden war: das war gegenwärtig die Hypothese, die am meisten Widerhall in seinem „Umfeld“ fand. Aber auch vorher schon war der Sohn immer forsch gewesen. Natürlich hatte der Herr des Hauses sich sehr und immer strebend bemüht – und nebenbei die pädagogisch wertvollsten seiner Jugenderinnerungen erzählt. Solange es noch einen Hausfrieden in einem ehemals Ö-lichen Haushalt gegeben hatte (ja, auch das hat es dereinst gegeben, und war es nun nicht schön gewesen, dachte der Projektentwickler) hatte dann die damalige Gattin des jetzigen Projektleiters und Mutter desselben Geschöpfs regelmäßig „Papperlapapp“ gesagt - und dabei durchaus offen gelassen, ob dieses schöne Wort sich nun auf den nachwüchslichen Protest beziehe oder doch eher auf die energische und alles bezwingende Schildwache mit Ziel und Weg und Kraft, welche es so herrlich weit gebracht hatte, mühelos vom knurrend oder höhnisch zur Kenntnis genommenen Propaganda-Slogan „des Regimes“ zum wie selbstverständlich über alle Unternehmerlippen perlenden Vademecum avanciert, Donnerwetter! Ein Fall, das schon, für die Braue der Dame Ö.
Ja, da saß er nun in seinem Gemeinschaftsbüro mit seiner Beeiferung – und dachte, es fehle ihm zum Glück recht eigentlich nur die Gemeinschaft mit der ehemaligen Gattin, denn etwas an ihr erschien ihm, seit sie sich von manchen Schlägen erholt zu haben schien, doch unersetzlich und unentbehrlich oder jedenfalls attraktiv genug, um ihren Verbleib in seinen Besitztümern zu einem erstrebenswerten Ziel zu machen, mochte sie auch eine gräßliche Krampfhenne und gelegentlich von klirrender Kälte sein, wenn er sie in den Fluren der Einsatzleitung sah, ja, gerade dies stachelte seinen Ehrgeiz recht eigentlich am meisten an – und er dachte, sie meine es so und lege es darauf an, in gewissen Stunden glaubte er sogar, ja, endlich hat sies kapiert, sie muß sich nur rar machen, dann liebt man sie auch, und jawohl, genau das wollen wir nun auch wieder, ein bißchen jedenfalls, und damit sie mal auf den Teppich kommt.
Wenn er in einer solchen Laune war, dann mochte er wohl die jeweilige Bekannte durchaus noch genießen, aber es mißfiel ihm gar sehr, daß die Seinige – als die er sie selbstverständlich weiter ansah – womöglich in fremde Hände geraten könne, und unausdenkbar erschien ihm, daß sie wirklich und wahrhaftig kein Interesse mehr an ihm haben solle, selbst wenn sie unberührt von fremden Händen blieb und sich wie es schien auch um nichts derartiges mehr mühte.
So setzte er sich in seinen Kopf, es doch noch einmal zu wagen, diesmal aber richtig und energisch, von langer Hand vorbereitet und so, daß es einfach gut gehen mußte. Und er schickte den einen oder anderen Jockel aus, diese vom Haber gestochene Person heimzuholen, er schickte auch wohl mal eine Jockelin, denn das Mißtrauen seiner Gattin, wie er sie noch nannte (und während er an ihr Mißtrauen dachte, wurde sie ihm bei der bloßen Vorstellung gleich wieder fast behaglich lästig, es breitete sich Wut in ihm aus, wenn er dieser ihrer nervtötenden und schließlich doch auch ungesunden Eigenschaft gedachte, und Erleichterung, von diesem befreit zu sein und in das vertrauensvolle Gesicht der neuen Bekannten zu schauen - aber seis drum, da müssen wir jetzt durch, dachte er, wir haben uns ein Ziel gesetzt, das ist klar, wir kennen den Weg, und wir wissen um unsere Kraft), erstreckte sich, wie er sicher zu wissen glaubte, im Grunde auf alle Männer, so daß man es folglich geschickter anstellen müsse.
Die Dame Ö hörte auf alle Weisen von seinem Vorhaben (man war ja auch geschickt, man ließ es ihr in den Ohren klingeln und gab keine Gelegenheit zu Widerspruch, indem man es etwa direkt vorgebracht hätte) – und mußte sich erst einmal wieder erholen. Als sie sich aber erholt hatte, wurde schnell klar, was zu tun sei: Frosten. Klar sein. Munter bei der eigenen Sache bleiben. Solche sind unheilbar. Und müssen doch geheilt werden, denn es soll ihnen doch gut gehen, wir müssen mit ihnen auskommen, ohne Heimholung. Also muß ihr Ehrgeiz auf andere Objekte gelenkt werden, sie müssen eben in dem bleiben, was für sie Liebe ist: mit anderen. Die Erfahrung der Liebe, wie wir sie kennen (unklar blieb, ob sie mit "wir" die Frauen meinte, wohl kaum, oder hätte sie etwa Leitung Ö einbezogen? Umgekehrt kannte sie Männer, die nach allem, was sie darüber wußte, doch so ähnlich erfuhren wie sie es kannte, sie dachte dabei sogar an den Gatten ihrer Freundin und erinnerte sich einer Verbindung, an der ihr mal sehr gelegen gewesen war) machen sie nie – und drum glauben sie, ihnen stünde alles zu, ihnen müsse alles gelingen, am meisten aber die Eroberung eines Weibstücks, seis durch Demütigung und Maltraitement, wie bei Shakespeare (aber darauf wird dieser ja wohl nicht verfallen, dachte sie, nachdem ich noch während unserer frühen Zeit klargemacht habe, was ich davon halte), seis durch Belobigung und Verlockung, seis durch Einsatz aller Künste und Tricks aus den zeitgenössischen Plastik-Bausätzen der psycholgischen Kriegführung. Sie halten das sowohl für Liebe als auch für etwas, das sich erwerben ließe wie andere Güter. Dagegen helfen weder Argumente noch Aufklärung, und was hülfe, das hat man hiesigenorts nicht zu bieten, der Himmel schicke ihm eine Bekannte, die es ihn lehrt, damit er nicht noch wirklich gefährlich wird.
Unterdessen wurde geschickt und unter rücksichtsloser Indienstnahme des Nachwuchses alles mögliche unternommen, man agierte und agitierte, jeder auf seine Weise, es war nicht zum Ansehen und nicht zum Aushalten.
Der Nachwuchs fand all dieses Theater so bizarr, daß er sich ernsthaft mit Projekten von Ruhe und Ordnung beschäftigte und die Reden des einen wie der anderen nicht verstand, er begann, sich zurückzuziehen und Teilnahme an ernsten Kriegen, freiwilliges Einrücken zur Armee, in Erwägung zu ziehen.
Ach wie traurig, dachte die Dame Ö in ihrer Einsamkeit. Dem geht es ja noch viel schlimmer als mir, dem Kind. Und vermutlich geht es sogar dem Mann schlechter als mir: Ich vermisse ihn nicht, ich habe ihn wirklich verabschiedet. Und er vermisst mich in Wahrheit auch nicht, aber er hat sich etwas in den Kopf gesetzt. Das wird dann womöglich doch noch gefährlich. Wie entsetzlich.
Sie lud die Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse ein. Sie erhoffte sich irgendetwas vom Anblick ihrer ewig geröteten Augen. Was genau? Sie hätte es nicht zu sagen gewußt, aber als die Minderheitlerin in der neuen Wohnung der Dame Ö tatsächlich erschien, war diese gleich sehr froh, für den Moment: ein Mensch, der vielleicht ähnliche Erfahrungen hat wie ich, dachte sie. Sie holte den vorbereiteten Tee, das sehr süße Gebäck aus der neuen Nachbarschaft, das Shortbread, Milch und Zucker, entzückte sich am schönen Service auf dem kleinen Tischchen, das sie sich zugelegt hatte, und dann saßen sich die beiden gegenüber und sprachen in aller Freundlichkeit über das Wetter, die Mode, und auch ein wenig über die Politik. Die Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse hatte „Kassandra“ gelesen und fragte sich, ob eigentlich immer die Klügeren die Doofen sein müssen, in der Politik und im Leben, und die Dame Ö sagte, lass das nicht den leidenschaftlichen Heuchler hören, er wird dich sofort mit Demutssachen bepredigen, denn so gibst du zu, daß du dich selbst für klug hältst, und die Minderheitlerin sagte, das wird er tun, solange ich in der Minderheit bleibe, es ist schon egal, ob ich es noch selbst provoziere, ich habe es ernsthaft und lange anders versucht, es hat nicht geholfen - irgendwie macht das dann am Ende auch ein wenig frei, schüchtern lächelte sie ein wenig. Und die Dame Ö sagte, ja vielleicht, vielleicht ist es eben einfach so, daß die Kuh am Zaun, nachdem sie verstanden hat, daß man sie nie freilassen wird, sich täglich sagt, nun gut, solange ich hier also stehen und ertragen muß, daß man mit mir dasselbe macht wie mit den gefangenen Tigern, oder Schlimmeres (dieses Melken, und daß man auch noch danach brüllen muß, kann einem Tier eigentlich etwas Schlimmeres angetan werden als eine derartige Perversion seiner eigenen Wünsche), was kann ich tun, sagt sich die Kuh vielleicht, ich lache sie aus, heißt nicht ein Käse so, die Kühe lachen die Bauern aus in ihrem Siegenmüssen, erzählen Sie das mal dem Herrn X., aber meinen Sie denn, daß das wirklich hilft? Gibt es etwas anderes, das einer Kuh bliebe, fragte die Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse, verdrossen über das bescheuerte Bild. Gattin Ö sagte daraufhin, plötzlich strahlend (dieses Opfergetue der Minderheitlerin, dachte sie, es geht mir doch auf die Nerven, sie soll mal was machen jetzt, nicht nur jammern), und laut sagte sie, wie herrlich, daß wir WEGGEHEN können, nicht wahr! Ach, könnten wirs, sagte die Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse, und die Minderheit in ihrem Rücken erschien plötzlich gewaltig groß, aber wo sollten wir wohl hin.
Dame Ö, trotz ihres Temperaments, konnte auch schweigen.
Sie goß ihrer Besucherin noch etwas Tee ein.
Später sprachen sie wieder ein wenig über Fragen der Mode. Und über Fragen der Politik. Über die Gefangenschaften in den harten Ländern. Und über die Gefangenschaften in den nicht ganz so harten Ländern. Als die Minderheitlerin sich verabschiedete, bedankte sich die Dame Ö sehr herzlich für ihren Besuch. Ungewöhnlich herzlich. Auch die Minderheitlerin fühlte sich auf eigentümliche Weise beschenkt.
Am anderen Tag sagte die Leitung Öffentlichkeit wie nebenbei zur Dame Ö: Warum sind Sie eigentlich immer so streng, und die Dame Ö hob die Braue, ja bin ich das denn? Wo bin ich denn streng? Na so unversöhnlich sind Sie manchmal, sagte Leitung Ö. Aber haben wir uns denn gestritten, fragte Dame Ö. Das nicht, sagte Leitung Ö, aber ich habe oft den Eindruck, daß Sie mit anderen sehr streng und unversöhnlich sind. Und die Dame Ö sagte – das tut mir sehr leid, daß Sie das so empfinden, und wandte sich wieder ihren Papieren zu, mit denen sie sich um eine neue (eine wirklich neue, ihre neuentdeckten Qualitäten berücksichtigende, was die sich einbildete!) Position in der EinSatzLeitung bemühen wollte. Nebenbei fragte sie sich, was sie wohl so beschenkt habe in dem Gespräch mit der Minderheitlerin. Und sie sagte sich, vielleicht dieses: Sie weiß noch besser als ich, daß die anderen wirklich auch da sind, und wie es einem gehen kann, wenn man das ernsthaft in Betracht zieht (denn das Buch, über das sie gesprochen hatten, das hatte die Dame Ö auch mal gelesen). Man müßte das irgendwie weitersagen, dachte sie, dann wird die Welt vielleicht ein bißchen weniger gefährlich, und manche ärgern sich nicht mehr gar so sehr, dann werden sie ein wenig umgänglicher, und man muß ihnen wenigstens nicht mehr aus dem Weg gehen, das wäre doch mal was, und mehr als man sich denken könne, also gerade genug.
Aber schon ihr Herr Nachwuchs würde wahrscheinlich - vor allem mal gegen diese unsägliche Benennung protestieren, würde ich vorschlagen, und sie schüttelte den Kopf: Was man sich so angewöhnt!
Die Papiere raschelten, als sie sie sorgfältig aufeinanderlegte, und wie immer wunderte sie sich, wie scharf der Rand eines einzigen Bogens ist, wenn man ihn im falschen Winkel berührt.
Ja, da saß er nun in seinem Gemeinschaftsbüro mit seiner Beeiferung – und dachte, es fehle ihm zum Glück recht eigentlich nur die Gemeinschaft mit der ehemaligen Gattin, denn etwas an ihr erschien ihm, seit sie sich von manchen Schlägen erholt zu haben schien, doch unersetzlich und unentbehrlich oder jedenfalls attraktiv genug, um ihren Verbleib in seinen Besitztümern zu einem erstrebenswerten Ziel zu machen, mochte sie auch eine gräßliche Krampfhenne und gelegentlich von klirrender Kälte sein, wenn er sie in den Fluren der Einsatzleitung sah, ja, gerade dies stachelte seinen Ehrgeiz recht eigentlich am meisten an – und er dachte, sie meine es so und lege es darauf an, in gewissen Stunden glaubte er sogar, ja, endlich hat sies kapiert, sie muß sich nur rar machen, dann liebt man sie auch, und jawohl, genau das wollen wir nun auch wieder, ein bißchen jedenfalls, und damit sie mal auf den Teppich kommt.
Wenn er in einer solchen Laune war, dann mochte er wohl die jeweilige Bekannte durchaus noch genießen, aber es mißfiel ihm gar sehr, daß die Seinige – als die er sie selbstverständlich weiter ansah – womöglich in fremde Hände geraten könne, und unausdenkbar erschien ihm, daß sie wirklich und wahrhaftig kein Interesse mehr an ihm haben solle, selbst wenn sie unberührt von fremden Händen blieb und sich wie es schien auch um nichts derartiges mehr mühte.
So setzte er sich in seinen Kopf, es doch noch einmal zu wagen, diesmal aber richtig und energisch, von langer Hand vorbereitet und so, daß es einfach gut gehen mußte. Und er schickte den einen oder anderen Jockel aus, diese vom Haber gestochene Person heimzuholen, er schickte auch wohl mal eine Jockelin, denn das Mißtrauen seiner Gattin, wie er sie noch nannte (und während er an ihr Mißtrauen dachte, wurde sie ihm bei der bloßen Vorstellung gleich wieder fast behaglich lästig, es breitete sich Wut in ihm aus, wenn er dieser ihrer nervtötenden und schließlich doch auch ungesunden Eigenschaft gedachte, und Erleichterung, von diesem befreit zu sein und in das vertrauensvolle Gesicht der neuen Bekannten zu schauen - aber seis drum, da müssen wir jetzt durch, dachte er, wir haben uns ein Ziel gesetzt, das ist klar, wir kennen den Weg, und wir wissen um unsere Kraft), erstreckte sich, wie er sicher zu wissen glaubte, im Grunde auf alle Männer, so daß man es folglich geschickter anstellen müsse.
Die Dame Ö hörte auf alle Weisen von seinem Vorhaben (man war ja auch geschickt, man ließ es ihr in den Ohren klingeln und gab keine Gelegenheit zu Widerspruch, indem man es etwa direkt vorgebracht hätte) – und mußte sich erst einmal wieder erholen. Als sie sich aber erholt hatte, wurde schnell klar, was zu tun sei: Frosten. Klar sein. Munter bei der eigenen Sache bleiben. Solche sind unheilbar. Und müssen doch geheilt werden, denn es soll ihnen doch gut gehen, wir müssen mit ihnen auskommen, ohne Heimholung. Also muß ihr Ehrgeiz auf andere Objekte gelenkt werden, sie müssen eben in dem bleiben, was für sie Liebe ist: mit anderen. Die Erfahrung der Liebe, wie wir sie kennen (unklar blieb, ob sie mit "wir" die Frauen meinte, wohl kaum, oder hätte sie etwa Leitung Ö einbezogen? Umgekehrt kannte sie Männer, die nach allem, was sie darüber wußte, doch so ähnlich erfuhren wie sie es kannte, sie dachte dabei sogar an den Gatten ihrer Freundin und erinnerte sich einer Verbindung, an der ihr mal sehr gelegen gewesen war) machen sie nie – und drum glauben sie, ihnen stünde alles zu, ihnen müsse alles gelingen, am meisten aber die Eroberung eines Weibstücks, seis durch Demütigung und Maltraitement, wie bei Shakespeare (aber darauf wird dieser ja wohl nicht verfallen, dachte sie, nachdem ich noch während unserer frühen Zeit klargemacht habe, was ich davon halte), seis durch Belobigung und Verlockung, seis durch Einsatz aller Künste und Tricks aus den zeitgenössischen Plastik-Bausätzen der psycholgischen Kriegführung. Sie halten das sowohl für Liebe als auch für etwas, das sich erwerben ließe wie andere Güter. Dagegen helfen weder Argumente noch Aufklärung, und was hülfe, das hat man hiesigenorts nicht zu bieten, der Himmel schicke ihm eine Bekannte, die es ihn lehrt, damit er nicht noch wirklich gefährlich wird.
Unterdessen wurde geschickt und unter rücksichtsloser Indienstnahme des Nachwuchses alles mögliche unternommen, man agierte und agitierte, jeder auf seine Weise, es war nicht zum Ansehen und nicht zum Aushalten.
Der Nachwuchs fand all dieses Theater so bizarr, daß er sich ernsthaft mit Projekten von Ruhe und Ordnung beschäftigte und die Reden des einen wie der anderen nicht verstand, er begann, sich zurückzuziehen und Teilnahme an ernsten Kriegen, freiwilliges Einrücken zur Armee, in Erwägung zu ziehen.
Ach wie traurig, dachte die Dame Ö in ihrer Einsamkeit. Dem geht es ja noch viel schlimmer als mir, dem Kind. Und vermutlich geht es sogar dem Mann schlechter als mir: Ich vermisse ihn nicht, ich habe ihn wirklich verabschiedet. Und er vermisst mich in Wahrheit auch nicht, aber er hat sich etwas in den Kopf gesetzt. Das wird dann womöglich doch noch gefährlich. Wie entsetzlich.
Sie lud die Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse ein. Sie erhoffte sich irgendetwas vom Anblick ihrer ewig geröteten Augen. Was genau? Sie hätte es nicht zu sagen gewußt, aber als die Minderheitlerin in der neuen Wohnung der Dame Ö tatsächlich erschien, war diese gleich sehr froh, für den Moment: ein Mensch, der vielleicht ähnliche Erfahrungen hat wie ich, dachte sie. Sie holte den vorbereiteten Tee, das sehr süße Gebäck aus der neuen Nachbarschaft, das Shortbread, Milch und Zucker, entzückte sich am schönen Service auf dem kleinen Tischchen, das sie sich zugelegt hatte, und dann saßen sich die beiden gegenüber und sprachen in aller Freundlichkeit über das Wetter, die Mode, und auch ein wenig über die Politik. Die Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse hatte „Kassandra“ gelesen und fragte sich, ob eigentlich immer die Klügeren die Doofen sein müssen, in der Politik und im Leben, und die Dame Ö sagte, lass das nicht den leidenschaftlichen Heuchler hören, er wird dich sofort mit Demutssachen bepredigen, denn so gibst du zu, daß du dich selbst für klug hältst, und die Minderheitlerin sagte, das wird er tun, solange ich in der Minderheit bleibe, es ist schon egal, ob ich es noch selbst provoziere, ich habe es ernsthaft und lange anders versucht, es hat nicht geholfen - irgendwie macht das dann am Ende auch ein wenig frei, schüchtern lächelte sie ein wenig. Und die Dame Ö sagte, ja vielleicht, vielleicht ist es eben einfach so, daß die Kuh am Zaun, nachdem sie verstanden hat, daß man sie nie freilassen wird, sich täglich sagt, nun gut, solange ich hier also stehen und ertragen muß, daß man mit mir dasselbe macht wie mit den gefangenen Tigern, oder Schlimmeres (dieses Melken, und daß man auch noch danach brüllen muß, kann einem Tier eigentlich etwas Schlimmeres angetan werden als eine derartige Perversion seiner eigenen Wünsche), was kann ich tun, sagt sich die Kuh vielleicht, ich lache sie aus, heißt nicht ein Käse so, die Kühe lachen die Bauern aus in ihrem Siegenmüssen, erzählen Sie das mal dem Herrn X., aber meinen Sie denn, daß das wirklich hilft? Gibt es etwas anderes, das einer Kuh bliebe, fragte die Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse, verdrossen über das bescheuerte Bild. Gattin Ö sagte daraufhin, plötzlich strahlend (dieses Opfergetue der Minderheitlerin, dachte sie, es geht mir doch auf die Nerven, sie soll mal was machen jetzt, nicht nur jammern), und laut sagte sie, wie herrlich, daß wir WEGGEHEN können, nicht wahr! Ach, könnten wirs, sagte die Minderheitlerin mit der ewigen blauen Bluse, und die Minderheit in ihrem Rücken erschien plötzlich gewaltig groß, aber wo sollten wir wohl hin.
Dame Ö, trotz ihres Temperaments, konnte auch schweigen.
Sie goß ihrer Besucherin noch etwas Tee ein.
Später sprachen sie wieder ein wenig über Fragen der Mode. Und über Fragen der Politik. Über die Gefangenschaften in den harten Ländern. Und über die Gefangenschaften in den nicht ganz so harten Ländern. Als die Minderheitlerin sich verabschiedete, bedankte sich die Dame Ö sehr herzlich für ihren Besuch. Ungewöhnlich herzlich. Auch die Minderheitlerin fühlte sich auf eigentümliche Weise beschenkt.
Am anderen Tag sagte die Leitung Öffentlichkeit wie nebenbei zur Dame Ö: Warum sind Sie eigentlich immer so streng, und die Dame Ö hob die Braue, ja bin ich das denn? Wo bin ich denn streng? Na so unversöhnlich sind Sie manchmal, sagte Leitung Ö. Aber haben wir uns denn gestritten, fragte Dame Ö. Das nicht, sagte Leitung Ö, aber ich habe oft den Eindruck, daß Sie mit anderen sehr streng und unversöhnlich sind. Und die Dame Ö sagte – das tut mir sehr leid, daß Sie das so empfinden, und wandte sich wieder ihren Papieren zu, mit denen sie sich um eine neue (eine wirklich neue, ihre neuentdeckten Qualitäten berücksichtigende, was die sich einbildete!) Position in der EinSatzLeitung bemühen wollte. Nebenbei fragte sie sich, was sie wohl so beschenkt habe in dem Gespräch mit der Minderheitlerin. Und sie sagte sich, vielleicht dieses: Sie weiß noch besser als ich, daß die anderen wirklich auch da sind, und wie es einem gehen kann, wenn man das ernsthaft in Betracht zieht (denn das Buch, über das sie gesprochen hatten, das hatte die Dame Ö auch mal gelesen). Man müßte das irgendwie weitersagen, dachte sie, dann wird die Welt vielleicht ein bißchen weniger gefährlich, und manche ärgern sich nicht mehr gar so sehr, dann werden sie ein wenig umgänglicher, und man muß ihnen wenigstens nicht mehr aus dem Weg gehen, das wäre doch mal was, und mehr als man sich denken könne, also gerade genug.
Aber schon ihr Herr Nachwuchs würde wahrscheinlich - vor allem mal gegen diese unsägliche Benennung protestieren, würde ich vorschlagen, und sie schüttelte den Kopf: Was man sich so angewöhnt!
Die Papiere raschelten, als sie sie sorgfältig aufeinanderlegte, und wie immer wunderte sie sich, wie scharf der Rand eines einzigen Bogens ist, wenn man ihn im falschen Winkel berührt.
450.
Am anderen Morgen lag der Chefin eine ganz neue Beschwerde vor: in der Arbeitswohnung war es der Assistentin K gelungen, Mo zur Bereitstellung einiger ihrer Kritzeleien zu bewegen, sie hatte sich sogleich daran gemacht und etwas aus alledem geschmiedet, das ihr wie ein passabler Text vorkam, und diesen voller Stolz auf der B-Ebene untergebracht, aber kurze Zeit später war er von dort wieder verschwunden, weil die Leitung Öffentlichkeit gemeint hatte, hier würden wieder etliche Eins-zu-Einsler Alarm schlagen, man müsse ein wenig warten, bis man diesen Text ins Netz stelle, denn einige der darin formulierten Gedanken und Szenen würden sonst sofort dazu führen, daß sensible Personen (sie nannte Namen!) sich mißbraucht und falsch verstanden fühlen würden, die Assistentin K hatte, als sie dies von der Leitung Öffentlichkeit erfuhr, erst relativ giftig gesagt, ja, sind wir denn in der DDR, und was ist mit der Geschichte von diesem Maxim Biller, was ist denn hier eigentlich los, darf man nicht einmal ein Thema aufgreifen, das einem natürlich in irgendwelchen Gesprächen über den Weg läuft, in eine kleine Geschichte verwandeln und diese zur Weiterarbeit am großen Teppich verwenden, und die Leitung Öffentlichkeit hatte wegen des DDR-Vergleichs beleidigt das Gespräch beendet, also über diese Sache (die auch im Text eine Rolle spielte) will ich überhaupt nicht reden, die ganze Republik wirst du damit gegen uns aufbringen, reg dich erstmal ab, sagte sie dann, sehr souverän, klar, denn sie war schließlich diejenige, die aus der gemeinsamen Assistentinnenzeit nun als Leitungsfigur hervorgegangen war, aber Karomütze, der am Abend noch die Assistentin und Mo in ihrer Arbeitswohnung besucht hatte, fand den Text völlig unproblematisch, sagte, die Besseren derjenigen, die sich allenfalls gemeint fühlen könnten, werden doch sowieso darüber lachen und sich freuen, daß ihre Anregungen auf so fruchtbaren Boden gefallen sind, und wer Stress machen will, macht das auch ohne einen solchen Anlaß und findet sich schnell einen neuen, also ich werde das mal der Chefin vorlegen, soll die entscheiden, und die Assistentin umarmte ihn flüchtig vor Freude und lachte munter, während Mo längst wieder eingeschlafen war; die Chefin las das alles und sagte, wenn uns überhaupt noch jemand liest, dann eh nur Leute von der Sorte, die solche Texte auch verstehen, und mir scheint, in diesem Fall hat die Assistentin K einfach die besseren Argumente, im übrigen sind Löschungen immer mit mir abzustimmen, da werden wir sonst Probleme bekommen mit dem einheitlichen Auftreten, und sie entschied, das Risiko in Kauf zu nehmen und den Text zum Wochenende auf der B-Ebene zu platzieren, mit allen Kommentaren.
Freitag, 5. September 2008
449.
Es ist uns doch die Zeitenfolge ein wenig durcheinander geraten, findest du nicht, sagte die Chefin, als sie das nächste Mal mit der Kreativleitung sprach, erst erzählen wir vom Auftritt des Herrn X. (443), dann passiert so dies und das, dann kommt ein Auftritt der Leitung Öffentlichkeit, bei dem sie erklärt, daß Mo und deine Assistentin auf Arbeitsurlaub in irgendeine Arbeitswohnung geschickt worden sind, und sie erklärt es so als handele es sich um lang zurückliegende Ereignisse (445), dann passiert wieder so dies und das, und plötzlich sind wir noch einmal mitten in den Präliminarien von 443, als wäre zwischendurch nichts geschehen, und nun warten alle darauf, wie wir als Team diese Situation auflösen, wie willst du das erklären, und die Kreativleitung lächelte und sagte, ich will es gar nicht erklären, ich will es gern einfach so weiterschreiben und mich auf das Fassungsvermögen der geneigten Leserschaft und darauf verlassen, daß sie so gerade sich die Freiheit nehmen, damit zu machen, was ihnen gut tut, aber wenn du findest, ich sollte es erklären, würde ich notfalls auch das noch tun, ich will es in der Tat, sagte die Chefin, denn eine unserer Ideen war doch, eine verhängte falsche Durchsichtigkeit durch eine andere Art von Durchsichtigkeit zu ersetzen, da können wir jetzt nicht selbst dauernd Nebel werfen, ach so siehst du das, sagte die Kreativleitung, seltsame Ideen hast du, und die Chefin war wieder ganz Demokratiebeauftragte war wieder ganz Freundin war wieder ganz Kind, das von einem anderen Kind fasziniert war, und sagte, so war es nicht ausgemacht, für Ideen, gar seltsame, warst immer du zuständig, es kam zu einem kleinen freundlichen Handgemenge wie von ganz lange her, und die Kreativleitung lächelte nun auch und sagte, aber jetzt finde ich deine Ideen eben komisch, zusammen mit dieser Strenge, also wirklich, und dann machten beide wieder ihre Leitungsteamgesichter und die Kreativleitung sagte, man muß der Ungeduld der Leute eben zwischendurch etwas Neues füttern und zugleich die Geschichte dahinter weiter sich entwickeln lassen, man muß alle Figuren nacheinander in den Blick nehmen, darf keine vollkommen herausfallen lassen, nur weil gerade das entscheidende Geschehen im Kreativbüro stattfindet, zugleich wollen die Leute aber eine von A bis Z durcherzählte Geschichte, und die biete ich ihnen ja sowieso nur mit dieser XY-Sache an, weil ich dagegen bin, die Dinge zu fest in Reih und Glied aufzustellen, denn in Reih und Glied müssen schon die vielen anderen EinSatzKräfte aufgestellt werden draußen im Lande und in den Ländern, sie wollen nicht, daß ihnen diese Formation überall in gleicher Weise wieder entgegenkommt, oder ich will jedenfalls nicht, daß sie es wollen, sie wollen vielmehr auch überrascht sein, und mal nicht nur von irgendwelchen feindlichen Übergriffen oder entsetzlichen Vorfällen in den eigenen Reihen, sondern jeden Tag aufs Neue ein klein wenig überrascht sein von der Welt, sonst fühlen sie sich doch nicht lebendig, habe ich mir gedacht, und doch muß auch die alte Geschichte immer einen nachvollziehbaren Verlauf haben, so im Leben, so in der Literatur, ist das denn nicht so, wollen wir vielleicht mal den Klitzekleinen losschicken, daß er uns dafür einen schönen Literaturhinweis gibt, und die Demokratiebeauftragte sagte, das könnte ihn auch erheitern, mit dem, was er gerade macht, scheint er eh nur wieder in seine alte Langweilerei abzurutschen...
Donnerstag, 4. September 2008
448.
Wenn die Kreativleitung eines nicht ausstehen konnte und nicht vertrug, dann waren das Menschenansammlungen in ihrem Büro, dergleichen über einen Zeitraum von zwei Stunden zu überstehen (was sie wohl konnte) kostete sie oftmals nicht weniger als zwei ganze Arbeitstage, so sehr strengte es sie an, sie konnte überall auch in Menschenmengen sich wohl und relativ entspannt bewegen, aber in ihren Räumlichkeiten, in denen alles in Arbeitszuständen herumlag und zu sein hatte, nein, da vertrug sie das ganz einfach nicht, sie hätte kein Bild dafür zu nennen gewußt, aber in der Regel genügte eine entsprechende Begebenheit, um sie lange vorher und lange nachher wieder "Massenträume" aller Art alpträumen zu lassen, unter denen sie als Kind gelitten hatte, durch die sie aber in den Jahren ihrer Produktivität unter Normalumständen nicht mehr belästigt wurde, und da sie dies wußte, pflegte sie ihr Büroleben wie ihr privates Leben so zu organisieren, daß dergleichen ganz zwanglos vermeidbar war - während des Besuchs von Herrn X. jedoch hatte sie sich genötigt gesehen, nach einer Weile einige Kolleginnen und Kollegen dazu zu bitten, denn das Gespräch schien völlig aus dem Ruder zu laufen: die erste Empörungswelle des Milchzaren brach sich noch an der Geste des Sicherhebens und Niedersetzens, aber bereits die zweite überrollte jeden Versuch einer sachorientierten Selbstbehauptung, Herr X. saß und sprang auf, dröhnte und ruderte, versprühte seinen Speichel und wütete in allen Farben und Lautstärken seine Empörung über die Nichterwähnung seiner Verdienste um Herrn Y. durch ihre Räume, ließ kein beruhigendes Wort und keine Geste der Verständigung zu, und als sie schließlich selbst etwas lauter wurde, um sich bemerkbar zu machen, beschuldigte er die Kreativleitung sogleich, ihn angeschrien zu haben, woraufhin sie das Telefon nahm und den Sicherheitsbeauftragten bat, vorbeizukommen und die Chefin gleich mit zu benachrichtigen, sie müsse dieses Gespräch unter Zeugen führen oder Herrn X. direkt des Hauses verweisen.
Mittwoch, 3. September 2008
447.
Einen ganzen geschlagenen Tag lang dachte der Buchhalter über alles nach, wäre er selbst ein Vogel, hätte man meinen können, er brüte, aber er brütete nicht, er fragte sich nur, wie er im Ernste seine Arbeit fortsetzen solle, und ob es möglicherweise auch ohne seine längst wieder vergessenen Gesamtrenovierungsanstrengungen und die diesen zugrunde liegenden Programme im Leben "mehr als alles" gebe wie in einem Buch, welches er als Kind besonders gern gehalten hatte: Higgelty Piggelty Pop.
Dienstag, 2. September 2008
446.
Schon im Anflug sah der erzählende Kranich, daß an das Fenster des Kreativbüros besser nicht zu klopfen wäre, denn dort hatten sich etliche EinSatzKräfte mit rauchenden Köpfen versammelt, während seine kleine Freundin Mo nicht anwesend zu sein schien, so daß er sich, einer plötzlichen Eingebung folgend, nun also einen Spaß daraus machte, beim Buchhalter anzuklopfen, welcher ihm grantigen Gesichts auch öffnete, nicht ohne zu murmeln, eigentlich empfange er keine Vögel an Fenstern, aber der erzählende Kranich genieße ja nun einmal einen besonders guten Ruf im Hause, so daß er wohl mal... und der Kranich lächelte von Schwungfeder zu Schwungfeder sein breitestes, zugleich feinstes Lächeln, das wir, wären wir in einem anderen Genre, wohl als "sardonisch" bezeichnen würden, versuchte ungeschickt, ein wenig mit den Fußkrallen zu knallen in einem quasi militärischen Gruße, während er sich gleichzeitig verbeugte, und sagte, er habe durchaus Relevantes von seinen Überflügen über die Ebenen der Eins-zu-Einsler zu vermelden, nämlich: nicht ohne Empörung hätten sich ziemlich genau 43 Männer mit Herrn X. identifiziert und verspottet gefunden, unter diesen 21 aufgrund ihrer Herkunft aus Niedersachsen, weitere 13 wegen ihrer Herkunft aus den boshafter- und fälschlicherweise als Obersachsen bezeichneten Provinzen, 9 wegen ihrer signifikanten Stattlichkeit, und bei allen genannten Samples kämen noch in verschiedenen Mischungsverhältnissen weitere Merkmale wie hauptberufliche Nutzviehhaltung, Glatzenneigung, Vielvölkerei, Selbstgefälligkeit, Expansivität gepaart mit Explosivität und Sorge um Nutzvieh und Vasallen oder sonstiges als zusätzliche Kennzeichen in Betracht, jedenfalls aber sei ja nun einmal die Identifizierung die Voraussetzung fürs Beleidigtsein, zugleich freilich auch für anderes, so hätten sich präzise 29 Personen (nicht alle männlich) mit Herrn Y. identifiziert, darunter eine Papageienbesitzerin und -besiezerin, dies ganz ohne Beleidigungsgefühle, wieder andere...hier unterbrach der Buchhalter und sagte knurrend, derartig schwachsinnige Statistiken fielen nun wirklich nicht in sein Arbeitsgebiet, ob er nicht noch anderes zu vermelden habe.
Montag, 1. September 2008
445.
Am Montag sah sich die Leitung Öffentlichkeit, angetan mit einer hellgestreiften Bluse und ganz im alten Standing, genötigt, auf einer Pressekonferenz verschiedene Mißverständnisse auszuräumen, die durch die Erzählung aus 444. in die Welt getreten waren, und erklärte feierlich: Herr Y. lebt zwar in der Tat in einer Stadt am Meer, aber er benutzt in aller Regel Internet und Aufzug, absolviert wie jeder moderne Mensch ein Fitnessprogramm in den dafür vorgesehenen Räumlichkeiten und Ausstattungen, er befindet sich mit der Nachbehandlung des durch Herrn X. erlittenen Unrechts in guten Händen, er besitzt keinen Papagei, schon gar nicht einen, den er etwa Siezen würde, und er arbeitet in einem ganz neuen Beruf, der ihm wohlgefällt, für ein bescheidenes Einkommen, an die Kreativleitung denkt er mit freundschaftlichem Respekt dann und wann und hofft, den Kontakt zu ihr erhalten zu können, da sie ihm in weit zurückliegenden Tagen in einer besonders angegriffenen Situation mit der unkompliziertesten Menschlichkeit begegnet sei, die Kreativleitung ihrerseits ist weiterhin ernsthaft darum bemüht, den Beschwerdeführer X. durch allmähliche Konfrontation mit seinen Taten in seiner Empörungsbereitschaft zu mäßigen und ihm den Hang, andere zu „schuhriegeln“ als seine Krankheit vor Augen zu führen, sie hat dazu bei vollem Bewußtsein eine gewisse therapeutische Haltung eingenommen und ihr eigentlich eigenstes Metier (nebst der zu diesem nun einmal gehörenden Dünnhäutigkeit) vorübergehend zusammen mit Mo zur Ruhe gelegt, der Entwurf, der in die Hände eines seltsam erfundenen Herrn Y. geraten sei, sei durchaus ein ernstgemeinter Entwurf gewesen, welcher tatsächlich dem Zwecke der allmählichen Entriegelung des Schuhrieglers gedient habe, durch die neuerliche Komplikation sei man aber in der EinSatzLeitung von anderen Aufgaben abgekommen, die nun erst einmal wieder in den Vordergrund zu treten haben, denn die Verhandlungen mit Herrn X. würden sich wegen der Kompliziertheit des Themas und des Beschwerdeführers noch ein wenig in die Länge ziehen und es sei in der Tat dem Lesepublikum nicht zuzumuten, hieraus jedes Detail zu erfahren; für weitere kreative Arbeiten haben Mo und die auf diese Weise ganz zwanglos zu neuer Bedeutung aufgestiegene Assistentin K sich in eine Arbeitswohnung außerhalb der EinSatzLeitung zurückgezogen, man erwarte aber ihre Rückkehr mit neuen Produkten, sobald der Fall X.Y. abgewickelt sei.
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